Mittwoch, 27. Dezember 2017

Elena Ferrante: Meine geniale Freundin

Immer wieder sind in sozialen Netzwerken Posts zu lesen à la: Wir Kinder der guten alten Zeit, haben uns die Knie aufgeschürft, sind Fahrrad ohne Helm gefahren, haben was weiß ich getan, ohne behütet zu werden - und es hat uns nicht geschadet.

Blablabla. Wie diese "gute alte Zeit" ausgesehen haben könnte, ist in diesem Buch zu lesen:

"Wir lebten in einer Welt, in der Kinder und Erwachsene sich häufig verletzten. Die Wunden bluteten, vereiterten und manchmal starb jemand daran." Ein Mädchen verletzt sich an einem Nagel und stirbt an Tetanus,  ein Junge will Trümmer wegräumen und wird zerquetscht, "das Blut lief ihm aus Mund und Ohren", ein Viertklässler findet eine Bombe, fasst sie an und stirbt, ein Arbeiter fällt von einem Hochhaus und stirbt, Kinder sterben an Krupp und Tuberkulose, Jugendliche werfen mit Steinen und Feuerwerkskörpern aufeinander.

Im ersten Teil ihres vierbändigen Romanzyklus lässt Ferrante die 66-jährige Schriftstellerin Elena Greco von ihrer Kindheit und Jugend im neapolitanischen Arbeiterviertel Rione erzählen. Nichts ist hier romantisch, hier wird gekämpft, beneidet, belästigt, vergewaltigt, Rache genommen, ausgebeutet, unterdrückt und getötet.

Elena, die Tochter eines Pförtners, und ihre beste Freundin Lila, die Tochter des Schusters, wollen hier raus. Das verbindet sie. Ansonsten sind sie sehr, sehr unterschiedlich. Elena lernt von früh bis spät, besucht das Gymnasium, sehnt sich nach einer anderen Welt als dem schmutzigen Rione.Lila, eigentlich die Begabtere, Aufgewecktere, Listigere - und wohl auch Attraktivere - würde auch gerne die höhere Schule besuchen. Doch als sie das ihrem Vater beibringen will, wirft sie dieser aus dem Fenster.  Sie begräbt ihre Träume, will nur noch reich werden - und zwar mithilfe einer reichen Hochzeit. Doch ihr selbst schwant, das das nicht gut gehen wird.


Elena ist seltsam abhängig von Lila, Sie definiert ihr eigenes Sein über die Freundin. Sie lässt ihre Puppe das gleiche sagen, was zuvor die Puppe der Freundin gesagt hat. Ist Lila in der Grundschule Klassenbeste, so setzt Elena alles daran, ebenfalls schulische Erfolge zu erzielen. Hat Lila einen Verlobten, so erlaubt auch Elena einem Jungen, sie anzufassen.

Glücklich ist keine der beiden. Das weiß der Leser, der Elenas Gefühle bis ins kleinste mitgeteilt bekommt, Lilas Gefühle aber durch den seltsamen Filter dessen, was ihre "geniale Freundin" über sie denkt, ahnen muss.


Aufgrund seiner psychologischen Dichte ist der Roman, der tief schürft und in die Tragödien ganzer Sippen hinabtaucht, nicht leicht zu lesen. Das muss man mögen, kann man aber aber auch.

Montag, 27. November 2017

Manfred Flügge: Die vier Leben der Marta Feuchtwanger


Diese Biografie widmet sich Marta Feuchtwanger. Im Klappentext heißt es, sie sei "Muse, Grand Dame, Ikone des deutschen Exils" und eine der "großen Dichterfrauen des 20. Jahrhunderts" gewesen. Ohne Zweifel, diese Frau hat viel mitgemacht: Zwei Weltkriege, Internierung, Flucht, Exil, ihr einziges Kind starb kurz nach der Geburt, dazu musste sie einen unmöglichen Ehemann ertragen. Im Verlauf dieses Buches wird aber klar: Marta war vor allem anderen die Ehegattin an der Seite des Schriftstellers Lion Feuchtwanger („Erfolg“, „Jud Süß“, „Die Jüdin von Toledo“).

Im Buch heißt es: "Fast fünfzig Jahre hatte sie Lion bemuttert (...) Sie war von ihm abhängig gewesen, sein Erfolg, seine Geltung, seine internationalen Verbindungen hatten auch ihr Dasein bestimmt (...)." Alles, was von Marta geblieben ist, hat Bezug zu Lion Feuchtwanger. Natürlich hatte sie ihr Reich, das Haus und den Garten (nach dem Umzug aus München zuerst in Berlin, dann in Sanary sur Mer, dann in Pacific Palisades), sie hatte ihre Hobbies wie den Skisport und die Gymnastik, war emanzipiert, aber nicht unabhängig. Sie besaß keinen Beruf und keine eigenständige Existenz - das ist ihr weiß Gott nicht vorzuwerfen. Eine Lebensbeschreibung Marta Feuchtwangers ist aber deshalb weniger interessant aus dem Standpunkt, was sie geschaffen hat, sondern danach, was sie miterleben musste.

"Das Schicksal dieser Frau, die unter so vielen Autoren lebte, aber selbst nicht schrieb, war es, alle Erfahrungen zu berühren, die ihr Jahrhundert bereithielt, die schlimmsten wie die besten", schreibt Flügge. Letzte Station des Feuchtwanger-Exils war, als die Nazis Europa völlig überrannt hatten, eine mondäne Villa in Pacific Palisades an der Küste Kaliforniens. Cellist Mstislav Rostropowitch war zu Gast und gab ein Privatkonzert, viele weitere Größen aus Kunst und Kultur gingen bei Feuchtwangers und ein. "Bei den Leseabend trat Marta als hilfreiche und diskrete Gastgeberin in Erscheinung." So viel zu ihrer Bedeutung: Diskret und wichtig, aber im Hintergrund.

Der Leser erfährt in jedem Fall eine Menge über die literarische Bedeutung Lion Feuchtwangers, der als  jüdische Existenzen in seinem von Aktualität geprägten Werk - besonders im Moment der Katastrophe - literarisch verewigt hat. Privat, so wird deutlich, war er ein Erotomane, der ständig mehrere Affären gleichzeitig hatte, seine Sexpartnerin teilweise täglich wechselte, dazu regelmäßig  ins Bordell ging, was er wiederum minutiös in seinem Tagebuch aufzeichnete. Ein zwanghafter Charakter, so scheint es. Marta, das legt zumindest diese Biografie nahe, ist darüber hinweg gegangen.

Sie war - das zeigen Fotos - eine rätselhafte Schönheit, auch wenn sie selbst das bewusst herunterspielte. "Sie fand, sie habe einen Eidechsenkopf und ihr Mund sei zu groß. (...) Ihr Kopf war rundlich, fast oval und wurde durch das meist nach hinten gelegte Haar noch betont."

Schließlich bleibt noch etwas zum Stil dieser Biografie anzumerken. Er ist eigenwillig, fast drollig. Er erinnert manchmal ungewollt an den genialen Kinderbuchautor Janosch, etwa hier:

"In Pompeji wollte sie nicht die obszön bemalten Wände antiker Bordelle sehen. Mit Lion allein hätte sie es getan, aber nicht mit einem fremden Führer. Lion kannte das alles schon aus Büchern. Er kannte auch, aus eigener Anschauen, die modernen Hetären und deren Welt. In Amalfi nahm Marta das erste Meerbad ihres Lebens. Die nächsten sechzig Jahre wurde dies eines ihrer Hauptvergnügen. Als sie nach Lions weggewehter Brille tauchte, wäre sie beinahe ertrunken."

