Freitag, 25. Dezember 2015

Annegret Gehrke/Elisabeth Jakobi: Kein ganz normales Leben

Kein ganz normales Buch: Es ist 2003 zum 60. Geburtstag des Münchners Walter Lorenz erschienen, Engel der Obdachlosen, seit Jahrzehnten unermüdlicher und humorvoller Unterstützer und Freund der Gestrandeten in der Millionenstadt.

Verfasst haben es seine Mitstreiterinnen Annegret Gehrke und Elisabeth Jakobi, die in der Gemeinschaft der "Schwestern und Brüder vom Heiligen Benedikt Labre" in mehreren Häusern und auf der Straße die Obdachlosen betreuen.

Das Büchlein ist voll Anekdoten, die einen liebevollen Blick auf die Menschen von der Straße mit all ihren Marotten und Eigenheiten, aber auch ihren unglaublichen Lebensgeschichten und ihren großen menschlichen Qualitäten werfen. Viele von ihnen werden für die Gemeinschaft zu langjährigen Mitbewohnern. Das Buch berichtet von Schwierigkeiten, aber auch umwerfend schönen Momenten. Und vom Weg des Walter Lorenz selbst, der einst Lokführer bei der S-Bahn war, ehe er sein Leben komplett umkrempelte, weil er  Gott in den Menschen von der Straße erblickte.

Besonders interessant ist das Buch für diejenigen, die (wie ich) die Gemeinschaft und ihre Arbeit kennenlernen durften und darin vieles Schöne und Vertraute wieder entdecken.




Samstag, 28. November 2015

Steffen Kopetzky: Risiko

Sommer 1914. Deutschland führt Krieg gegen den Rest der Welt. Da ersinnt der Berliner Archäologe Max von Oppenheim einen Plan. Der Islam soll es richten. Geleitet vom Offizier Oskar Niedermeyer reist ein Trupp von Verwegenen nach Afghanistan, um für den Heiligen Krieg gegen die Kolonialmacht England zu werben. Die Expedition, die Kopetzkys 720-Seiten-Epos erzählt, hat es wirklich gegeben: Verändert ist nur den Ausgang.

Zehn Jahre arbeitete Kopetzky  an dem vielschichtigen Roman, in dem es von historischen Persönlichkeiten wie Karl Dönitz, Winston Churchill oder Mahatma Gandhi wimmelt. Nur die Hauptfigur, der Münchner Marinefunker Sebastian Stichnote, ist frei erfunden. Stichnote erlebt auf den ersten 200 Seiten des Buches ein Seeabenteuer auf dem Mittelmeer, steuert die unglückliche Liebesgeschichte bei, schließt sich der Expedition an, verfällt dem Drogenrausch und trägt schließlich entscheidend zum Ausgang bei.

Manchmal fällt es schwer, dem detailreichen Plot zu folgen. Die oft altbackene Sprache tut ihr Übriges. Da trauert Stichnote um seinen verstorbenen Kameraden Eibo: „Der Freund war ihm entrissen.“ Das erinnert an Karl May und seinen Abenteuerromane für Jungs. Kein Wunder, dass bei Kopetzky viel gespielt wird: Die Hauptdarsteller setzen sich immer wieder an den Tisch zum „Großen Spiel“. Es ähnelt dem Brettspielklassiker „Risiko“: Der Spielplan ist die Welt, die es mit Steinen zu erobern gilt.

Nicht immer ist klar: Wo hört das Brettspiel auf, wo beginnt der blutige Ernst? Wer sich darauf einlässt, darf „Risiko“ als spannenden Abenteuerroman und ganz großes Kopfkino genießen.

Mittwoch, 25. November 2015

Heinz Helle: Eigentlich müssten wir tanzen

Was um Gottes Willen ist hier passiert? Fünf alte Schulfreunde, die ein Wochenende auf der Berghütte verbracht haben, steigen ins Tal und finden eine Welt vor, in der nichts mehr ist wie früher. Abgebrannte Häuser, zertrümmerte Autos, verkohlte Fabriken, aufgedunsene Leichen.

Aber die Frage nach dem Warum stellt sich den fünf Männern, die müde, frierend und hungrig durch das Tiroler Voralpenland streifen, nicht mehr. Sie wollen überleben – wozu eigentlich? „Wir sind ein über mehrere Körper verteilter Wille geworden, und neben dem Teil dieses Willens, den jeder von uns in sich trägt, ist kein Raum mehr für irgendetwas anderes. Wir wollen leben“, sagt der Erzähler. Immer weiter quälen sie sich, nur um immer mehr Zerstörung und Hoffnungslosigkeit zu erfahren. Nachts erinnern sie sich an eine Zeit zurück, in der ihnen noch Sattheit und Überdruss das Leben quälend erschienen ließ. Am Tag werden sie zu Vergewaltigern, Mördern und Kannibalen.

Der 37-jährige Heinz Helle hat mit „Eigentlich müssten wir tanzen“ eine Endzeitvision geschaffen, die in Zeiten, da Krieg und Flucht immer präsenter werden, bedrückend aktuell scheint. Nüchtern und unterkühlt ist die Sprache, manchmal sarkastisch. Eben so, wie junge Männer miteinander sprechen. Helle wirft in seiner düsteren Apokalypse eindringend die Fragen nach den Grenzen des menschlichen Willens, der Sprache und der Freundschaft auf.

Erschienen in: Schwäbische Zeitung

Sonntag, 6. September 2015

Robert Galbraith: Der Ruf des Kuckucks

Robert Galbraith ist das Pseudonym von Harry-Potter-Autorin Joanne K. Rowling. Hätte ich das nicht gewusst, hätte ich das Buch dann zu Ende gelesen? Schwer zu sagen, aber wahrscheinlich hätte ich es dann ja auch gar nicht in die Hände bekommen. Die Rezensenten, die beim Erscheinen 2013 nichts vom Pseudonym wussten, sollen es aber einhellig gelobt haben.

Cormoran Strike, ein abgerissener Afghanistan-Veteran und Privatdetektiv, bekommt den Auftrag, den tödlichen Balkonsturz des Models Luna Landry nach drei Monaten noch einmal zu untersuchen. Die offizielle Version lautet auf Selbstmord.

Die Handlung folgt dabei Schema F: Der sympathische Ermittler, der seit dem Krieg mit einer Beinprothese klar kommen muss und überhaupt wenig Glück im Leben hatte, fragt sich durch.

Er klappert nacheinander alle ab, die irgendwie mit Luna, zu tun hatten. Er und seine patente Assistentin Robin machen Bekanntschaft mit Lunas zerstrittener Pflegefamilie, ihrer heruntergekommenen leibliche Mutter und den schmierigen Gestalten im Model-Business. Das geht über viele, viele Seiten und erinnert in seiner Akribie durchaus an das hier.

Die Auflösung ist überraschend, aber so überraschend dann doch wieder nicht, und irgendwie dann doch sehr bekannt (ich glaube, von Sherlock Holmes gibt es einen ähnlichen Fall. Oder war es James Bond?). Alles in allem eine unterhaltsame Urlaubslektüre.

Donnerstag, 13. August 2015

Ferdinand von Schirach: Der Fall Collini

Noch ein Ferdinand von Schirach. Dieses Buch ist 2011 erschienen. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern "Verbrechen" und "Schuld" erzählt es nicht wahre Fallgeschichten, sondern eine fiktive Handlung, die gleichwohl auf Geschehnissen der Zeitgeschichte beruht und Parallelen zu prominenten Fällen aufweist. Am meisten wohl zum Prozess um den SS-Mann Friedrich Engel im Jahr 2002.

Gastarbeiter Fabrizio Collini hat bis zu seinem Ruhestand friedlich in Deutschland gelebt. Dann sucht er eines Tages ein Hotel auf, erschießt einen 85-jährigen Industriellen, tritt dessen Leiche wieder und wieder mit den Schuhen ins Gesicht und stellt sich bereitwillig der Polizei.

Der junge Anwalt Caspar Leinen übernimmt die Pflichtverteidigung. Dann erst erfährt er, dass es sich beim Opfer um Hans Meyer handelt, der ihm in seiner Kindheit ein großväterlicher Freund war. Leinen entschließt sich, Collini dennoch zu verteidigen. Der Täter schweigt. Warum hat er den scheinbar unbescholtenen Meyer so brutal ermordet? Niemand weiß es, auch während des Prozesses hält das Schweigen an.

