Mittwoch, 24. Januar 2018

Michael Angele: Der letzte Zeitungsleser

Traurig, traurig. Aber das Medium gedruckte Zeitung, dem Michael Angele dieses wunderschöne Abschieds-Essay gewidmet hat, wird wohl in absehbarer Zeit nur noch ein Nischendasein führen - ähnlich dem gedruckten Buch oder auch dem Kino.

Angele ist stellvertretender Chefredakteur der Wochenzeitung "Der Freitag" und war auch schon Chefredakteur der Netzeitung (Ironie der Geschichte: Deutschlands erste Internetzeitung hielt sich leider nur ein paar Jahre...)

In leichtfüßigen Anekdoten erzählt der Deutsch-Schweizer, was die gedruckte Zeitung liebenswert und besonders macht. Er stellt klar: "Es gibt tausend Gründe eine Zeitung zu lesen, der Informationsbedarf ist dabei nur einer von vielen." Das sei schon zu allen Zeiten so gewesen: "Eine Zeitung war ein Zugang zur Welt, war ein Stück Heimat und ihr Gegenteil, wenn sie den Blick weitete (...)."

Einer der tausend Gründe ist beispielsweise, sich über Leitartikel aufregen zu können. Oder dieser: Dass es auf Reisen nur Zeitungen vom Vortag zu kaufen gab, war ein untrügliches Zeichen, dass man wirklich im Urlaub war - sonst hätte man auch gleich daheim bleiben können. Früher.

Zeitungen sind die große Welt. In New York die New York Times, in Paris Le Monde zu kaufen heiße, in die kosmopolitische Sphäre einzutauchen. Irgendwo auf der Welt in einem Internetcafé Spiegel Online lesen heißt, außen vor zu bleiben: "Dann erleben wir die Globalisierung."

Die ständige Verfügbarkeit von Informationen im Netz produziert nicht mehr, sondern weniger Geistesmenschen - Geist könne sich nur bilden, wo Mangel und Aufschub ist, vermutet Angele. Die gedruckte Zeitung wird weiterhin existieren - aber eben nicht mehr als Massenprodukt, weil alle genannten Vorzüge mit der Zeitung verschwinden werden, ebenso wie die Zeitungssüchtigen, die sie schätzen und sich ihrer erinnern.

Einer der letzte ist der Theatermacher Claus Peymann, der sieben oder acht Zeitungen täglich liest. Mit ihm sprach Angele auch über dessen Weggefährten Thomas Bernhard - zu Lebzeiten ein wahrer Zeitungsfanatiker, der einmal 350 Kilometer im Auto fuhr, nur um eine aktuelle Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung zu erhaschen.

Angele zitiert aus einem Fernsehinterview, das mit dem Schriftsteller auf Mallorca geführt wurde:  Auf die Frage, ob er in den Zeitungen Informationen finde, die er in seinen Büchern verwerte, antwortete Bernhard: "Na sicher, es ist ja in den Zeitungen überhaupt alles zu finden, was es gibt. Das heißt alles, was eigentlich existiert, ist in den Zeitungen. Die Realität ist in den Zeitungen noch übersteigert. Die Leerstellen der Wirklichkeit sind in den Zeitungen noch ausgestopft." Er bevorzuge die Boulevardblätter: "Je scheußlicher die Zeitungen, desto mehr Gewinn ziehe ich daraus."

Angele zeigt: Eine gut gemachte Zeitung ist nicht einfach nur eine Ansammlung von Artikeln, sondern eine abwechslungsreiche Komposition - noch mehr, eine "Erzählung der Welt". Das geht verloren, weil zu viele denken, sie bräuchten das nicht oder könnten es sich von anderen Medien besser liefern lassen. Ein Irrtum.

Montag, 22. Januar 2018

Rodrigo Hasbún: Die Affekte

Der deutsche Bergsteiger und Abenteurer Hans Ertl war während der NS-Zeit Kameramann und Liebhaber Leni Riefenstahls. Nach dem Krieg bekommt er in Deutschland keinen Fuß mehr auf den Boden und entschließt sich, mit seiner Frau Aurelia und den drei Töchtern Monika, Heidi und Trixi nach Bolivien auszuwandern.