Der Autor ergreift mitunter Partei, mischt sich manchmal mehr ein, als es bei Lesen angenehm ist. "Er war halt doch ein altes Rabenaas", urteilt er über Lion Feuchtwanger. Von Feuchtwangers Weggefährten Bertolt Brecht, an dessen Charakter Flügge kein gutes Haar lässt, ganz zu schweigen.

Samstag, 18. November 2017

Walter Moers: Prinzessin Insomnia und der alptraumfarbene Nachtmahr

"Dazu waren die Geschichten auch zu läppisch (...) wir griffen beide zu Routinetricks, erzählten alte Geschichten in neuen Variationen, knüpften gegenseitig an Geschichten des anderen an, traten erzählerisch auf der Stelle (...)."

Das ist kein Zitat aus Moers' neuem Roman Prizessin Insomnia und der alptraumfarbene Nachtmahr, sondern aus seinem bahnbrechenden Klassiker der deutschen Literatur Die 13 1/2 Leben des Käpt'n Blaubär von 1999. Es beschreibt, was im legendären Lügenduell zu Atlantis passiert, wenn beide Kontrahenten gezwungen sind, weiterzuerzählen, auch wenn ihnen nicht mehr das geringste einfällt. So wie es leider in diesem neuen Zamonien-Roman der Fall ist.

Prinzessin Dylia leidet an Schlaflosigkeit. Aber eigentlich ist es kein Leiden. Sie empfindet die Stunden, in denen sie vom Lärm des Tages verschont bleibt, wie "Urlaub von allem Unnötigen", denkt sich Pfauenwörter aus und erfindet unnütze Dinge in Regenbogenfarben. Da steht auf einmal ein Wesen vor ihr, das aussieht wie ein verschimmelter, blauer Blumenkohl. Havarius Opal heißt es und ist ein Nachtmahr. Mit dem Ziel, Dylia in den Wahnsinn zu treiben, nimmt Havarius die Prinzessin mit auf die Reise durch ihr eigenes Gehirn durch die Große Fissur,  schließlich in die Amygdala, wo die Angst zu Hause ist. Dylia erfährt dabei, dass das Träumen ein sechster Sinn ist und dass es sogar ein eigenes Traumiversum gibt.


Erwähnenswert sind die kunterbunten Illustrationen der jungen Lydia Rohde, deren Schicksal - sie leidet am chronischen Erschöpfungssyndrom - Moers zu diesem Buch inspiriert hat. Das ist aller Ehren wert. Aber so schablonenhaft und lustlos erzählt wie diese Hirn-Reise ist, eine solch eintönige Aneinanderreihung lascher Einfälle, Wiederholungen noch und nöcher, keinerlei dramatische Höhepunkte.... tja, soll man sagen: einschläfernd?


Natürlich geht Moers wieder unendlich liebevoll mit der deutschen Sprache um und erschafft wunderbare Begriffe wie das Niemalsweh - die Sehnsucht nach einem Ort, den man nie gelangen wird, weil er nicht oder nur in der Fantasie existiert. Leider sind aber diese Spielerein recht zusammenhanglos oder aufzählungsahft eingestreut. Sprachakrobatik alleine reicht eben nicht, wenn einem die Ideen ausgegangen sind, pardon, wenn einen das Orm verlassen hat.

Mittwoch, 18. Oktober 2017

Guillaume Musso: La fille de papier

Tja, was soll ich sagen? Ich habe dieses Buch leider in einem Hotelzimmer vergessen, nachdem ich 150 Seiten gelesen hatte. Das ist ärgerlich, weil es sich spannend las und die Erwartung weckte, noch spannender zu werden.

Ein erfolgreicher Autor von Romanen über Engel ist nach einer gescheiterten Beziehung aus dem Tritt geraten. Der lange angekündigte dritte Teil seiner Trilogie, den er schreiben muss, um den wirtschaftlichen Bankrott zu vermeiden, will ihm einfach nicht von der Hand gehen. Da tritt auf einmal eine Nebenfigur aus seinen Romanen in sein Leben: Sie steht einfach splitternackt auf seiner Terrassse.

Als ihn seine Freunde dann zu einer Therapie bringen (sie glauben ihm die Geschichte mit der leibhaftigen Romanfigur nicht), hört der Roman schlagartig auf. Zumindest für mich. Vielleicht habe ich irgendwann die Gelegenheit, ihn fertig zu lesen. Lohnt sich bestimmt.

Donnerstag, 21. September 2017

Charles Foster: Der Geschmack von Laub und Erde

Klar, so etwas macht nur ein Engländer. Charles Foster, Tierarzt, Anwalt, Ethikprofessor, Schriftsteller und Reisender, beschreibt in diesem Buch minutiös, wie er mit seinem achtjährigen Sohn Tage und Nächte in einem Erdhügel verbrachte, wie er auf Regenwürmern herumkaute, sich nackt in einem Hinterhof zusammenrollte wie ein Fuchs und im Fluss nach lebendigen Fischen schnappte. Um Tieren so nahe zu kommen wie noch keiner zuvor, versuchte Foster genauso zu leben wie Dachs, Otter, Fuchs, Rothirsch und Mauersegler.

Das Ganze dann höchst unterhaltsam zu erzählen und bei allem philosophischen Tiefgang selbstironisch zu sein - genau dann die Luft rauszulassen, wenn es zu pathetisch wird -, das kann ebenfalls nur ein Engländer. Wie fühlen Tiere, können wir überhaupt etwas über sie herausfinden? Leben wir in der selben Welt wie die Tiere? Was wissen wir überhaupt über uns Menschen? Können wir mit Tieren kommunizieren, können wir mit Menschen kommunizieren? Können wir etwas anderes sein als ein Mensch? Was unterscheidet uns von den Tieren? Gibt es etwas, das jeden von uns besonders macht?

Es macht eine Menge Spaß, über diese existenziellen Fragen nachzudenken, während man über Fosters groß angelegte "Tier-Versuche" liest. Der Ekel und das Belächeln weichen der Bewunderung - vor allem auch für Fosters fabelhafte Art, zu schreiben.

Mittwoch, 30. August 2017

Werner Bergengruen: E.T.A. Hoffmann

"...ich habe jetzt wirklich Wichtigeres zu lesen, als mich mit der doch etwas verstaubten Prosa Bergengruens noch einmal zu beschäftigen", schrieb Marcel Reich-Ranicki 2006 unnachahmlich in der FAZ. Verstaubt ist sie wirklich, die Sprache Bergengruens, andererseits ist eine Schriftsteller-Biographie, von einem anderen Schriftsteller verfasst, immer etwas Lesenswertes - weil sie den Blick auf gleich zwei Literaten erlaubt. Hinzu kommt mein besonderes Interesse an E.T.A. Hoffmann, das mich eigentlich alles lesen lässt, was vom oder über den großen Romantiker geschrieben wurde.

1939 hat der Balte Werner Bergengruen den 116 Jahre vor ihm in Königsberg geborenen Hoffmann porträtiert. Tatsächlich mutet seine Sprache verstaubt und behäbig an, aber auch schon wieder so sehr aus der Zeit gefallen, dass es den Leser in eine angenehm ferne, exotische Welt versetzt. "Der Oweh-Onkel war nicht ohne eine gewisse leblose Gutmütigkeit, vor allem aber ein beschränkter und hypochondrischer Pedant, dessen Lebenslauf sich nach dem Uhrenschlage richtete, und in die Mechanik dieses Ablaufs spannte er in wohlmeinender Unbarmherzigkeit auch den Neffen ein." So beschreibt Bergengruen Hoffmanns Onkel Otto.