Was nun kommt, ist sehr vorhersehbar. Leinen hat einen Geistesblitz und beginnt zu recherchieren: Natürlich, Meyer war ein Nazi. Er hat als SS-Sturmbannführer in Italien Partisanen erschießen lassen, darunter auch Collinis Vater. Collini selbst hat vergeblich versucht, Meyer vor Gericht stellen zu lassen. Als letzten Ausweg wählt er den Mord.

Ferdinand von Schirach, dem der Name seines Großvaters, des NS-Reichsjugendführers und verurteilten Kriegsverbrechers Baldur von Schirach ewig anhaften wird, hat hier ein Stück reale Zeitgeschichte in einen Krimi gepackt. Hintergrund ist das sogenannte Dreher-Gesetz: Eduard Dreher, einst strammer Nazi und Staatsanwalt am Sondergericht Innsbruck, machte später in der Justiz der Bundesrepublik Karriere. Im Bundesjustizministerium gestaltete er in den Sechzigerjahren maßgeblich ein Gesetz, das rückwirkend Strafen für NS-Schreibtischtäter verjähren ließ.

Fast alle, die im "Dritten Reich" gemordet hatten, galten als Mordgehilfen. Mit Drehers Gesetz waren die nicht mehr zu belangen: Das trifft auch auf Schirachs fiktiven Hans Meyer zu. Der Verdienst dieses Buches ist auch, diesen extrem peinlichen Vorfall in der Rechtsgeschichte der Bundesrepublik ins Gedächtnis zu rufen.

Gleichzeitig ist "Der Fall Collini" wieder ein interessanter Essay über das Recht. Gilt es für alle, sind einige gleicher? Kann man es zerreden oder dehnen oder kaufen? Spannende Fragen spannend erörtert.

Dienstag, 4. August 2015

Ferdinand von Schirach: Verbrechen

Ferdinand von Schirachs wahre Fallgeschichten haben ja inzwischen für Furore gesorgt und sind auch für das Fernsehen verfilmt worden. Dies ist seine 2009 erschienene erste Sammlung von elf Kurzgeschichten, die auf Fällen aus Schirachs Arbeit als Strafverteidiger beruhen.

Ein freundlicher 72-jähriger Arzt erschlägt nach vierzig Jahren Ehe seine Frau mit einer Axt: Ein Leben lang hatte sie ihn drangsaliert. Eine Frau tötet ihren geliebten, aber seit einem Unfall schwerstkranken Bruder und erhängt sich in der Gefängniszelle.  Neuköllner Kleingauner klauen ahnungslos die Teeschale einer mächtigen japanischen Familie und müssen schmerzhaft erfahren, wozu echte Kriminelle bereit sind. Ein Politiker stirbt im Sessel einer illegal eingewanderten  Prostituierten: Deren Freund zerstückelt die Leiche und vergräbt sie im Park - aus Liebe. Ein Museumswärter wird zum Kriminellen, weil er jahrelang auf die Plastik eines Dornausziehers starren muss.
 


Schirach hat die Fälle, die ihm selbst in der Praxis begegnet sind, verfremdet, Namen und Details verändert, um Persönlichkeitsrechte zu wahren. Sonst ist alles echt. Das Leben schlägt ohne viel Federlesens zu. Der Berliner Anwalt gibt Einblick in Parallelwelten, die direkt vor unserer Haustür sind, und mit denen wir in unserem Leben immer wieder in Kontakt kommen. Wenn wir nicht bewusst wegschauen. Manchmal, so wird klar, kann das Verbrechen auch in unser Leben hereinbrechen.

Kein Schwarz, kein Weiß, kein Gut, etwas Böse. Es ist nie ganz so einfach. Und meist ist der Gerichtsbeschluss dann auch noch anders als das Rechtsempfinden. Ein Anwalt, so wird deutlich, hat  nicht die Aufgabe, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. Er muss seinem Mandanten beistehen, Lücken in der Beweisführung finden. Die Bringschuld haben die anderen.
 
Diese Fälle lassen über den Rechts- und Justizstaat nachdenken, dem unsere Lebenswirklichkeit ja mehr unterworfen ist als irgendetwas sonst (mit Ausnahme vielleicht des Geldes, aber da gibt es bekanntlich Überschneidungen).

Schirachs Stil ist edel. Gutes, klares Deutsch, kurz und knapp, ohne haltloses Psychologisieren oder künstliche Dramatik. Die ergibt sich von alleine. Sehr lesenswert.
 
 

 

 

Freitag, 17. Juli 2015

Horst Wolfram Geißler: Wo schläft Kleopatra?

Ein 1965 erschienener Krimi. Mir war der Name Horst Wolfram Geißler vorher kein Begriff, aber offenbar gehört sein Roman "Der liebe Augustin" von 1921 zu den absoluten Klassikern.

Aber zu diesem Buch: Der Privatgelehrte und Hobbydetektiv Will Fox macht Bekanntschaft mit einer bezaubernden und kostbaren Kleopatra-Statue. Wie er erfährt, soll es eine  Plan geben, der den Weg zum verschollenen Grabmal der Ptolemäer in Alexandria weist. Bei seinen Nachforschungen gerät Fox mit einer Bande internationaler Antiquitätendiebe aneinander.

Gut sind die trockenen, verschrobenen Dialoge: Will Fox' Sprüche wie "Mir ist wieder einmal ganz urweltlich zumute", "Ich werde so intellektuell ohne dich", "Mein sonderbares Wasserfräulein" haben den Charme der Sechzigerjahre und erinnern an Serien wie "Mr. Ed" oder "Die Zwei" mit Roger Moore und Tony Curtis. Der Autor preist das Reisen im Schlafwaggon und beschreibt treffend den Zustand zwischen Wachen und Schlafen, der Fox seine besten Ideen beschert: "So entstand jene bunte Dämmerung, aus der man mühelos alle Landschaften und Wesen der Welt hervortreten lassen konnte, Zaubergestalten, erst schwanken und fremd, dann, je genauer die Vorstellung im Einzelnen gelang, lebendiger, am Ende beinahe zudringlich."

Alles knorke, aber was soll der Schluss? Ist Geißler urplötzlich die Lust vergangen, sich um eine ordentliche Auflösung der Kleopatra-Story zu kümmern? Die Fäden werden nicht wirklich entwirrt, alles bleibt vage. Ist der Erzählfluss in vorigen Kapiteln manchmal zu träge und ausführlich (ein und derselbe Sachverhalt wird mehreren Personen geschildert, obwohl er dem Leser längst bekannt ist), ist hier ein wenig zu abrupt Schluss. Schade.

Donnerstag, 9. Juli 2015

Adolf Boko Winterstein: Zigeunerleben

Der Lebensbericht des Sinti-Musikers und Geigenbauers Adolf Boko Winterstein, aufgezeichnet von Erich Renner, der Winterstein interviewte und dieses Buch 1988 herausgab.

Adolf Boko Winterstein, zum Zeitpunkt der Interviews Mitte 70, erzählt von seiner Kindheit und Jugend In Landau in der Pfalz und auf der Reise.

Winterstein berichtet vom geliebten Großvater, einem leidenschaftlichen Musiker mit großem Herz. Erschütternd die Episode, als der Mann, der seine Frau und mehrere Kinder bei einem Brand im Wohnwagen verloren hat, später selbst Opfer eines Wohnwagenbrandes wird.  Es ist ausschließlich Winterstein im O-Ton zu lesen, und es wird deutlich, was für eine Wirkmächtigkeit das hat, wenn nicht außen stehende Autoren wie beispielsweise hier meinen, ständig hineininterpretieren und erklären zu müssen. 

Renner ließ auch typische Dialekt-Wendungen, die Wintersteins Reden charakterisieren - "denk emol sowas" - stehen. So erzählt Adolf Boko Winterstein, wie sich die bitterarme Familie durchschlug, wie er oft genug im Freien unter dem Pferdekarren schlafen musste, wie sie mit ständig der Polizei in Konflikt waren und das Misstrauen und die Feindseligkeit der Gadsche spürten.

Winterstein erweist sich als ein gewitzter Erzähler und guter Unterhalter. Wie bei einem solchen üblich, weiß der Leser manchmal nicht, was er auf die Goldwaage legen kann und was ausgeschmückt ist (und letztlich ist das ja auch unwichtig).

Da gab es einen schlechten Lehrer in Durlach, der Adolf verhauen hat. Der Vater kam zu Hilfe und schleuderte den Lehrer hinter das Pult. "Aber der hat nichts mehr gemacht, der Lehrer. Wenn Pause war, hat er mir einen Apfel gegeben oder ein Stück Brot. 'Komm her', hat er gerufen und ein Frühstück mir gegeben. Ja, der hatte eine Warnung bekommen."

