Dienstag, 29. November 2016

Thea Dorn: Die Unglückseligen


Monumental ist sie, diese fast 600-seitige Bearbeitung des Faust-Stoffes, die Thea Dorn in Angriff genommen hat. Ein dickes, dickes Buch, in dem zwar einiges endlos ausgewälzt und vieles unnötig hineingepackt ist, das aber gleichzeitig mit Anspielungen gespickt ist, vielerlei Köstlichkeiten bietet und zum Nachdenken anregt.
Darum geht's: Die deutsche Molekularbiologin Johanna Mawit erforscht in den USA die Unsterblichkeit von Zebrafischen und Mäusen, um - so ihr ehrgeizges Ziel - eines Tages den Tod beim Menschen besiegen zu können. Da begegnet ihr ein zerzauselter Mann, der sich fantastischerweise als der der Physiker Johann Wilhelm Ritter entpuppt: Ritter ist 1776 geboren und müht sich seither vergebens zu sterben. Es will dem 250-Jährigen einfach nicht gelingen. Fasziniert versucht Johanna Ritters Unsterblichkeitsgeheimnis auf die Spur zu kommen: Erst mit DNA-Analyse, dann mit alchimistischen Experimenten, schließlich, indem die einst so nüchtern kalkulierende Wissenschaftlerin den Satan beschwört: Mit ihm, so glaubt sie, müsse der Unglückselige einen Bund eingegangen sein.

Zum Hintergrund: Den Physiker Ritter (1776-1810) gab es wirklich, er entdeckte die UV-Strahlung, erfand den ersten Akkumulator,  korrespondierte mit Goethe, Brentano und Humboldt und führte an seinem Körper galvanische Selbstversuche durch, die seinen Tod mitverursachten. Oder doch nicht? Thea Dorn lässt ihn zu seiner inzwischen wieder verheirateten Witwe zurückkehren, im Krieg kämpfen, im Gebirge umherstreifen, den Nationalsozialisten Widerstand leisten und in den USA zum Tütenpacker werden, ehe er Johanna trifft - irgendwie muss man die Jahrhunderte ja rumbringen.

Nicht alles ist gelungen in diesem episch angelegten Roman. Vieles ist zu breit getreten: Ja, Johanna ist zu Recht misstrauisch, ob dieser Mann wirklich 250 Jahre alt ist. Aber muss das über zig Seiten thematisiert werden? Manches ist recht platt und abgedroschen: Immer wieder steht der aus der Zeit gefallene Ritter wie ein Ochs vor den Segnungen der modernen Welt. Den "Leuchtkasten mit dem Apfelsymbol" identifiziert er als das Erkennungszeichen einer Geheimsekte. Manches ist einfach albern: Eine kleine Fledermaus als Augenzeuge schildert die Teufelsbeschwörung aus ihrer Sicht. Wahrscheinlich gibt es dafür eine Entsprechung bei Goethe oder sonstwo. Trotzdem ist es albern.

Herrlich ist die altfränkische Art, in der Thea Dorn den religiösen Ritter palavern lässt. Er muss" all seine Artigkeit zusammennehmen, dass er nicht stracks Fersengeld gab". Im nämlichen Augenblicke, Scholasterei, zernichten, Unstern, Gelass... herrlichste Sprachperlen sind hier ausgegraben. Immer wieder darf in Intermezzi zwischen den Kapiteln auch der leibhaftige Satanas selbst zu Wort kommen. Er spricht in kunstvollen Jamben.

Schön ist auch ein eingeworfener Brief Justinus Kerners, der den bereits an Unsterblichkeit leidenden Ritter an den charismatischen Pietisten Johann Christoph Blumhardt überweist, weil in seinem eigenen Weinsberger Geisterturm kein Platz mehr für den vermeintlich nervenkranken Gast ist. Im Turm wohnt nämlich schon der ebenfalls geistig angegriffene Nikolaus Lenau, der an seinem "Faust" schreibt.

Im Großen und Ganzen ist das ein witziger und kenntnisreicher  Ritt durch mehrere Jahrhunderte Forschungs- und Geistesgeschichte, der eine Menge Fragen über Leben und Tod, Gott und Mensch, Religion und Wissenschaft aufwirft.

Dienstag, 15. November 2016

Audrey Niffenegger: The Night Bookmobile

Alexandra streift nachts durch Chicago und trifft auf ein seltsames Wohnmobil, das sich als rollende Bibliothek entpuppt. Wie sie erstaunt feststellt, enthält diese Bibliothek sämtliche Bücher, die sie in ihrem Leben je gelesen hat, dazu alle Zeitungsartikel, Briefe und Notizen, ja sogar ihre Tagebücher. Bei Sonnenaufgang muss Alexandra die nur nachts geöffnete Bibliothek verlassen, wie ihr der kauzige Bibliothekar Robert Openshaw mitteilt.