Das Büchlein beleuchtet auf knapp 100 Seiten kurz und bündig die Lebensstationen Hoffmanns, als Student in Königsberg, Beamter in Polen, Kapellmeister in Bamberg, Musikdirektor in Leipzig und Dresden, schließlich Kammergerichtsrat in Berlin, die lebenslange Freundschaft zum biederen Theodor Hippel, die verrückte Liebe zu seiner 20 Jahre jüngeren Gesangsschülerin Julia Marc in Bamberg und die wahnsinnigen Nächte mit Ludwig Devrient im Weinhaus Lutter und Wegner.

Bergengruens Kunstgriff ist, dass er Hoffmann anhand von dessen Roman- und Novellenfiguren charakterisiert. Das ist sicher nicht ganz redlich, aber im Sinne einer literarischen Biografie durchaus unterhaltsam und anregend.

Bergengruen hält sich mit seinem eigenen Urteil über den von ihm verehrten Hoffmann und seine Literatur nicht zurück. Das ist, besonders, wo er ihn kritisiert, wert, zitiert zu werden, weil es Einblick auch auch in Bergengruens Denkwelt gibt:

"Gepackt von einem Einfall, beginnt er zu schreiben, ohne sich Gedanken zu machen, wie es weitergehen soll. Daher das Ungleichmäßige, das Nichtdurchkomponierte, das Fragmentarische gerade seiner herrlichsten Schöpfungen, daher die Schwäche der zweiten Teile, in denen ein meisterhaft geschürzter Knoten oft eine unfreudige und trockne Auflösung erfährt. (...) Von seinen Visionen gejagt, schreibt er schnell und flüchtig. (...) Oft unterlaufen ihm Ungeschicklichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten; hiermit ist nicht das Außergewöhnliche, Übernatürliche, Spukige gemeint - denn dies ist bei Hoffmann immer wahrscheinlich! -, aber das Erzählerisch Unglaubwürdige oder das unzureichend Motivierte."



Montag, 31. Juli 2017

Hanns Arens: Unsterbliches München

"Streifzüge durch 200 Jahre literarischen Lebens der Stadt" heißt dieses fast 850-seitige Kompendium, das im Jahr 1968 erschienen ist. Und es ist wirklich komplett. Nichts, was sich in Sachen Literatur in diesen 200 Jahren in München abgespielt hat, lässt der Autor aus.

Zu ihrem Recht kommen natürlich die großen Wahl-Münchner Thomas Mann, Rainer Maria Rilke, Stefan George, Frank Wedekind, Lion Feuchtwanger, der Literatur-Nobelpreisträger Paul Heyse - seinerzeit sehr beliebt, heute kaum noch der Rede wert -, Bert Brecht, Joachim Ringelnatz und Erich Kästner. Bayerns Heimatromancier Nummer 1, Ludwig Ganghofer, ist ebenso auf vielen Seiten gewürdigt wie Humor-Philosoph Karl Valentin und die auf verlorenem Posten um deutsch-französische Verständigung kämpfende Annette Kolb.

Es fehlt nichts. Es scheint, als hätte der Autor (er taucht immer wieder selbst mit seinen Erlebnissen auf und nennt sich dann "Der Chronist") vollständig sämtliche Zeugnisse, Tagebuchnotizen, Zeitungsartikel und Erinnerungsbücher zusammengetragen, um auch kürzeste Aufenthalte bedeutender Schriftstellerinnen und Schriftsteller an der Isar zu dokumentieren. Wer wüsste schon, dass Knut Hamsun, Franz Kafka, Wilhelm Busch,
Heinrich Heine und Henrik Ibsen in München weilten?

Leider doppelt sich vieles. Und der damals vielleicht noch übliche Plauderton, der vielen jungen Schriftstellern "jugendlichen Leichtsinn" unterstellt und ähnliche altkluge Einordnungen und Bewertungen vornimmt, ist die Kröte, die der Leser für diese geballte Ladung Information schlucken muss.

Sonntag, 4. Juni 2017

Penelope Fitzgerald: Die Buchhandlung

Dieser hervorragende Roman, 1978 erschienen, 2000 in deutscher Übersetzung, ist kalt, grau, strähnig und zerfasert. So wie der Himmel über dem verlassenen und abgeschnittenen ostenglischen Küstendorf Hardborough. Die Witwe Florence Green kauft hier 1959 ein feuchtes Spukhaus am Meer, um die erste Buchhandlung am Ort zu eröffnen.

Was es hier gibt, sind nasse Gummistiefel, Neid, traumloser Schlaf, Schweigen, geheime Absprachen, bedrückende Geheimnisse, ängstliche Bankangestellte, intrigante Verklemmte, Verhärmte. Alle sind unfassbar einsam, auch der rückgratlose BBC-Reporter, auch das altkluge, berechnendes und doch hilflose zehnjährigs Mädchen Christine, auch die ebenso reiche wie ehrsüchtige und niveaulose Dorfschnepfe, die Intrigen spinnt.

Dass es an diesem trostlosen Ort Platz für eine Buchhandlung gibt, ist schwer vorstellbar. Penelope Fitzgerald zeigt aber in meisterhaft lakonischem Stil, dass alles noch viel, viel niederschmetternder ist. Hoffnung? Fehlanzeige. Mitgefühl? Hilfsbereitschaft? Nichts.  Nichts durchdringen, nichts verstehen. Der einsame, alte Mr Brundish, der einer ältesten Familien Suffolks entstammt und zu Florence auf seine eigenbrötlerische Weise minimalen Kontakt herstellt, sagt: "Verstehen macht denkfaul." Vieles bleibt im Vagen, ein Happy End gibt es höchstens für die Bösartigen.

Bösartig sind Hardboroughs Einwohner eigentlich durchweg. Misstrauisch, geldgierig, stumpf. Florence wiederum ist unfassbar gutgläubig, unerfahren in geschäftlichen Dingen, dabei stur und dumm. Mitleid kommt nicht auf. Fühlt sie etwas? Liebt sie Bücher? Liest sie? Warum nimmt sie das Wagnis auf sich? Liebt sie das Meer, die Einsamkeit, den rauen Wind? Möchte sie das Leben noch einmal richtig spüren? All das bleibt verwaschen. Florence ist seltsam apathisch. Auch am Schluss, als sie geschlagen davonzieht und die Felder "überall, zu beiden Seiten der Straße unter schimmerndem Wasser" stehen.

Sonntag, 28. Mai 2017

Reinhard Horowski: Hölderlin war nicht verrückt

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Die letzten 36 Jahre seines Lebens vegetierte Friedrich Hölderlin (1777-1843) nervlich und geistig zerrüttet in einem Turm am Tübinger Neckarufer. Der Literat, dessen Briefroman „Hyperion“ zu den Klassikern der deutschen Literatur zählt, hatte eine Odyssee hinter sich, als er im Alter von 36 Jahren zusammenbrach. Kindheit in Nürtingen, verschiedene evangelische Internate und Bildungsstätten, Anstellungen als Hauslehrer, schließlich die unglückliche Liebe zur verheirateten Susette Gontard, deren jäher Tod ihn bestürzte.