Oder Wintersteins nächtliche Begegnung mit einem Unsichtbaren, der Spuren auf dem Kiesweg hinterlässt: "Man könnte das ja gar nicht glauben, aber ich hab es mitgemacht, bitte, ich hab's mitgemacht."

Später baute Winterstein eine Geige nach dem Modell eines italienschen Meisters: "Sie wurde extra in eine Maschine getan und wurde durchstrahlt, innen und außen." Alles Experten hätten sie für ein altes italienisches Original gehalten. Anekdoten, die so oder so ähnlich wohl schon oft erzählt worden sind.

Oft ist Winterstein in seinen Erzählungen auch entwaffnend ehrlich. "Ja, so ist das mit der Fischerei", sagt er einmal: "Fischen ist schön, aber man soll sich auch nicht erwischen lassen."

Die Nazi-Zeit überlebt Adolf Boko Winterstein, weil er 1937 in einer abenteuerlichen Aktion nach Frankreich flüchtet. Dort schlägt er sich durch, auch als Soldat, und gerät in Gefangenschaft. Aus einer alten Feldflasche baut er eine Geige, die bei Franzosen und Besatzern gleichermaßen zur Attraktion wird. Erst 1959 kommt er wieder in seine deutsche Heimat zurück, wo der Vater ausgehalten hat.

Winterstein berichtet auch von Verwandten, die nach Polen deportiert wurden und in den Vernichtungslagern der Nazis umkamen. In einem Anhang ist diese unfassbar systematische Grausamkeit mit Dokumenten belegt.

Mittwoch, 24. Juni 2015

Thomas Glavinic: Das größere Wunder

Dieses Buch ist nicht schlecht, hat aber nervige Stellen. Vielleicht erst mal anlesen und dann selbst entscheiden.
 
In abwechselnden Kapiteln erzählt Glavinic die Everest-Besteigung seines Titelhelden Jonas und in Rückblenden dessen lebenslange Suche nach einem Sinn, auf der er letztlich die Liebe findet. Die Everest-Kapitel fesseln. Jonas ist in einer schmerzhaften Extremsituation auf sich selbst zurückgeworfen. Das ist besonders zum Ende hin extrem dicht und bildgewaltig.
 
Woran das erinnert: An Antoine de Saint-Exupéry und seine mitreißenden Erlebnisberichte.
 
Jonas' Leben wiederum ist alles andere als gewöhnlich. Einerseits spielt ihm das Schicksal hart mit. Die Mutter ist Alkoholikerin, ihr Freund  misshandelt ihn schwer. Der geistig behinderte Bruder wird von einem dumpfen Dorfnazi mit dem Luftgewehr zu Tode gequält. Dann sterben auch sein bester Freund Werner bei einer dämlichen Mutprobe und sein Zieh-Großvater Picco an Krebs. Warum haben mich diese Wendungen beim Lesen nicht mitgerissen? Vielleicht ist diese Achterbahnhandlung zu sehr auf Effekte aus?
 
Gleichzeitig ist Jonas mit unermesslichen, ja märchenhaften Mitteln ausgestattet, hat unbegrenzt Geld, ist augenscheinlich attraktiv, stark, sportlich, hat Beziehungen und Macht, kann Dreckhunde diskret „bestrafen" lassen. Er trifft keine einzige falsche Entscheidung und ist niemals peinlich. Dafür tut er, was ihm in den Sinn kommt, jettet lustig um die Welt, nimmt alles mit.

Er lässt sich von einer hübschen Norwegerin ein fünfstöckiges Baumhaus bauen, kauft sich eine Insel in der Südsee samt Segelschiff, entdeckt im Zentrum Roms den Laden, der die besten Weine und Antipasti führt - und gewinnt in dessen Besitzer Salvo einen Freund fürs Leben-, raucht im Jemen Kat, wandert über den Inka-Pfad nach Machu Picchu, bouldert im Yosemite, gründet Stiftungen gegen Tierversuche, arbeitet im Behindertenheim, lebt mit orthodoxen Juden Shimon und Abigajil in Jerusalem zusammen, surft auf den weltgrößten Wellen, rettet aus einem brennenden Krakauer Wohnhaus eine alte Frau, wohnt einen Monat im verlassenen Prypjat bei Tschernobyl, wandert auf dem Kilimandscharo „allein und ohne Karte, und nachts hörte er Löwen brüllen.":   Manches davon ist witzig beschrieben, anderes recht schablonenhaft aufgezählt.
 
Woran das erinnert: An die überflüssigen Schlusskapitel von Chamissos „Peter Schlemihls wundersamer Geschichte“, als Schlemihl durch Zufall auf einer Kirmes Siebenmeilenstiefel gekauft hat und nun schnellen Schrittes die Kontinente durchmisst.
 
Was aber nervt, ist, dass Glavinic' Jonas schon als Kind extrem altklug daherredet (und auch denkt) und dieses Getue bis zuletzt nicht ablegt. Dieser Mann denkt in Kalenderweisheiten à la:
 
„Sinn, danach suchten alle, mehr als Sinn konnte man nicht finden."
„Liebe ist: den leuchtenden Punkt der Seele des anderen zu erkennen und anzunehmen und in die Arme zu schließen, vielleicht gar über sich selbst hinaus.“
„Nimm dich nicht so wichtig. Milliarden Menschen haben vor dir geliebt. Die meisten davon hatten Pech.“
„Jemand hat die Kuh gemolken, die die Milch gab, aus der die Sahne wurde, die der Koch beigefügt hat. (...) Ich bin der Endpunkt vieler Menschen Arbeit. Keinen davon kenne ich.“
 
Woran das erinnert: Leider – an Paulo Coelho. 

Dienstag, 19. Mai 2015

Frank Schulz: Onno Viets und das Schiff der baumelnden Seelen

"Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen", schrieb Goethe. Onno Viets muss feststellen, dass Selbiges auch für Gratis-Kreuzfahrten gilt. „Onno Viets und das Schiff der baumelnden Seelen" ist nach „Onno Viets und der Irre vom Kiez" Frank Schulz’ zweiter Roman über den gutmütigen Hamburger Privatdetektiv, der Hartz 4 bezieht und gerne in Noppensocken Tischtennis spielt.

Endfünfziger Onno begleitet den Künstler Donald Maria Jochemsen als Leibwächter. Donald ist ein „stadtbekannter Veteran der analogen Boheme" mit Spleen für extravagante Hüte. Vor allem aber ist er ein quengeliger Menschenfeind und „ungut riechender, verzagter Tattergreis". Die Schiffsreise unternimmt er, weil seine Flamme dort als Tänzerin im Showprogramm auftritt. Statt ihr näherzukommen, muss er sich über die Mit-Kreuzfahrer ärgern: „Fratzen", „Klatsch- und Stimmvieh", „Zombies", die sich am Büffet drängeln und „Matronenwülste in Radlerhose" zur Schau stellen.

Onno dagegen fühlt sich gut. Wie auf einer tagelangen Familienfeier, zu der die Sippe, das ganze Dorf und das Nachbardorf geladen sind. Das Essen auf dem Partyschiff schmeckt und der Anblick von Mallorca haut den Hanseaten glatt um: „Schon erhaben, nech?, der Anblick von der beleuchteten Kathedrale, nech?" Leider muss Onno ernüchtert feststellen, „dass alles, aber auch alles einen doppelten Boden hat". Denn dieses Buch wird statt zum Krimi zu einem extrem traurigwitzigen Beziehungsdrama um Älterwerden, geplatzte Träume und verpasste Gelegenheiten.
So ernst der Rahmen, so grotesk-komisch der Stil. Dieses Buch ist ein virtuos-skurriles Wunderkabinett der deutschen Sprache, das selbst die Tücken der Altherrenverdauung mit allen Sinnen erfahrbar macht – ob der Leser will oder nicht: „Und mochte es noch einen gewissen Hörgenuss entfalten, wenn ein Flatus jaulend die Serpentinen des Dünndarms nachbildete – ein Schnupperspaß war es nicht." Aber ein Lesespaß!

Frank Schulz: Onno Viets und das Schiff der baumelnden Seelen. 336 Seiten. 19,99 Euro.


Erschienen in Schwäbische Zeitung, 19. Mai 2015.