Alexandra verzehrt sich nach der rollenden Bibliothek, die sie erst Jahre später - und dann noch mehrmals in ihrem Leben  - zufällig wieder finden wird. Ihre große Sehnsucht, selbst in dieser ständig wachsenden Bibliothek zu arbeiten, überlagert schließlich alle ihre anderen Wünsche.

Audrey Niffenegger, die US-amerikanische Autorin des Bestsellers "Die Frau des Zeitreisenden", hat diese Graphic Novel zuerst 2008 als Fortsetzungscomic für die britische Zeitung The Guardian verfasst und gezeichnet. 2012 erschien auch eine deutsche Übersetzung unter dem Titel "Die Nachtbibliothek".

Mit ihren reduzierten, mitunter unbeholfen wirkenden Illustrationen und ebenso reduzierten Worten erzählt Niffenegger eindrücklich von dem unerklärlichen Sog, den Bücher auf manche Menschen ausüben, die Zeit, die sie uns stehlen und gleichzeitig schenken, die Art, wie sie unser Leben bestimmen und sind. Wer diesen Sog nicht selbst empfindet, wird nicht nachvollziehen können, was Alexandra bis zum Äußersten treibt.

Montag, 7. November 2016

Umberto Eco: Nullnummer

Sein letzter Roman, 2015, ein Jahr vor dem Tod des Autors, erschienen, ist noch einmal ein echter Eco. Es geht um Medien, um Sprache und Worte, um Geschichte, geheime Machenschaften und Verschwörungen. Gleichzeitig ist dieser Roman, der im Mailand des Jahres 1992 spielt, politischer als seine sechs Vorgänger.

1992 war ein Jahr der Umwälzungen in Italien. Richter Giovanni Falcone wurde ermordet, groß angelegte Korruptionsermittlungen brachten die lange beherrschende Partei Democrazia Cristiana komplett zu Fall. All dies wird im Buch nur am Rande gestreift, schwingt aber immer mit.

Protagonist ist der Journalist Colonna, der für die Zeitung Domani schreibt. Ein Redakteursteam produziert Nullnummern für das Blatt, das in Wirklichkeit nie erscheinen soll - das wissen aber nur Colonna und der Chefredakteur Simei. Vielmehr möchte sich der Herausgeber, ein Provinzpolitiker und zweitklassiger Verleger namens Vimercate - deutliches Vorbild ist Silvio Berlusconi - mit der Androhung dieser auf Skandale, Enthüllungen und investigativen Journalismus angelegten Zeitung Zugang zu einflussreichen Kreisen erpressen. Die Redaktionssitzungen durchziehen zynische Überlegungen: Wie können die Leser am geschicktesten manipuliert, bevormundet und hinters Licht geführt werden?

Einer der Redakteure, Braggadocio (deutsch: Prahlhans), offenbart Colonna eine große Theorie, die er über Jahre gesponnen hat: Im Mittelpunkt steht Benito Mussolini, der 1945 nicht von Partisanen erschossen wurde, sondern in einem Versteck ausharrte, um durch einen Staatsstreich wieder an die Macht zu kommen. Alles, was zwielichtigen Rang und Namen hat, ist in diesen Skandal verwickelt: Vatikan, CIA, Stay-behind-Organisationen wie die paramilitärische Gruppe Gladio... Eines Tages wird Bragadoccio erstochen aufgefunden und Colonna, der eine Diskette (wir sind im Jahr 1992 und Eco liebte die physischen Medien!) mit belastendem Material besitzt, fürchtet um sein Leben.

Bis er zufällig im Fernsehen eine BBC-Dokumentation sieht, in der genau die von Bragadoccio vermuteten Machenschaften offen thematisiert werden. Lediglich die allzu abenteuerliche Theorie von Mussolini fehlt. Wie Colonna feststellen soll, löst die Doku weder ein politisches Erdbeben aus, noch interessiert sie irgendjemanden. "Ach ja? Interessant", sagen die Leute und gehen weiter ihren Geschäften nach. Schmutzige Wäsche wird längst nicht mehr im Verborgenen, sondern öffentlich gewaschen. Warum auch nicht? Dieser letzte, gekonnte Dreh setzt der Story, die als politische Satire angelegt ist, den perfekten, desillusionierenden Schlusspunkt.

Wie eigentlich alle Eco-Romane liest sich auch "Nullnummer" etwas zäh im Mittelteil. Er muss einfach so viel erklären. Diese undankbare Aufgabe hat Braggadocio übernommen, der Mythomane, der hinter jeder Ecke eine Verschwörung wittert. Manches ist umständlich und wortreich umschrieben, vieles Italien-spezifisch und für Mitteleuropäer nicht unbedingt nachzuvollziehen. Zum Beispiel auch die Darstellung des Journalismus, die von vielen deutschen Rezensenten kritisiert wurde. So würde Journalismus in Deutschland nicht laufen. In Südeuropa läuft er aber anders. Irgendeinen Unterschied muss es geben.