Gegen seinen Willen wurde Hölderlin ins Authenriedsche Klinikum Tübingen eingeliefert. Nach achtmonatiger Behandlung gaben ihn die Ärzte auf. Zum Glück nahm sich der Tübinger Schreinermeister Ernst Zimmer des Poeten an und ließ ihn bis bis zu seinem Tod im Alter von 73 Jahren in seinem Turm wohnen.

Während der letzten Jahrzehnte war Hölderlin ein Schatten seiner selbst: Menschenscheu tigerte er vor dem Turm auf und ab, er schrieb Zusammenhangloses, redete wirr, benutzte Fantasiewörter wie „pallaksch“, titulierte Besucher mit „Majestät“ und „Heiligkeit“. Davon berichteten Literaten und andere Neugierige, die den „wahnsinnigen Dichter“ – so kannte ihn ganz Tübingen – besuchten.

Mit dem Mythos vom „genialen Irren“ will der Pharmakologe Reinhard Horoswki in seiner neu erschienenen Streitschrift „Hölderlin war nicht verrückt“ aufräumen. Er widerspricht der Annahme, die Psychiater bis heute vertreten: der Dichter sei schizophren gewesen. Teils folgt Horowski dem französischen Germanisten Pierre Berthaux, der vermutete, Hölderlin habe als republikanischer Revolutionär seine psychische Erkrankung nur vorgetäuscht, um einer Verfolgung zu entgehen. Aber auch Hölderlins Mutter, die er als geldgierig beschreibt, trägt für Horowski Schuld, dass der Literat als unzurechnungsfähig eingestuft wurde: Sonst hätte sie einen Teil der Stipendien zurückzahlen müssen. Für Verhaltensstörungen, Mattheit und Konzentrationsschwäche des späten Hölderlin findet Horowski indes eine Erklärung: Der Dichter sei im Authenriethschen Klinikum mit einer Überdosis Kalomel fehlmedikamentiert und somit vergiftet worden.

Horowskis Buch trägt Züge einer polemischen Abrechnung mit der Psychiatrie und schießt in seinem pauschalen Urteil gegen einen ganzen Berufsstand mitunter über das Ziel hinaus. Andererseits ist dem Autor eine höchst unterhaltsame und kenntnisreiche Auseinandersetzung mit Leben, Umfeld, literarischer Bedeutung und Wirkung Hölderlins gelungen.

Zeitgleich ist im Tübinger Verlag Klöpfer & Meyer eine Neuauflage des Werks erschienen, das den Mythos vom „wahnsinnigen Dichter“ mitbegründete. Schriftsteller Wilhelm Waiblinger, der Theologiestudent in Tübingen war, ehe er des Evangelischen Stifts wegen Verstößen gegen die Hausordnung verwiesen wurde und nach Rom zog, wo er 1830 mit nur 25 Jahren an den Folgen einer Syphillis starb, legte 1827 die erste Hölderlin-Biografie vor.

In „Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinnn“ schilderte Waiblinger, der Hölderlin vier Jahre lang besuchte und sich liebevoll ihn kümmerte, wie sich der Umnachtete von der Realität entfernte, keinen Gedanken mehr festhalten konnte und den Zugang zur Außenwelt verlor. „Hölderlin schüttelt mich“, schrieb Waiblinger. Ob der jüngere Autor, der sich dem Hyperion-Dichter seelenverwandt fühlte, jedoch als absolut verlässliche Quelle für die Hölderlin-Forschung dienen kann, bezweilfelt Kurt Oesterle in seinem lesenswerten Vorwort: Zu sehr habe Waiblinger eigene Charakterschwächen wie den übergroßen Ehrgeiz auf Hölderlin projiziert. Der mit Tagebucheinträgen, Briefen und Wabilingers Gedicht „An Hölderlin“ ergänzte Band ist dennoch geeignet, einem der größten literarischen Genies auf die Spur zu kommen.

Reinhard Horowski: Hölderlin war nicht verrückt. Streitschrift. Klöpfer & Meyer, Tübingen. 192 Seiten. 20 Euro.

Wilhelm Waiblinger: Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn. Mit einer Einleitung von Kurt Oesterle. Klöpfer & Meyer, Tübingen. 120 Seiten. 18 Euro.


Erschienen in Schwäbische Zeitung, Mai 2017.

Dienstag, 9. Mai 2017

Sabine Vöhringer: Die Montez-Juwelen

In der feinen Münchner Einkaufspassage Hofstatt in der Sendlinger Straße stellt ein Juwelier ein atemberaubendes Juwelencollier samt Ohrringen und Armband vor. Der Schmuck soll einst Lola Montez, der sagenumwobenen Geliebten König Ludwigs I., gehört haben. 

Am nächsten Morgen wird ein Drogendealer aus Sri Lanka tot im Fischbrunnen auf dem Marienplatz gefunden. Die Juwelen verschwinden und die Restaurantleiterin des nahen "Hackerhauses" wird entführt. Kommissar Tom Perlinger muss sich bei seinen Ermittlungen durch einen Sumpf aus Familienstreitigkeiten und Inzest, Kunstfälschung und ungeklärten Besitzansprüchen verschollener jüdischer Erben, Immobilienschiebereien und Verrat kämpfen. Ein schmieriger Wiesn-Wirt und seine Entourage spielen eine undurchsichtige Rolle.

Die Autorin verfügt über die Gabe, Personen alleine durch ihre Kleidung ziemlich treffend zu charakterisieren:

„...die Kostümjacke umhüllte sie steif wie eine Teppichrolle...“

„...Jakobs kloßartige Figur, die in einen semmelfarbenen Leinenjanker gehüllt war...“

„Jessica vermutete, dass er abends um neun zu Bett ging, besser gesagt, sich mit Anzug, geschlossenem Hemdkragen, straff gebundenem Krawattenknoten, gefalteten Händen und brettsteif in eine Art Kühltruhe legte, um morgens frisch aufgetaut, mit jedem seiner drei Härchen an der richtigen Stelle, seinen Dienst anzutreten...“

Wer München kennt, freut sich über das Wiedersehen mit vielen vertrauten Orten, Typen und Gepflogenheiten. Und nicht zuletzt hat hier endlich einmal eine Partie Schafkopf Eingang in die Krimiliteratur gefunden.

Sonntag, 9. April 2017

Jella Lepman: Die Kinderbuchbrücke

Eine Ausstellung der besten Kinderbücher aus aller Welt -  ist es wirklich das, was die Menschen im zerbombten, ausgehungerten Deutschland des Jahres 1945 am dringendsten brauchen? Wer Bücher liebt und ihre Macht kennt, die Welt umzukrempeln, weiß, dass sich Jella Lepman genau das Richtige in den Kopf gesetzt hatte.

In ihrer 1964 erschienenen Autobiografie "Die Kinderbuchbrücke" beschreibt die Journalistin (1891-1970) ihre Rückkehr nach Deutschland, von wo aus sie als Jüdin einst nach England emigrieren musste. Nun soll sie sich als Angehörige der US Army  mit Offiziersrang verantwortlich um die Re-Education der deutschen Frauen und Kinder kümmern.

Vom US-Hauptquartier in Bad Homburg aus bereist sie zerstörte Städte, erschrickt über den trostlosen Zustand ihrer Heimat Stuttgart. Vor allem die Lage der  Kinder entsetzt sie.

"Die Geschichten, die sie erzählten, sachlich und unbewegt, die Erlebnisse, von denen sie berichteten: Erhängen, Erschießen, Mord, Raub, Verbrechen der niedrigsten Art, nichts war ihnen verborgen geblieben. Trotzdem waren ihre Augen Kinderaugen geblieben, das war das Wunderbare, kaum zu Fassende."
 