Mittwoch, 13. Mai 2015

Aus der Tiefe ans Licht - Schauhöhlen auf der Schwäbischen Alb

„Aus der Tiefe ans Licht“ heißt ein neuer Führer durch die Schauhöhlen auf der Schwäbischen Alb. Die Alb ist die höhlenreichste Region Deutschlands. Wer einen Gang in die Unterwelt wagt, kann interessante und faszinierende Einblicke in die Geschichte unseres Planeten gewinnen.


Der Geopark Schwäbische Alb und der Landesverband für Höhlen- und Karstforschung Baden-Württemberg haben diesen Schauhöhlenführer zusammengestellt. Er ist kein eigentliches Buch, sondern eine Sammlung von 12 Infokarten in einem Schuber. Darauf ist alles Wissenswerte zu Anfahrt, Geschichte, Entdeckung und Besonderheiten der Höhlen vermerkt, die jährlich von rund 320.000 Besuchern entdeckt werden.


Beschrieben ist beispielsweise die Charlottenhöhle bei Giengen, die auf 460 Metern begehbar ist und der mit dem Höhlen-Schauland eine interaktive Erlebnisausstellung angegliedert ist. Spannend auch die Wimsener Höhle bei Hayingen im Landkreis Reutlingen, welche die Besucher mit einer Bootstour erkunden. Oder die Tiefenhöhle Laichingen, bei der Hobby-Höhlenforscher rund 55 Meter tief in Hallen und Schächte hinabsteigen können.


Der Hohle Fels bei Schelklingen war 2008 die Fundstätte der Elfenbeinfigur „Venus vom Hohle Fels“ – der mit 42500 Jahren weltweit ältesten Darstellung eines Menschen überhaupt. Außerdem sind beschrieben: Gutenberger Höhle und Gußmannshöhle bei Lenningen, Karls- und Bärenhöhle bei Sonnenbühl, Kolbinger Höhle im Kreis Tuttlingen, Nebelhöhle bei Genkingen, Olgahöhle bei Honau, Schertelshöhle bei Westerheim und Sontheimer Höhle bei Heroldstatt. Der Schauhöhlenführer ist zum Preis von einem Euro in allen Schauhöhlen auf der Schwäbischen Alb erhältlich. Infos unter www.geopark-alb.de.


Erschienen in Ipf- und Jagst-Zeitung / Aalener Nachrichten vom 12. Mai 2015

Dienstag, 12. Mai 2015

Professor van Dusen im Spukhaus

Heute ausnahmsweise kein Buch, sondern ein Hörspiel. Hurra! Es gibt nach vielen Jahren Neues vom genialen Wissenschaftler und Amateurkriminologen Professor Dr. Dr. Dr. Augustus van Dusen, auch die "Denkmaschine" genannt.

In den Jahren 1978 bis 1999 knackte der Professor 77 Hörspielfälle im Rias, später im Deutschlandradio. Die witzigen Abenteuer führten das schrullige Genie aus New York und seinen lebenslustigen, aber etwas dümmlichen Sidekick, den Reporter Hutchinson Hatch, rund um die Welt. Die Fälle, die der Autor Michael Koser zunächst nach Vorlagen des US-amerikanischen Schriftstellers Jacques Futrelle, später komplett selbst ersann, lehnten sich häufig an Detektivklassiker mit Helden wie Sherlock Holmes, Philip Marlowe oder Hercule Poirot an.

Jetzt hat Marc Freund  - laut Pressemitteilung in enger Abstimmung mit Michael Koser - ein neues Hörspiel geschrieben, das seit April erhältlich ist: Es ist das Jahr 1901. Schauplatz ist ein Spukhaus am Rand der Klippen Neuenglands, wo noch immer ein einst hingerichteter Pirat umgehen soll. Hutchinson Hatch und seine Freundin Penny De Witt - die in den alten Fällen nur eine Nebenfigur war - verbringen eine Nacht in dem Spukhaus, aus dem sie völlig überstürzt flüchten. Wie üblich muss schon ein Professor van Dusen kommen, um klarzustellen, dass 2+2 4 ergibt - immer und überall. Um die mysteriösen Morde - im Haus werden nacheinander mehrere ertrunkene Personen gefunden - aufzuklären, braucht er schon etwas länger.

Das neue Hörspiel trifft exakt den Ton der alten Folgen - als wären die altbekannten Helden nie weg gewesen. Die Atmosphäre passt. Als stilechte Requisiten kommen ein drahtferngesteuerter Edison-Phonograph, ein Zerrspiegel und ein Winton-Automobil zum Einsatz. Die Sprecher Bernd Vollbrecht als Professor van Dusen und Nicolai Tegeler als Hutchinson Hatch machen ihre Sachen gut. Sogar die Musik stimmt.

Was die Story angeht, kann es "Professor van Dusen im Spukhaus" durchaus mit einigen (allerdings schwächeren) Folgen des Originals aufnehmen.  Die Dialoge haben - gelinde gesagt - Längen, die Auflösung ist nicht gerade umwerfend. Doch wie gesagt: Auch in Kosers 77 Folgen gab es schlechtere und bessere. Den Charme von legendären Abenteuern wie "Professor van Dusen und der Zirkusmörder", "Professor van Dusen spielt Weihnachtsmann","Van Dusens erster Fall" und "Augustus im Wunderland" erreicht das "Spukhaus" nicht.

Aber das kann ja noch kommen. Weitere Hörspiele, auch von Michael Koser selbst geschriebene, sind angekündigt.



Dienstag, 5. Mai 2015

Guillaume Musso: Central Park

Die Pariser Polizistin Alice wacht eines morgens im Central Park, New York City, auf - und kann sich an nichts erinnern. Wie kommt sie nach einer durchzechten Nacht in Paris hierher? Und warum ist sie blutverschmiert und mit Handschellen an einen unbekannten Mann gekettet - den Jazzpianisten Gabriel, der gestern noch in Dublin war?

Eine absurde Ausgangssituation für eine rasante, halsbrecherische Handlung um einen blutigen Serienkiller, undurchschaubare Freunde und medizinische Grausamkeiten, die sich an einem einzigen Tag abspielt. Dass Alice buchstäblich auf sich selbst zurückgeworfen ist, macht Einfallsreichtum nötig. Wie erstellt man eine Fingerabdruckanalyse, wenn man keinerlei Geräte dazu hat? Man kauft sich ein Detektivset für Kinder im Spielzeugladen.

Trotz Fremdsprache habe ich das Buch in einem weggelesen. Auch, wenn man etwas sehr Ähnliches schon im Kino gesehen hat: Ein extrem packender, spannender, doppelbödiger Thriller, der sich zum Ende hin ungeheuer zuspitzt und bis kurz vor Schluss einige Knalleffekte bereithält.

Donnerstag, 16. April 2015

Roald Dahl: Die Prinzessin und der Wilderer

Ich geb's ja zu: Roald Dahl (1916-1990) gehört zu meinen persönlichen Lieblingsautoren. Mit herrlichen Romanen und Geschichten für Kinder und Erwachsene wie "Matilda", "Charlie und die Schokoladenfabrik" oder "Küsschen, Küsschen!" hat der Waliser die Menschheit ein Stück reicher gemacht.

Dieses Buch ist eine Sammlung von vier kurzen Geschichten, die in den Achtzigerjahren entstanden sind. Zuviel will ich hier gar nicht verraten, weil es immer auf den Knalleffekt ankommt. Es treten auf: Der unsympathische Buchhändler und seine pferdegebissige Sekretärin, die im Hinterzimmer eines Antiquariats in der Charing Cross Road schmierige Geschäfte machen, Prinzessin Busenschön, der ihre Attraktivität zu Kopf steigt und in Grausamkeit umschlägt, der potthässliche Wilderer Hengist, der vom König eine Frauen-Blankovollmacht bekommt und der Chirurg, dem ein saudischer Prinz ein Beutelchen aus schwarzem Samt überreicht.

Immer kommt es anders, als du denkst. Immer fallen die Grabenden in ihre eigenen Gruben. Immer dreht sich durch eine aberwitzige Wendung die Handlung ein zweites Mal. Immer brechen Lügengebäude krachend zusammen. Immer bekommen die Drecksäcke ihre verdiente Strafe. Dahl macht einfach Spaß.

Sonntag, 12. April 2015

Dorothy L. Sayers: Der Glocken Schlag

"Das ist so eine stille Gegend hier, wenn man da nicht über seine Nachbarn redet, worüber denn sonst?"