In Bolivien kommt der umtriebige, fast besessene Ertl nicht zur Ruhe und unternimmt sogleich eine Expedition in den Urwald. Ertl verliebt sich in eine Assistentin, Heidi in einen Expeditionsteilnehmer. Monika teilt die obsessive Art der Vaters: Sie heiratet erst in jungen Jahren einen reichen, aber unerträglichen Deutsch-Bolivianer, wendet sich dann den Ärmsten zu, gerät ins Umfeld der Nationalen Befreiungsarmee Che Guevaras, wird nach dessen Ermordung Vertraute und Geliebte von dessen Nachfolger Inti Peredo und rächt dessen Exekution, indem sie den bolivianischen Konsul in Hamburg erschießt.

Die Ertls hat es wirklich gegeben. Die düstere Romanhandlung, die auf historischen Ereignissen basiert, wird aus den Perspektiven verschiedener Personen erzählt, darunter die drei Ertl-Töchter. Das Ganze ist atmosphärisch äußerst dicht, inhaltlich stimmig, sprachlich treffend und sehr mitreißend erzählt. Vielleicht eine Art Fazit: Enttäuschungen und Niederlagen begleiten uns - wir können ihnen nicht entfliehen. Schon gar nicht mit Gewalt.

Freitag, 19. Januar 2018

Rudolf Baumbach: Es war einmal

Was gibt es Geheimnisvolleres, als auf einem Dachboden ein verstaubtes Märchenbuch zu finden. Mit nie gehörten unwahrscheinlichen Geschichten in eine herrliche Zauberwelt abzutauchen und wie in einem Rausch darin zu versinken - herrlich!

Na gut, ich gebe zu, dieses Buch lag nicht in einer knarzigen Truhe hinter Spinnweben auf dem Dachboden, sondern wurde von mir ganz prosaisch im Internet ersteigert. Es war auch nicht verstaubt und abgegriffen, sondern präsentierte sich als wunderschönes rotes Prachtbändchen mit Goldschnitt.

Was der alte Rudolf Baumbach - ein Biedermeier-Vielschreiber des 19. Jahrhunderts, dem wir auch das schöne Studentenlied von der Lindenwirtin zu verdanken haben - hier geschaffen hat, lässt das Märchenherz höher schlagen. Seine Kunstmärchen sind zwar ausgefeilter und abwechslungsreicher als reine Volksmärchen, aber auch nicht übertrieben verkünstelt.

Zum Zauber trägt bei, dass Baumbach - der um Effekte wusste - in seine Traumwelten alles hineingepackt, was zur wohligen Märchenatmosphäre gehört. Er erzählt von Wiesengrund und Freischütz, gezinkten Würfeln und sagenhaften Goldschätzen, saligen Fräulein und Hexen, Magiern und Unholden, Missgunst, Verrat, Bluttaten und den verdienten Lohn der einfachen Leute.

Im ersten Märchen Der Krystall und die Hexe geht um ein rechtschaffenes Mädchen, das einen Kristall erhält, mit dem sie die geheimen Herzenswünsche aller lesen kann, die ihr über den Weg laufen. In Münchhausen und die drei Wilddiebe begegnet dem Leser die aus dem orientalischen Kontext bekannte großartige Lügengeschichte, in der der Erzähler als Krönung den Vater des Gegenübers auftreten lässt. Wunderbar ist die die Geschichte vom Mann, der die Siebenmeilenstiefel bekommt, deren Benutzung aber immer wieder aufschiebt, bis er schließlich seine letzte Reise damit antritt. Der verschüttete Keller ist ein hochpoetisches Trinkermärchen, Nicotiana ein recht skurriles Rauchermärchen.

Das ganze Buch: eine verzauberte, sprachschöne Märchen-Auszeit.