Vor allem eine Idee treibt sie um:

"Als eine der Hauptmaßnahmen schlug ich eine Ausstellung der besten Kinder- und Jugendbücher verschiedener Nationen vor. ,Lassen Sie uns bei den Kindern anfangen, um diese gänzlich verwirrte Welt langsam wieder ins Lot zu bringen. Die Kinder werden den Erwachsenen den Weg zeigen.'"

Viele lassen sich begeistern, aber das Geld für eine solche Unternehmung fehlt. So geht Jella Lepman auf Bücher-Betteltour - unter anderem bei Verlagen und ausländischen Regierungen. Schließlich steigt die Ausstellung tatsächlich im Münchner Haus der Kunst, weitere deutschen Großstädten folgen.

In München hebt Jella Lepman eine einzigartige internationale Jugendbibliothek aus der Taufe, die bis heute besteht. Unglaublich, was sie im Nachkriegs-München alles anleiert: Eine von ihrem Weggefährten Erich Kästner geleitete Kinder-Theatergruppe, eine Kinder-UN, ein Buchrezensentenclub für Jugendliche und unendlich viel mehr. Jella Lepman sprüht vor Ideen, lässt sich von den Kindern anstecken und steckt wiederum diese mit ihrem Tatendrang an.

Nicht nur ein spannendes Stück Zeitgeschichte, sondern auch ein mit witzigen Anekdoten gespicktes Lesebuch. Jella Lepmann erzählt amüsant und scharfsinnig, wie sie (meist) Männern auf den Zahn fühlt, niemals locker lässt und dabei sehr oft erreicht, wovon sie träumt. Das macht allen Weltverbesserern Mut.

Freitag, 24. März 2017

Navid Kermani: Ungläubiges Staunen über das Christentum

Der deutsch-iranische Autor Navid Kermani, Muslim, hat sich in dieser Essaysammlung von 2015 dem Christentum genähert. Er selbst beschreibt das Buch als "eine frei assoziierende Meditation - ein Staunen eben - über vierzig Bilder und Begriffe, Heilige und Rituale". Neugierig, ernsthaft, fasziniert, interessiert, kenntnisreich und mit großer Sympathie vertieft sich der Autor in Gemälde von El Greco, Botticelli, Caravaggio, Rembrandt und anderen, betrachtet Darstellungen von Jesus und Maria, biblischer Gestalten und der Heiligen, sieht sich in Rom, Köln und dem Kosovo um, um den Wesenskern des christlichen Denkens und Glaubens herauszukitzeln.

Er tut es auf eine sehr persönliche, poetische und mystische Art, versinkt gleichsam in den Bildnissen und seinen Betrachtungen. Immer wieder bezieht er dabei den Islam mit ein, vor allem identifiziert er sich in seiner Sichtweise mit den spirituell-mystisch orientierten Sufis, "die ihre Texte mit erotischen Signalen spickten" und Jesus als "Geliebten" verehren. Dem in seinem Augen unerotischen Protestantismus kann Kermani weniger bis nichts abgewinnen. Das Ganze ist kölsch-katholisch-gewitzt, sprachlich geschliffen, oft ironisch, teils auch sehr flapsig (aber immer originell). Aposteldarstellungen auf einer Monstranz werden mit Tippkick-Spielern verglichen, das Jesuskind als Rotzlöffel bezeichnet. Und wozu möchte Maria auf dem Bildnis Pietro Peruginos den heiligen Bernhard verführen? "Ja, bumsen, nichts anderes". Aber das klingt respektloser, als es ist. 

Unter den Persönlichkeiten, denen sich Kermani besonders verbunden fühlt, ist Franziskus von Assisi, der sich bereits um Verständigung mit dem Islam bemüht habe. Oder aber der italienische Jesuitenpater Paolo D'All Oglio, der ein syrisches Kloster wiederaufbaute, den Islam liebte und einen Dialog der Religionen praktizierte. Heute ist D'All Oglios Schicksal ungewiss, seitdem er im Juli 2013 vom IS gekidnappt wurde. 

 Schöner als in manchen seiner Texte kann man über christliche Religion nicht schreiben. Vor allem, weil Kermani erfasst, was der Wesenskern des Christentums ist: die Liebe. Liebe, die keinen Unterschied macht. 

Dienstag, 21. März 2017

Benedict Wells: Vom Ende der Einsamkeit

"Das Gegengift zu Einsamkeit ist nicht das wahllose Zusammensein mit irgendwelchen Leuten. Das Gegengift zu Einsamkeit ist Geborgenheit."

Drei Geschwister, die früh beide Eltern bei einem Autounfall verloren haben, versuchen, jedes auf seine eigene Weise, der Einsamkeit zu entkommen.

Erzählt wird die Familiengeschichte von Jules, dem "Erinnerer und Bewahrer", der nach dem frühen Verlust im Internat keinen Anschluss findet, sich aus  Verpflichtungsgefühl seinem Vater gegenüber erfolglos als Fotograf versucht, ein Studium abbricht und ohne große Freude bei einem Musiklabel arbeitet.

Der dann über viele Umwege seine große Liebe aus Internatszeiten wieder gewinnt - und verliert. Halt findet er im Schreiben und in der Sorge um seine beiden Kinder, die ihm den Spiegel vorhalten und seine gegensätzlichen Wesenszüge verkörpern: ängstlich und mutig.

Jules' älterer Bruder Marty, im Internat ein verschrobener Nerd mit fettigen Haaren, später erfolgreicher Computerunternehmer, führt eine ungewollt kinderlose Ehe in einem viel zu großen Haus und wird seine Zwangsneurose ein Leben lang nicht los.

Die Schwester Liz schließlich flüchtete vor der Realität in Rausch und Affären. Den Zauberer Toni, ebenfalls ein Internatsfreund, der sie vergöttert und nie aufgibt, lässt sie nicht völlig an sich heran.

Diese traurige Geschichte ist stimmig und einfühlsam erzählt. Manchmal kommt sich recht bedeutungsschwer daher. Das bringt dann auch ungelenk pathetische Sätze wie den oben zitierten mit sich, oder:

"Wie so oft, wenn sich ein Schauspiel in der Natur mit meine Sehnsüchten und Erinnerungen verband, spürte ich ein leichtes Ziehen in der Magengrube."

Ansonsten ist das sehr, sehr schöne Literatur. Ein Roman wie ein lange vergessenes und wieder entdecktes Familienalbum, in das Seiten herausgerissen und nachträglich wieder hineingeklebt wurden und in dem einige Fotos lose sind. Das Leben ist kein Nullsummenspiel, sondern ein Kommen und Gehen. Soundtrack und Hintergrundrauschen zu dieser nachdenklichen Suche nach Geborgenheit liefern Nick Drake und Paolo Conte, Nabokov, Hemingway und Carson McCullers.

Sonntag, 19. Februar 2017

Neil Gaiman: Der Ozean am Ende der Straße

O Mann, das kostet Nerven! Hier bei den Hempstocks ist er erst mal sicher. Bloß nicht in die Hände dieser abscheulichen Ursula Monkton fallen, dieses sadistischen Kindermädchens, das in Wirklichkeit ein Floh ist, ein Wesen aus einer anderen Dimension, das er als Wurm in seiner Fußsohle hereingetragen hat.

Da hat der scheue, bücherverliebte Siebenjährige wirklich Glück, dass am Ende seiner Straße die drei Hempstocks in einem alten englischen Bauernhaus wohnen. Großmutter, Mutter und die elfjährige Lettie geben ihm Zuflucht vor dem bedrückenden Zuhause und dem verständnislosen Vater, der die Mutter mit dem gruseligen Kindermädchen betrügt.