Das Dorf heißt Fenchurch St. Paul. Lord Peter Wimsey und seinen treuen Butler Bunter verschlägt eine Autopanne am Silvestertag in diesen verträumten Ort. Wie es der Zufall will, kommt Sir Peter gerade richtig, um einen Erkrankten beim neunstündigen Wechselläuten in der Pfarrkirche zu vertreten.

Wechselläuten - darum geht es hier: ein spleeniger englischer Brauch, bei dem mehrere Glocken von einem bis zu zwölfköpfigen Team mit Seilen und Rädern in einer mathematisch-ausgeklügelten Reihenfolge betätigt werden. Das Ganze wird selbstredend mit heiligem Ernst betrieben.


Kurze Zeit später findet der Totengräber in  Fenchurch St. Paul eine verstümmelte Leiche. Die Spur führt zu einem Juwelenraub vor vielen Jahren. Wer wäre geeigneter, den Fall aufzuklären, als Seine Lordschaft? Schließlich ist Sir Peter Wimsey erfolgreicher Ermittler und eine Art sympathischer Superheld, der selbst keinerlei Schwächen besitzt, aber großes Verständnis für menschliche Unzulänglichkeiten anderer zeigt. Dazu ist er niemals um einen launigen, schnodderigen Spruch verlegen. Seufz, der Gute.


Im Lauf der Ermittlungen machen der Leser und die Leserin gründliche Bekanntschaft mit dem Dorf und seinen Dörflern. Dieser Krimi aus dem Jahr 1934 (im Original: "The Nine Tailors") zeichnet sich dadurch aus, dass der Leser keine Sekunde im Ungewissen gelassen wird. Immer, wenn sich eine neue Spur abzeichnet, oder wenn Wimsey und Polizeichef Blundell eine neue Theorie zur Tat haben, wird das Ganze ausgiebig beim Tee erörtert. Spannend ist das nicht - und das unterscheidet es stark von Sherlock-Holmes-Krimis. Dorothy L. Sayers Stil ist gemächlich, behäbig, langatmig.

Die Handlung ist mitunter recht einfach gestrickt. So verrät ein "Zucken um den Mund" einen Lügner. Die entscheidende Wende führen Wimsey und die Polizisten mit einem billigen Trick herbei: Sie sperren zwei Verdächtige ein, lassen sie in einem Raum allein und hören mit einem (das war, zugegeben, damals noch Hightech) Mikrofon zu, wie sie sich gegenseitig von der Tat erzählen.

Aber es gibt auch Köstlichkeiten: Die echt englische Atmosphäre, die verregnete Moorlandschaft der Fens in East Anglia, das Herrenhaus, das Pfarrhaus, die kauzigen Dorfbewohner - das alles fügt sich stilecht in die sanft dahinplätschernde Erzählung ein. Interessant verpackt ist auch die Frage, wer in diesem Verwirrspiel die Guten und die Bösen sind. 


"Gutes tun, das Böses werde, das ist es, was mich so fuchst", damit beschreibt Whimsey an einer Stelle diese Unsicherheit.


Und nicht zuletzt die Rolle der Glocken, die ganz unterschiedliche Bedeutungen haben: Als schaurige Totenglocken, als markerschütternde Sturmglocken, wenn der Hochwasserdamm bricht und das ganze Dorf Zuflucht auf dem Kirchenhügel sucht, als Fliegeralarm im Krieg, als Kunst und Spiel beim Wechselläuten. Und noch mehr: Die neun Glocken Gaude, Sabaoth, John, Jericho, Jubilee, Dimity, Batty Thomas und Tailor Paul führen ein Eigenleben. Sie greifen schließlich entscheidend ins Geschehen ein. 

Donnerstag, 2. April 2015

Joanne K. Rowling: Ein plötzlicher Todesfall

Joanne K. Rowlings 2012 erschienener erster Roman für Erwachsene. Ich habe ihn mir in der Hörbuchversion von Christian Berkel vorlesen lassen.

Entspannte Lektüre im gemütlichen Sessel? Fehlanzeige. Das ist ein rabenschwarzes Sozialdrama, in dem am Ende nicht das kleinste Fünkchen Hoffnung bleibt.

Die Abgründe des Menschlichen - oder des Tierischen? - sind hier unvorstellbar tief. Alle haben Leichen im Keller. Unerfüllte Sehnsüchte, Komplexe und Ängste sorgen dafür, dass sich die Einwohner der Kleinstadt Pagford einander Wölfe sind.

Die Hauptfigur ist bereits tot: Barry Fairbrother, Gemeinderatsmitglied und Rudertrainer an der örtlichen Schule wird zu Beginn Opfer einer plötzlichen Hirnblutung. Um seinen Sitz im Gemeinderat entbrennt ein unerbittlicher Kampf, der bis aufs Messer geführt wird. Fairbrothers Todesfall soll nicht der einzige bleiben.

Aus den Harry-Potter-Romanen kennen wir die typische, weitschweifige Erzählweise, der wir hier genauso begegnen wie den Rowlingschen Wendungen, die unaufhörlich zwischen origineller Idee und Stilblüte oszillieren:
"...ein benutztes Kondom, das aussah wie der hauchdünne Kokon einer großen Made..."
"Ein Schweigen breitete sich über den Tisch wie ein frisches Tischtuch, makellos und erwartungsvoll."
"Ihr Katholizismus verlieh solchen Augenblicken immer etwas Pittoreskes."

Pittoresk oder makellos ist in diesem Roman gar nichts. Hier gibt es Männer, die ihre Kippen auf den Armen von Babys ausdrücken und Kinder vergewaltigen, verzweifelte Schülerinnen, die sich ritzen, weil sie brutalem Mobbing nicht mehr standhalten, Männern und Frauen, die sich gegenseitig unterdrücken, tyrannisiseren, betrügen, zur Weißglut treiben und schließlich zusammenbrechen. Die Reichen haben Macht, die Armen haben nichts und werden getreten.

Wie sehr wünscht man sich für so viele Figuren einen Zauberer Hagrid, der in Pagford auftaucht und sagt: Du gehörst nicht hierhin, in die unbarmherzige Welt der Muggels, in der dich die grausame, dumme Familie Dursley unterdrückt und gängelt. Du bist mehr, du bist ein Zauberer, du darfst in eine Welt kommen, in der Tapferkeit und gute Taten belohnt werden. Gibt's nicht. Hier ist alles trostlos, alles Muggel, alles Dursley. Und die Letzten beißen die Hunde.

Sonntag, 15. März 2015

Brigitte von Imhof: Genuss und Kulinarik an der Romantischen Straße


Deutschlands älteste Ferienstraße ist die Romantische Straße zwischen Würzburg und Füssen. 1950 ins Leben gerufen, um stationierten US-Soldaten und ihren Familien das historische Deutschland näher zu bringen, ist sie auch heute noch eine Entdeckungsreise wert. 400 Kilometer Kultur, Geschichte und Natur warten darauf, entdeckt zu werden – im Bus, mit dem Auto, zu Fuß oder per Rad.

Dieser neue Führer aus der Reihe „Merian Guide“ versteht sich als „gastronomisches Navi“: Ein Wegbegleiter für alle, die auf Reisen gerne gut essen und trinken. Kunsthistorische Schätze entlang der Strecke wie die Würzburger Residenz, der Weikersheimer Schlosspark, der Riemenschneider-Altar in Creglingen, die Altstädte von Rothenburg ob der Tauber, Dinkelsbühl, Nördlingen, Augsburg und Landsberg oder das Schloss Neuschwanstein werden allenfalls kurz angerissen. Im Vordergrund stehen „80 der schönsten Wirtsstuben und Restaurants“.

Es sind nicht unbedingt Geheimtipps, die die Autorin Brigitte von Imhof vorstellt, vielmehr lange bewährte Restaurants, Cafés und Gasthöfe: Wer hier einkehrt, macht nichts falsch. Leider sind nur von wenigen der beschriebenen Lokale Fotos abgebildet – und auch diese sind nicht immer aussagekräftig.

Welche kulinarische Vielfalt die Region zwischen Mainfranken und Allgäu zu bieten hat, machen die vielfältigen Ausflugstipps deutlich: Stationen auf dieser Tour der Genüsse sind die fränkischen Weingüter an der Tauber mit ihren Heckenwirtschaften, eine Schnapsbrennerei in Schillingsfürst, eine Spezialitätenbäckerei in Rothenburg, der quirlige Wochenmarkt in Nördlingen, Brauerei-Erlebnisgastronomie in Augsburg, zwei Schokoladenmanufakturen in Landsberg, ein Biobauer im Pfaffenwinkel, Käsereien und Almen im Allgäu, Eishersteller, Kaffeeröster – und vieles mehr.