Die Hempstocks besitzen hinter dem Haus einen Ozean, den Außenstehende als Ententeich betrachten würden. Sie sind gute Geister, Schicksalsgöttinnen, die mit Schere, Nadel und Faden Episoden aus der Zeit herausschneiden können. 

Was hier Realität ist, was Märchen, ist unerheblich, es geht ineinander über, die Hauptfigur kann es nicht steuern. Nur die Hempstocks können es. 

Der Erzähler dieses Romans erinnert sich an diese Abenteuer seiner Kindheit, als er, mittleren Alters, zu einer Beerdigung in seinen Heimatort zurückkehrt - nur um diese Abenteuer beim Verlassen sogleich wieder zu vergessen. Deren actionreiche Handlung an sich ist nicht besonders originell, sie folgt einem ziemlich einfach gestrickten Fantasy-Plot: Um ihren Freund vor den bösen Hungervögeln zu schützen und diese zurück in ihre Welt zu verbannen, opfert sich die mutige Lettie.

Aber das alles ist zauberhaft erzählt und spielt mit uralten Mythen und den großen Nachdenkereien des Leben. Der Möglichkeit, in die Kindheit zurückzukehren, als es noch um das große Ganze, die bedeutenden Fragen ging. Kann noch einmal alles so wie früher sein?

Poetisch ist die Stelle, als der Junge im Ozean untertaucht, vom Wasser umfangen wird, und auf einmal alles, alles, versteht. Er empfindet unendliches Glück und möchte ewig in diesem Zustand bleiben. Das gehe nicht, sagt ihm Lettie. Er würde sich auflösen und überall gleichzeitig existieren: "Von dir wäre nie genug an einem Ort, das von sich selbst als Ich denkt."

Dieses kuriose kleine Buch ist ein Kick für die Fantasie und lässt ein bisschen über die Welt, die Zeit und uns nachdenken.

Sonntag, 12. Februar 2017

Allard Schröder: Der Hydrograf

1913. Der Meereswissenschaftler Franz von Karsch reist auf dem Viermaster Posen nach Valparaíso. Um an Bord das Verhalten der Wellen, Seegang, Wind, Wogen und Strömungen zu erforschen, wie er seinen Mitreisenden erklärt. In Wahrheit aber, weil er flüchtet: vor einem eintönigen Leben als Privatdozent am Hamburger Ozeanografischen Institut, vor der drohenden Heirat mit seiner reizlosen Verlobten Agnes in der Heimat Pommern, vor der "schwermütigen pommerschen Erde, die auch im Sommer, wenn es heißt und trocken war, ein wenig faulig roch", vor der verstörenden Umklammerung durch seine Mutter, die Gräfin.

Der 32-jährige Karsch ist kein außergewöhnlicher Mensch. Er weiß das, und darum dreht sich dieses Buch. Er hat keinen Ehrgeiz, keinen Antrieb mehr, wenn er ihn denn je hatte. Beim Landgang in Lissabon trifft Karsch mit einem Portugiesen zusammen, der einen seltsamen Zettel hinterlässt:

"Ich bin nichts. Nie werde ich etwas sein. Ich kann nichts sein wollen. Aber davon abgesehen trage ich alle Träume der Welt in mir."

Karsch denkt sich: "Der erste Teil traf vielleicht auf ihn selbst zu, der zweite nicht, und das machte ihm zu schaffen."

Passagiere auf der Posen sind auch der hemdsärmelige Salpeterhändler Moser, der von einem neuen Zeitalter, in dem die gewöhnlichen Menschen die Macht übernehmen, träumt, und der humanistisch gebildete, nihilistisch philosophierende Gymnasiallehrer Todtleben. Beim beim Landgang in Rio de Janeiro wird Todtleben unter mysteriösen Umständen verhaftet. Wie sich herausstellen soll, wird er in Deutschland gesucht, wo er eine jungen Mann sexuell hörig gemacht und in den Tod getrieben haben soll-

"Moser hatte eine glühende Zukunftsvision, in der er uns seinesgleichen das Sagen haben würden, Todtleben suchte den Tod und dadurch umso mehr das Leben, Karsch suchte gar nichts."

In Lissabon kommt Asta Maris, die geheimnisvolle Schöne, mit einem riesigen Koffer, auf den ein großes M gemalt ist, an Bord. Ist sie Pianistin, Schauspielerin, Falschspielerin? Karsch kommt ihr näher - zu nahe. Es geht ihm auf: Nur hier, an Bord der Posen, kann er mit dieser ewig Reisenden und ihren dunklen Geheimnissen zusammen sein.

Ist sie das Meer?

Es gibt nichts zu hoffen, nichts zu träumen. Mehr und mehr reift in Karsch ein großes, schwarzes Nein heran.  Er will nicht länger begreifen, nicht daran verzweifeln, nichts zu suchen, Er umarmt den Tod. Die Reise hat ihn auch körperlich gezeichnet, er hat keine Vergangenheit, keine Zukunft mehr. Die Stadt Valparaíso wird in dem Roman nicht einmal gestreift. Karsch hat aufgegeben. "Reizt Sie das Meer nicht mehr?", fragt ihn Moser. 

Karsch kehrt heim, tritt ins Heer ein - den Militärdienst hatte ihm zuerst ein sogenannter Einsteher, ein Bauernbursche aus dem Dorf abgenommen - kämpft im Ersten Weltkrieg, sucht den Tod - und findet ihn später schließlich.

Der Kosmos Schiffsreise ist hier ebenso wie in Ondaatjes "Katzentisch" wunderbar elegant, leicht und verstörend zugleich eingefangen. Dieses 2002 im niederländischen Original erschienene und nun übersetzte Buch verzichtet fast komplett auf Städte- oder Landschaftsbeschreibungen, auch auf Beschreibungen des Meeres und porträtiert es doch auf faszinierende Weise:

"Es war keine Fläche mit Horizont und rauschenden Wogen - nein, das Meer war wie die Sonne, die an der Oberfläche zu kochen schien, als sei sie ein einziger großer Ozean, und die im Innern heiß und weiß war, so wie in den Tiefen des Meeres Kälte und Finsternis herrschte. Sonne und Meer waren tote Materie, die lebte. - ' Es ist nicht mein Meer', sagte Karsch, während er die Gardine vor das Bullauge schob."

Donnerstag, 9. Februar 2017

Ferienland Donau-Ries: Wandern

Einen liebevoll gestalteten kleinen Wanderführer hat der Verein Ferienland Donau-Ries jetzt herausgegeben. Detailliert und je auf einer Doppelseite sind in dieser Broschüre 16 Wanderungen zwischen dem Ipf im Westen und dem Altmühltal im Osten aufgeführt.

Knapp 15 Kilometer lang ist etwa der beschriebene Keltenweg. Er startet am ehemaligen Zisterzienserinnenkloster Kirchheim und führt über den Goldberg, durch das Osterholz, über Ipf und Blasienberg wieder zum Ausgangsopunkt. Der Schäferweg des „Geopark Ries“, der von Nördlingen über den Adlersberg, das Geotop Lindle, den Steinbruch Alte Bürg, die Oftnethöhlen mit Römischem Gutshof und Utzmemmingen zurück nach Nördlingen führt, ist ebenfalls ausführlich beschrieben. Weitere Wanderungen in allen Ecken des Rieses und im Donauwörther Raum machen das 40 Seiten starke Heft zu einem handlichen Wanderbegleiter.