An einigen Stellen hätte gründlichere Recherche gut getan: So ist der „Geopark Ries“ eben kein Park in Donauwörth, der „Wissenswertes“ über die Entstehung des Rieskraters bietet, sondern ein großes Urlaubsgebiet, das auch die württembergischen Städte Bopfingen und Neresheim umfasst. Unter der angegebenen Adresse finden Touristen lediglich das Donau-Rieser Landratsamt, von dem aus der Geopark vermarktet wird.

Ein Glossar zur fränkischen, schwäbischen und bayerischen Küche und eine Zeittafel zur Geschichte der Ferienstraße runden den handlichen Band ab.

Brigitte von Imhof: MERIAN guide Genuss und Kulinarik an der Romantischen Straße. Verlag Travel House Media. 128 Seiten. 11,99 Euro.

Erschienen in Ipf- und Jagst-Zeitung / Aalener Nachrichten am 14. März 2015

Donnerstag, 12. März 2015

Epiktet: Das Handbüchlein der Moral

Diese kleine Sammlung von Maximen des römischen Sklaven Epiktet (50-138 n. Chr.) gehört zu den schönsten und lesenswertesten philosophischen Texten. Nichts von den Aussprüchen des Stoikers Epiktet, die einer seiner Schüler aufzeichnete, hat seine Gültigkeit verloren.

"Einige Dinge stehen in unserer Macht, andere hingegen nicht. In unserer Macht sind Urteil, Bestrebung, Begier und Abneigung, mit einem Wort, alles das, was Produkt unseres Willens ist. Doch nicht in unserer Gewalt sind unser Leib, Besitz, Ehre, Amt, kurz alles, was nicht unser Werk ist."

Alles dreht sich um diese Unterscheidung: Frei sind wir, die Dinge, die in unserer Macht stehen, zu ändern, und vollkommenere, sittliche Menschen zu werden. Alles andere sollte uns gleichgültig lassen. Wer das schafft, ist glücklich. Wie wahr. Gelassenheit gegenüber Dingen, die wir nicht ändern können - ein einfaches und unendlich schweres Ziel.

In seinen Beispielen geht Epiktet weit: Krankheit, Schmerzen, auch der Tod unseres Kindes sollten uns nicht berühren. Alles, was uns zustößt, ist nur eine Übung, die uns Leidenschaftslosigkeit und Gemütsruhe lehrt. Wenn uns jemand das Leben schwer macht, so sind es wir selbst mit unseren Gedanken, Wünschen, der Gier und dem Neid.

Meine Ausgabe des Handbüchleins ist 1946 "unter der Zulassung Nr. US - W - 1082 der Nachrichtenkontrolle der Militärregierung" erschienen. Im ersten Satz des Vorwortes heißt es: "Ist nicht der Stoizismus das Produkt einer ähnlichen Zeit wie sie gegenwärtig vorhanden ist, hervorgegangen aus notgedrungenem Nachdenken über die Quelle und Möglichkeit eines Glückes für dieses Leben und für alle, wie es jetzt auch wieder ungemein viele Gemüter bewegt." Mindestens genauso gut passt er in unsere heutige Zeit, die sich die Frage nach der Freiheit mehr denn je stellt. Lebensratgeber gibt es heute wie Sand am Meer. Aber diesen hier schlägt keiner.

Mittwoch, 4. März 2015

Michel Houellebecq: Soumission

Diese Politsatire erschien am 7. Januar 2015, dem Tag, an dem islamische Terroristen die Redaktion der Zeitung Charlie Hebdo stürmten und ein Massaker anrichteten. Vieles wurde in "Soumission" hineininterpretiert, ohne es zu lesen, manches wohl auch bewusst falsch verstanden. Man kann dieses Buch mögen oder nicht. Eine Streitschrift gegen den Islam ist es nicht. Dazu ist es einerseits zu vielschichtig, andererseits zu harmlos.

Im Jahr 2022 wird Mohamed Ben Abbes, ein Politiker der Muslimbruderschaft, französischer Präsident - weil sowohl Sozialisten als auch Konservativen seine Wahl als Gegengewicht zum erstarkten Front National unterstützen

Die nun folgenden islamische Umgestaltung Frankreichs, die Houellebecq aus Sicht des Literaturprofessors François schildert, ist nicht bedrohlich oder gewaltsam, sondern erscheint als ein wahres Paradies der Ultrakonservativen. Die  Arbeitslosigkeit sinkt dramatisch, weil die Frauen (freiwillig?) zurückkehren an den Herd. Statt Großkonzernen unterstützt die Regierung nun Bauern und Kleinunternehmer. Soziale Sicherung gibt es nur innerhalb der patriarchalischen Familie. Kurzum - es wird wahr, was die Anhänger des Front National und der traditionalistischen Bewegung der identitaires sich schon lange wünschen.

Die Herrschaft der Muslimbruderschaft ist kein Schreckensszenario, schon gar nicht aus Sicht des Protagonisten François. Dieser ist sozial verarmt, ein Houellebecqscher einsamer Wolf, dessen einzige Erfüllung darin besteht, mit wechselnden zwanzigjährigen Studentinnen zu schlafen. Den opportunistischen Universitätsbetrieb hat er satt. Aufklärung, Humanismus und westlichen Relativismus hält er für gescheitert. François' nahezu einziger Forschungsinhalt ist Joris-Karl Huysmans, Autor der décadence, der um 1900 die Untiefen des Menschlichen durchmaß, ehe er sich -  angewidert und geläutert - einem katholischen Kloster anschloss. François tut es ihm gleich und konvertiert am Ende des Buchs. Allerdings nicht zum schwächelnden Katholizismus, sondern zum erstarkenden Islam.

Wo bleiben Freiheit, Individualismus und Gleichberechtigung? Wie wird mit Andersdenkenden verfahren?  Für François in seiner Ichbezogenheit - und damit die Romanhandlung - stellen sich diese Fragen gar nicht erst. Auch dass er vorübergehend seine Stelle an der nun islamischen Universität verliert, lässt ihn fast gleichgültig, da das neue Regime ihn mit einer großzügigen lebenslangen Rente ausgestattet hat. Als negativ empfindet er nur, dass Frauen komplett aus dem öffentlichen Leben verschwinden, und er obendrein keine Studentinnen mehr kennenlernen darf. Seine jüdische Geliebte Myryam wandert samt Familie nach Israel aus. Es bleiben ihm nur die Huren.

Schließlich löst François dieses Problem mit der Konversion: Wie ihm der neue Universitätsrektor Rediger - als  Zerrbild einen kalten Sozialdarwinisten und Menschenverächters gezeichnet - erläutert, darf er sich als Universitätsprofessor zu den Alphatieren zählen, die das Recht auf mehrere Frauen haben, um sich optimal fortzupflanzen.

Der Titel Unterwerfung ist nicht nur eine Übersetzung des Begriffes Islam, er spielt auch auf den erotischen Roman "Geschichte der O." von Pauline Réage an: Rediger, so erfährt François, wohnt in dem herrschaftlichen Haus, in dem dieser Klassiker der Unterwerfungsliteratur geschrieben wurde. Hurra, wir unterwerfen uns (handelt davon nicht auch der aktuelle Bestseller "Fifty Shades of Grey"?) Großinquisitor, ick hör dir trapsen.

"Es gibt keine Sorge, die den freien Menschen so ununterbrochen quälte wie diese, das Wesen so schnell es geht zu suchen, vor dem er sich in Andacht verneigen könnte; denn der Mensch sehnt sich danach, ihn drängt es, das anzubeten, das unbedingt und zweifellos ist, damit auf diese Weise alle Menschen ohne Unterschied in diese Andacht einwilligten. Denn die Sorge dieser erbarmungswürdigen Geschöpfe liegt nicht darin, den Gegenstand zu suchen, vor dem ich oder ein anderer uns verneigten, sondern eben jenen, an den alle glaubten, und vor dem sie dann in die Knie sänken, alle, alle zusammen." (Fjodor Dostojewski: Die Brüder Karamasow)

Ein Schlüsselszene spielt sich im TGV ab. François hat ein christliches Kloster besucht, ohne von dessen Geist ergriffen zu werden. Im Zug beobachtet er einen Geschäftsmann um die Fünfzig an der Seite von zwei verschleierten, fast noch jugendlichen Mädchen - offenbar seine Frauen.
"En régime islamique, les femmes - enfin, celles qui étaient suffissament jolies pour éveiller le désir d'un époux riche - avaient au fond la possibilité de rester des enfants pratiquement tout leur vie. Peu après etre sorties de l'enfance elles devenaient elles-memes mères, et replongaient dans l'univers enfantin."
Wahrscheinlich ist es ihnen egal, ob sie sich einem Ehemann, einem Gott oder den neuesten Moden, die kapitalistische Großkonzernen diktieren, unterwerfen.
Zum Stil: "Soumission" ist eigentlich kein Roman, eher eine theoretische gesellschafts- und geopolitische Skizze. Die Handlung rund um François  nimmt wenig Platz ein, stattdessen doziert der Erzähler über Seiten hinweg oder lässt seine Figuren dozieren. In seiner Ironie ist das durchaus spannend, aber nicht unbedingt packend. Vielleicht ist zum Thema Unterwerfung auch schon Besseres geschrieben worden.