Besonders nützlich sind die genauen Kartenausschnitte und die zahlreichen Infos: Zu jeder Wanderung sind Weglänge, Gehzeit, Parkmöglichkeiten (mit GPS-Koordinaten) und Höhenprofil angegeben. Lediglich die Einkehrmöglichkeiten – hier wird jeweils nur das betreffende Dorf genannt – hätten genauer erläutert werden können.

Die Broschüre ist ab sofort kostenlos in vielen Rathäusern erhältlich oder kann unter Telefon 0906 / 74-211 oder Mail info@ferienland-donau-ries.de angefordert werden. Außerdem kann sie unter www.ferienland-donau-ries.de heruntergeladen werden.


Erschienen in Ipf- und Jagst-Zeitung / Aalener Nachrichten, 8. Februar 2017

Donnerstag, 19. Januar 2017

Eduard Mörike: Maler Nolten

Eine Schatztruhe ist dieses umfangreiche Buch, Eduard Mörikes einziger Roman. Hier ist alles drin, was den Dichter auszeichnete: Mörikesche Ironie, Rätsel und Spielereien, gleichzeitig herrlich romantische Bilder und Klänge, ein Schuss Biedermeier - in diese Schublade wird der hintergründige Schwabe gerne ja so gerne gesteckt. Aber er passt nur insofern hinein, als er und ebenso seine Figuren unentwegt Sehnsucht nach dem bürgerlichen, piefigen Philisterleben empfinden. Das klappt aber nicht, im Gegenteil. In diesem Roman müssen sogar alle Protagonisten in jungen Jahren sterben. Die Art, in der Mörike in seine Figuren hineinblickt und an tiefe psychologische Einsichten und Wahrheiten rührt, erinnert an Arthur Schnitzlers Prosa fast 100 Jahre später.

Mörike verfassste den Künstlerroman "Maler Nolten" während seiner "Vikariatsknechtschaft", als der junge Geistliche von 1826 bis 1833 im Jahrestakt von einem Kaff auf der Schwäbischen Alb ins nächste versetzt wurde. Er fand keine Ruhe, keine Sicherheit, und träumte doch so sehr davon.

Die Handlung ist vertrackt, spielt sie sich doch größtenteils  im Innenleben der Personen ab und schlägt dennoch hohe Wellen im Äußeren. Der junge, begabte Maler Theobald Nolten, der dank der Verstrickungen eines unglücklichen Schicksals, aber auch durch sein eigenes Ungeschick Unheil über andere und sich selbst bringt, tritt in einem seltsamen Schwebezustand zwischen weltabgewandtem Schöngeist, unbedarftem Taugenichts und einzig Normalem in einer Gesellschaft der Verrückten in Erscheinung. Gegenpart ist die unheimliche, intrigante Zigeunerin Elisabeth. Sie zieht im Hintergrund die Fäden, ohne je groß in Erscheinung zu treten. 

Am Ende sind dann alle tot.  Elisabeth, die eigentlich Noltens Cousine ist. Der überdrehte und melancholische Schauspieler Larkens, der heimlich Briefe in Noltens Namen an dessen Verlobte Agnes schreibt und so eine eigentlich da acta gelegte Beziehung künstlich am Leben erhält. Das zutiefst schwermütige "Rätselwesen" Agnes selbst, zu der Nolten erst zurückkehrt, die aber, als er ihr vom eigentlichen Briefeschreiber beichtet, vollends dem Wahnsinn verfällt und sich in einen Brunnen stürzt. Noltens Geliebte, die Gräfin Constanze, der Larkens intrigant Noltens vermeintliche Briefe an Agnes zuspielt, um Constanze und Nolten von dieser Affäre abzubringen, und die im Zorn veranlasst, dass Nolten und Larkens für ein satirisches Theaterstück ins Gefängnis wandern. Auch Nolten selbst wird vom Schlag getroffen - er erschrickt zu Tode über den Anblick einer Geistergestalt.

Die einzigen beiden Überlebenden sind schließlich der alte Förster, Agnes' Vater, und der alte Hofrat, der in Wirklichkeit Noltens Onkel Friedrich ist und einst mit einer Zigeunerin das unheilvolle Mädchen Elisabeth gezeugt hatte.

Ganz Spätromantiker, fährt Mörike Schauplätze wie eine verfallene Burgruine, einen seit Jahrhunderten verwunschene Brunnen, eine behagliche Ofenbank, einen holzgetäfelten Rittersaal voller Wappenschilder und Waffen und erquickendes Wiesengrün auf. Und sehr viel Gefühl. Schonungslos blickt der Erzähler die Tiefe der menschlichen Seele, in der er keinen Trost findet. Empfindet der Künstler Nolten die Wirklichkeit mitunter als "mit einer Zaubertapete bedeckt", so kann die schwermütigen Figuren Agnes und Larkens - die hochsensibel auf kleinste Schwingungen reagieren - letztlich gar nichts mehr erfreuen. Typisch Mörike ist das ironisch Überzeichnete der Figuren und die Art, mit dem Leser zu spielen, ihm das Wesentliche beiläufig in Klammern zu servieren und ihn hinters Licht  zu führen.
  
Eingefügt als "phantasmagorisches Zwischenspiel" ist "Der letzte König von Orplid", ein wunderbares Schattenspiel um einen unsterblichen König, eine Feenfürstin und ein geheimnisvolles Buch. Der Roman enthält die somnambulen Peregrina-Gedichte, in denen Mörike (wie im gleichnamigen Zyklus) seine eigene Liebesbeziehung mit der leidenschaftlichen Schwärmerin Maria Meyer verarbeitete. Noch viele weitere Gedichte flattern durch den "Maler Nolten", darunter das unsterbliche "Frühling lässt sein blaues Band..."

Ein paar schöne Zitate noch:

"Dieser Nolten ist der verdorbenste und gefährlichste Ketzer unter den Malern, einer von den halsbrecherischen Seiltänzern, welche die Kunst auf den Kopf stellen, weil das ordinäre Gehen auf zwei Beinen anfängt langweilig zu werden; der widerwärtigste Phantasie-Renommiste! Was malt er denn? eine trübe Welt voll Gespenstern, Zauberern, Elfen und dergleichen Fratzen, das ist's, was er kultiviert!"
"Wer war unglücklicher, als der Maler? und wer hätte glücklicher sein können als er, wäre er sogleich fähig gewesen, seinem Geiste nur so viel Schwung zu geben, als nötig, um einigermaßen sich über die Umstände, deren Forderungen ihm furchtbar über das Haupt hinauswuchsen, zu erheben und eine klare Übersicht seiner Lage zu erhalten. Doch dazu hatte er noch weit. In einer ihm selbst verwundersamen, traumähnlichen Gleichgültigkeit ritt er bald langsam, bald hitzig einen einsamen Feldweg, und statt daß er, wie er einigemal versuchte, wenigstens die Punkte, worauf es ankam, hätte nach der Reihe durchdenken können, sah er sich, wie eigen! immer nur von einer monotonen, lächerlichen Melodie verfolgt, womit ihm irgendein Kobold zur höchsten Unzeit neckisch in den Ohren lag. Mochte er sich Gewalt antun so viel und wie er wollte, die ärmliche Leier kehrte immer wieder und schnurrte, vom Takte des Reitens unterstützt, unbarmherzig in ihm fort. Weder im Zusammenhange zu denken, noch lebhaft zu empfinden war ihm gegönnt; ein unerträglicher Zustand." 
"Eine Sorge, die nur erst als schwacher Punkt zuweilen vor uns aufgestiegen und immer glücklich wieder verscheucht worden war, pflegt tückischerweise gerade in solchen Momenten uns am hartnäckigsten zu verfolgen, wo alles übrige sich zur freundlichen Stimmung um uns vereinigen will. Im heftigen Zugwinde einer aufgescheuchten Einbildungskraft drängt sich schnell Wolke auf Wolke, bis es vollkommen Nacht um uns wird."
"Ich kann es mir nicht reizend und rührend genug vorstellen, das stille gedämpfte Licht, worin dem Knaben dann die Welt noch schwebt, wo man geneigt ist, den gewöhnlichsten Gegenständen ein fremdes, oft unheimliches Gepräge aufzudrücken, und ein Geheimnis damit zu verbinden, nur damit sie der Phantasie etwas bedeuten, wo hinter jedem sichtbaren Dinge, es sei dies, was es wolle – ein Holz, ein Stein, oder der Hahn und Knopf auf dem Turme – ein Unsichtbares, hinter jeder toten Sache ein geistig Etwas steckt, das sein eignes, in sich verborgnes Leben andächtig abgeschlossen hegt, wo alles Ausdruck, alles Physiognomie annimmt."
"Der Maler hatte sich auf einen Sitz geworfen. Er sah mit kalter Selbstbetrachtung ruhig auf den Grund seines Innern herab, wie man oft lange dem Rinnen einer Sanduhr zusehn kann, wo Korn an Korn sich unablässig legt und schiebt und fällt. Er bröckelte spielend seine Gedanken, der Reihe nach, auseinander und lächelte zu diesem Spiel. Dazwischen quoll es ihm, ein übers andre Mal, ganz wohl und leicht ums Herz, als entfalte soeben ein Engel der Freuden nur sachte, ganz sachte die goldnen Schwingen über ihm, um dann leibhaftig vor ihn hinzutreten!"

Samstag, 14. Januar 2017

Tim Parks: Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen

Eine Sammlung von Essays, die sich mit Literatur, Schreiben und  Lesen auseinandersetzen. Verfasst hat sie der britische Romancier, Rezensent, Sachbuchautor und Übersetzer (er übertrug unter anderem Italo Calvino ins Englische) Tim Parks. Parks lebt  seit 1981 in Italien und lehrt dort Literatur.

In meinem Regal steht Parks jetzt zwischen Umberto Ecos "Die Kunst des Bücherliebens", Alberto Manguels "Die Bibliothek bei Nacht", Jacques Bonnets "Meine vielseitigen Geliebten", Hektor Haarkötters "Der Bücherwurm" und Robert Gernhardts "Der Weg zum Erfolg".

Parks Essays unterscheiden sich von unzähligen anderen Büchern zum Thema nicht nur im ironischen, pointierten und hemdsärmeligen Ton, der die Materie mit trockenem Humor und äußerst schlagfertig anpackt. Der Autor hat auch inhaltlich großen Spaß an der Rolle des Advocatus diaboli, der so ziemlich alle Gewissheiten infrage stellt und zu allen gängigen Meinungen leidenschaftlich Gegenpartei ergreift.

Manche seiner Thesen erscheinen offensichtlich: Etwa von der Ambivalenz des modernen Schriftstellers, der den Mythos vom rebellischen Nonkonformisten pflegt, sich aber gleichzeitig prostituieren muss, um den Gesetzen des Marktes zu entsprechen. Oder, dass man ein Buch nicht unbedingt zu Ende lesen muss, um es als Gewinn und Genuss zu empfinden. Manchmal reichen eben einzelne Stellen, die sich besonders lohnen, den Sinn erschließen oder überaus geglückt sind. Ich füge hinzu: Aufgabe eines Rezensenten sollte sein, diese Stellen den Lesern zu empfehlen. In diesem Buch wären es beispielsweise die ersten beiden Kapitel.

Manches ist erhellend. Etwa, dass die besondere narrative Form des Romans - mithin die Königsklasse literarischen Schreibens - zur ich-Vergewisserung und Selbsterfindung des Subjekts beiträgt, weil sie erst das Konzept des einzigartigen, handelnden Menschen mit einer Geschichte, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, mit (gescheiterten) Plänen, Widersachern etc. schafft. Der moderne Mensch braucht diese Geschichten, die sein Ich stärken, zwar nicht, findet Parks. Es gibt aber, wie er in einem anderen Kapitel feststellt, keine andere narrative Methode, die dem Roman Konkurrenz machen könnte.

Manches erscheint zumindest fragwürdig. Wenn Parks über den Zusammenhang von Schriftstellern, ihrem Werk und ihrer Rezeption philosophiert, bringt er die Theorien der italienischen Psychologin Valerio Ugazio ins Spiel, die von "semantischen Polaritäten" spricht. Die Begriffspaare, die in der Familie eines Menschen (eben auch Schriftstellers oder Lesers) wichtig sind, prägen ihn und sein Werk  oder seine Art zu lesen, ein Leben lang. Ging es in der Kindheit eher ums Gut- oder Böse-sein oder waren Mut versus Angst ausschlaggebend? Auch, wenn ich Parks hier nicht immer folgen kann, so sind die Essays zu diesem Thema doch mit schönen Details und Anekdoten aus dem Leben vor allem angelsächsischer Schriftsteller illustriert.

An einigen Stellen teile ich Parks' oftmals bewusst provokante Thesen nicht. Dass das Lesen eines guten Romans so sei könnte, als erlebe man eine Situation selbst und tauche in fremder Menschen Gedanken und Gefühle ein, wischt er als "Unsinn" beiseite. Ich glaube, dass Bücher durchaus diese Wirkung haben.

Mehrere Kapitel sind der gleichgeschalteten "Welt"-Literatur gewidmet, die in unserer Zeit aufgrund der Dominanz und Beliebtheit der anglo-amerikanischen Kultur entsteht. Schriftsteller allerorten versuchen sich in ihren weichgespülten und sogar sprachlich angepassten Werken, dieser dominierenden Lebenswelt anzupassen, ihre Werke möglichst leicht ins Englische übersetzbar zu gestalten. Europäische Leser wiederum greifen mit Vorliebe auf (übersetzte) Werke US-amerikanischer Autoren wie Jonathan Franzen zurück, weil sie sich als "Weltbürger als passive Beobachter der amerikanischen Kultur" empfinden. Was verloren geht, ist die intensive Beschäftigung der Autoren mit der eigenen Sprache und dem eigenen Kontext, die bereichernd wäre, aber der globalen Vermarktbarkeit widerstreben würde.

Ausgenommen sind freilich die selbstzufriedenen englischsprachigen Autoren, die ihre Lebenswirklichkeit bis ins Kleinste thematisieren und davon ausgehen können, dass sich die gesamte lesende Welt dafür interessiert. Parks macht sich lustig darüber, wie diese Autoren ihre weltweite Wirkung überheblich der hohen Qualität ihrer Literatur zuschreiben.

Nun ist zu sagen, dass der Engländer Parks - und das weiß er auch - selbst auf dieser Welle schwimmt. In seinen Beispielen ist er, bis auf wenige Ausnahmen, zentriert auf die angelsächsiche Literatur, als habe es noch nie etwas nennenswertes anderes gegeben als  D. H. Lawrence, Thomas Hardy, Samuel Beckett, Barbara Pym James Joyce, William Faulkner, Aber wer will es ihm verdenken - das ist sein Fach. Und das Ganze ist eben auch nur eine Übersetzung aus dem Englischen.