Dienstag, 24. Februar 2015

Ernest Hemingway: Die Sturmfluten des Frühlings

Scripps O'Neil denkt und redet einfach. Wie jemand, der verstanden hat, dass ihn das viele komplizierte Denken nicht richtig glücklich gemacht hat. In Mancelona haben ihn seine Frau und seine Tochter unvermittelt verlassen: Jetzt geht er nach Chicago, im eisigen Wind das Eisenbahngleis entlang.

Er bleibt im Kaff Petoskey hängen, wo er Diana, die ältliche Bedienung in Browns Bohnenstube heiratet. Diana hofft, Scripps zu halten, und abonniert deshalb Literaturzeitschriften, um mit ihm angeregte Gespräche zu führen. Sie verliert ihn dennoch - an Mandy, die hübschere Kellnerin der Bohnenstube, die Scripps ihrerseits mit originellsten literarischen Anekdoten unterhält.

In die Bohnenstube verschlägt es auch Yogi Johnson, Kriegsveteran und Arbeiter in der Pumpenfabrik. Obwohl der Chinook, der Frühlingswind bläst, begehrt Yogi keine Frauen mehr. Schuld ist ein unschönes Erlebnis mit einer Pariser Hure. Er zieht mit Waldindianern um die Häuser. Als aber eine Squaw, die nichts am Leib trägt als ein Paar abgetragene Mokassins, die Bohnenstube betritt, kehren Yogis Lebensgeister wieder. Er folgt der Squaw durch den Schnee und wirft seinerseits die Klamotten von sich.

Dieser kleine Roman zeigt, wie einfach es ist, etwas wirklich Witziges zu schreiben. Zumindest, wenn man Hemingway heißt. Die Figuren in diesem Büchlein verlieren nicht viele Worte, doch alle zeigen auf ihre beschränkte Art Mitgefühl. Und keiner will etwas Böses. Stattdessen zitieren alle unentwegt John dos Passos, Henry James, Joris-Karl Huysmans und William Wordsworth. Ein bunter Strauß gepflegter Stilbrüche. Dazu Hemingways depperte Kommentare aus dem Off. Ein Gustostückerl.

Ein Buch von der Sorte, bei der man als Leser sofort beginnt, sich den aberwitzigen Sprachduktus anzueignen. Bei mir ist das ähnlich geschehen mit Christan Reuters Schelmuffsky und Ludwig Thomas Jozef Filser. Allerdings sollte keiner auf die Idee kommen, so zu schreiben versuchen wie Hemingway. Daran haben sich schon zu viele die Zähne ausgebissen.

Donnerstag, 5. Februar 2015

Die Geschichte der Anderen Bibliothek in Gesprächen

Liebevoller geht es nicht. Die Andere Bibliothek ist Buchkultur pur. Die von Franz Greno und Hans-Magnus Enzensberger begründete Reihe hat sich immer durch größte Sorgfalt in Auswahl und Gestaltung ausgezeichnet. Lesebändchen, ausgesuchte Einbandmaterialien, Rückenschilder, herrliche Typen. In diesem Sammelband zum 30. Geburtstag der Anderen Bibliothek fällt Arno Schmidts Wort von der "Handballenseligkeit".  Jeder, der Bücher liebt, kommt ins Schwärmen. Sollte das gedruckte Medium sterben - diese Art Buch wird bleiben.

Bei aller Lobhudelei muss ich einschränken: Inhaltlich ist für mich nicht alles, was in diesen 30 Jahren erschienen ist, Gold. Dass alles, was bei der Anderen Bibliothek erscheint, auch lesenswert ist, konnte ich für mich nie behaupten. Vieles wurde ausgegraben, das zu Recht in Vergessenheit geraten war, manches Belanglose ist dabei. Natürlich auch etliche wahre Schätze. Aber das ist höchst subjektiv: "Wir drucken nur Bücher, die wir selber lesen möchten" war von Anfang an das Motto der Macher und ist auch der Titel dieses Jubiläumsbüchleins.

Erzählt wird die Geschichte der Anderen Bibliothek, von der Idee des Nördlinger Verlegers Franz Greno im Jahr 1984 bis zur heutigen Zeit - in diesem Jahr erscheint Band 368. Die Auswahl an Interviews, Artikeln und Essays konzentriert sich vor allem auf die Anfangsjahre, immer wieder dreht sich alles um den leidenschaftlichen Büchermacher Franz Greno - der allerdings selbst nicht zu Wort kommt. "Es roch nach flüssigem Blei", heißt es einmal über die Nördlinger Werkstatt, in der Greno seine Babys noch im Bleisatz und Buchdruck nach alten handwerklichen Regeln herstellte.

Herausgeber Hans-Magnus Enzensberger, der Zweite im Team, kommt sehr wohl zu Wort. Er findet viel lobende Worte für Greno, schildert aber auch, wie das Unternehmen in wirtschaftliche Schwierigkeiten geriet. Greno, so Enzensberger, sein ein "Nimmersatt" gewesen, der "in Nördlingen ein immer größeres Rad drehte".

1989 rettete sich die Andere Bibliothek in den Eichborn Verlag. 1997 stiegen die Macher auf Computersatz um. Das Team Enzensberger-Greno als Herausgeber und  Buchgestalter und -hersteller verantwortete die Reihe bis 2005. Heute ist die Andere Bibliothek ein Unternehmen der Aufbau-Verlagsgruppe.

Der Jubiläumsband enthält auch eine vollständige Bibliographie mit Zeittafel, die an Bestseller der Reihe wie Christoph Ransmayrs "Die letzte Welt" und Prinz Asfa-Wossen Asserates "Manieren" erinnert.

Viele Zeitzeugen und Weggefährten kommen zu Wort, allerdings wird für die späteren Jahre die Auswahl diffuser. Da plaudert Robert Gernhardt, der an einem Hörbuchprojekt der Anderen Bibliothek mitarbeitete, in einem sehr ausführlichen Interview über Wilhelm Busch, ein nacherzähltes Gespräch mit Martin Mosebach berichtet über dessen Angewohnheit, Bücher komplett per Hand zu schreiben. Alles wirkt ein bisschen zusammengewürfelt, fast so wie die Andere Bibliothek selbst.

In jedem Fall macht das Buch wieder unheimliche Lust, eine kleine Buchhandlung aufzusuchen und einen dieser wunderschönen Bände mit nach Hause zu nehmen.

Dienstag, 27. Januar 2015

Anthony Horowitz: Der Fall Moriarty

Dies ist der zweite Sherlock-Holmes-Roman von Anthony Horowitz nach Das Geheimnis des weißen Bandes. Mehr als 300 Seiten lang breitet sich die Handlung recht unspektakulär aus, aber der Knalleffekt zum Schluss entschädigt für vieles

Diesem Buch fehlen die durchgängige Spannung und die dichte Atmosphäre des Vorgängers. Dennoch sollte man der naheliegenden Versuchung widerstehen, den Band frühzeitig wegzulegen - in der Annahme, man habe es mit einem schwächeren Krimi zu tun - so wie ja auch Doyle selbst bisweilen schwächere Sherlock-Holmes-Geschichten ablieferte.

Im schweizerischen Meiringen treffen kurz nach dem berühmten Duell zwischen Sherlock Holmes und James Moriarty zwei Ermittler aufeinander: Es handelt sich um Athelney Jones, Inspektor bei Scotland Yard, und Frederick Chase, Detektiv im Dienste der New Yorker Agentur Pinkerton's. Offenbar, so finden die beiden heraus, plante der Superverbrecher Moriarty sich mit dem US-amerikanischen Gangsterboss Clarence Devereux zusammenzutun. Gemeinsam machen sich sich auf die Spur von Devereux und finden den skrupellosen Verbrecher, der inzwischen in London sein Unwesen treibt. Es kommt zum Showdown in den unterirdischen Gewölben des Smithfield-Schlachthofes. 

Und dann besagter Knalleffekt. Bei allen Unterschieden in Genre, philosophischem Tiefgang und sprachlicher Raffinesse ist der Vergleich mit Yann Martels Life of Pi gar nicht so abwegig. Warum, das soll hier nicht verraten werden. Alles in allem reicht Der Fall Moriarty nicht ganz an seinen Vorgänger heran, ist aber sehr unterhaltsam.

Donnerstag, 22. Januar 2015

Lucius Burckhardt: Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft.

Der Schweizer Soziologe Lucius Burckhardt (1925 bis 2003) gilt als Begründer der Spaziergangswissenschaft oder Promenadologie.


Im Mittelpunkt dieser Wissenschaft steht die Frage: Wie nimmt der Spaziergänger Umwelt wahr und konstruiert daraus eine Landschaft? Und wann empfinden wir diese Landschaft als schön? Schon die Fragestellung macht klar: Die Landschaft ist nicht in der Natur der Dinge, sondern in unserem Kopf – wir konstruieren sie aus Umwelteindrücken.


In unserem Kopf ist die Landschaft aber schon vor dem Spaziergang: In Erwartungen und Erinnerungen. Wenn wir eine Landschaft ausmachen, erkennen wir wieder, was Dichter, Maler, Gelehrte, aber auch Erdkundelehrer, Eltern, Großeltern und Kinderbücher uns beigebracht haben. Der Wiesengrund mit Brunnen vor dem Tore, die Heidelandschaft, das schroffe Gebirge, die endlose Wüste.



Räumlich entsteht Landschaft beim Spaziergang während des Weges. Unsere Wahrnehmung schließt heterogene Dinge zu einer Landschaft zusammen und blendet andere aus, sodass wir beim Heimkehren die liebliche Landschaft rühmen, oder aber sagen: Das Ries (der Hunsrück, die Toscana, der Spreewald....) ist auch nicht mehr das, was es einmal war.



Drei Entwicklungen, so führt Burckhardt aus, beeinflussen unsere Landschaftswahrnehmung. Zum einen ist der Unterschied zwischen Stadt und Land aufgehoben: Wir leben heute alle mehr oder weniger in einer Metropole, das Land ist industrialisiert, die Stadt begrünt. Das klassische Landschaftserlebnis aber war immer der Übergang von der Stadt auf das Land. Der Städter sah Landschaft, wenn er zum Spaziergang aus den Mauern heraustrat.



Damit entfällt auch ein zweites Kriterium: Die Interesselosigkeit. „Landschaft (…) ist das Bild, das sich der Städter, der sich die Hände nicht am Boden schmutzig macht, der kein Interesse am Land hat von der landwirtschaftlichen Welt außerhalb der Mauern gemacht hat", so Burckhardt.



Drittens spielt das Verkehrsmittel eine Rolle. Seit der Mensch Gegenden nicht mehr Stück für Stück zu Fuß erwanderte, sondern mit der Eisenbahn ein einzelnes Ziel ansteuerte, musste das komplette Landschaftserlebnis – quasi als Postkartenbild – an diesem einen Zielort vorhanden sein. Diese oft künstlichen Postkartenidyllen inklusive Panoramahotel sind seit der Verbreitung des Autos auch wieder überholt. Die Autoreise unterscheidet sich vom Spaziergang zu Fuß dadurch, dass die Distanzen weiter werden, „viel heterogenere Eindrücke müssen zu viel abstrakteren Ideallandschaften integriert werden“.



Burckhardt führte den Spaziergang auch als Methode ein, um diese Mechanismen zu ergründen. Unter anderem ließ es er eine Gruppe Studenten mit Windschutzscheiben vor den Gesicht durch die Straßen der Stadt gehen, um eine besondere Wahrnehmung zu simulieren.



Viele weitere Gedanken sind in diesem Kompendium angerissen: Über die Entwicklung der Gartenkunst, über die „totale Begärtnerung“, „Funktionalisierung und Hygienisierung“ der Städte, der Burckhardt die Brache und das Prinzip des „kleinsten Eingriffs“ als nutzerfreundliche Alternative entgegenstellt.


Weil „Warum ist Landschaft schön" kein wissenschaftliches Fachbuch, sondern eine Sammlung von Aufsätzen, Vorträgen und Artikeln aus Fachzeitschriften und Sammelbänden ist, gibt es zahllose Doppelungen, die aber auch dafür sorgen, dass sich die Grundgedanken einprägen.


Als Einstieg und Überblick gut geeignet ist der Beitrag „Bergsteigen auf Sylt“  auf den Seiten 306 bis 319. Nikolaus Wyss interviewte Burckhardt darin für das Magazin des Zürcher Tages-Anzeigers im März 1989.

Freitag, 2. Januar 2015

Jostein Gaarder: Der Geschichtenverkäufer


Jostein Gaarder erzählt in diesem Roman aus dem Jahr 2002 von Petter, der Geschichten verkauft. Er verkauft sie, weil er viel zu viele davon hat. „Ich blutete Geschichten und Erzählungen aus", schreibt der Ich-Erzähler. Das hat er schon als Kind getan. Die Eltern getrennt, wächst er bei der Mutter auf und spielt nicht gerne mit anderen Kindern, sondern beobachtet sie lieber. Er ist ein nüchterner Beobachter. Wenn er alleine ist, unternimmt Petter Seelenreisen, fliegt in seiner Fantasie über die Stadt und auf den Mond und sieht sich alles genau an.
 
Er lernt, dass auf dem Schulhof (und im Leben) Prügeln unter Kindern eher akzeptiert und entschuldigt wird, als andere mit Worten zu verletzen, wie er es mitunter tut. Doch er kauft sich frei, indem er anderen Kindern gegen kleine Bezahlung die Hausaufgaben erledigt. Auf die gleiche Weise verdient er später, als Erwachsener, seinen Lebensunterhalt: Er verkauft Autoren seine Ideen, vor denen er übersprudelt. Er ist wie ein Jäger, der Geschichten jagt und erlegt. Das Ausnehmen und Zubereiten überlässt er anderen. „Ich hätte es niemals geschafft, einen Roman zu schreiben, dazu hatte ich viel zu viele Ideen", schreibt er. Sich einer Idee zu widmen, viel Zeit in sie zu investieren, das ist seine Sache nicht.

Petter lässt seine Kunden, die einfallslosen Schriftsteller, die zwar schreiben können, aber keine Fantasie haben, wie Marionetten tanzen. Wie eine Spinne webt er ein feines Netz aus Abhängigkeiten.  Er verkauft die Fantasie, mit der sich die anderen schmücken, Ehre erlangen, bewundert und geliebt werden. Weil er selbst kein Schriftsteller ist und nicht in deren Zwängen, Eitelkeiten und Verletzbarkeiten gefangen ist, kann er einen nüchternen - und für die Leser sehr interessanten - Blick auf das Schriftstellertum werfen.

Er schreibt: „Vielen angehenden Autoren fehlt es an so etwas Grundlegendem wie Lebenserfahrung.... Zuerst lebt man, dann kann man sich überlegen, ob man etwas zu erzählen hat.“ Was Petter übersieht: Er selbst hat nie gelebt. Von Freunden ist keine Rede. Er hat viele Frauen mit der Macht seiner Worte ins Bett bekommen, aber es ist nichts zwischen ihm und diesen Frauen. Auch hier: ein sehr nüchterner, illusionsloser Blick auf das, was sich zwischen Männern und Frauen abspielt.

Nur einmal liebt Petter selbst. Und die ganze Geschichte läuft so unglücklich wie alles in Petters Leben. Er trifft die falschen Entscheidungen, hat das Glück nicht im richtigen Moment auf seiner Seite. Auch das feinmaschige, immer größere und verzweigtere Netz reißt irgendwann, die Autoren rebellieren, der Hass schlägt über Petter zusammen. Und auch seine persönliche Tragödie bricht über ihn hinein, am Schluss, wenn die Handlung dann sehr an Max Frischs "Homo faber" erinnert. Der Ende immerhin ist offen und nicht komplett ausweglos.

Ein Buch über die Macht der Worte, die mehr verletzen können als andere Formen der Gewalt. Psychologisch raffiniert, doppelbödig und höchst anregend für die Fantasie.