Freitag, 2. Mai 2014

Bernardo Atxaga - Der Mann der Obaba schuf

Gleiche Worte, andere Buchstaben – „Las mismas palabras con diferentes letras” heißt die Ausstellung, die bis zum 9. Dezember 2005 im CAM-Kulturzentrum von Alicante zu sehen ist und erstmals das bisherige Gesamtwerk Bernardo Atxagas in verschiedenen Sprachen zeigt. Atxagas Sprache ist die baskische, als deren bekanntester und wichtigster Literat er seit Jahren gilt. Die Ausstellung wird ergänzt durch Plastiken von Eduardo Chillida, Darío Urzay und Ricardo Toja: Sie alle ließen sich von Atxagas Geschichten inspirieren, deren Drehund Angelpunkt das fiktive baskische Dorf Obaba ist.

Atxaga, der mit bürgerlichem Namen Joseba Irazu Garmendia heißt, studierte zunächst Wirtschaftswissenschaften und veröffentlichte 1976 seinen ersten Roman „De la ciudad“. Den Künstlernamen lieh er sich damals von seinem Mitbewohner Bernardo, der ihm auch die Schreibmaschine für seine ersten literarischen Schritte zur Verfügung stellte.

Der Durchbruch gelang dem heute 54-Jährigen im Jahr 1988 mit dem Roman „Obabakoak“, einem Schelmenstreich skurriler Fabulierkunst. 26 Episoden ergeben in diesem Buch, wie auf einer Perlenschnur aneinander gereiht, ein Porträt des Ortes Obaba. Der Leser begegnet einer jungen Lehrerin, die einsam durch die Straßen zieht, einem Diener, der eine nächtliche Reise zu Pferd auf sich nimmt, um dem Tod zu entkommen, und einem Zwerg, der sich für einen großen Dichter hält.

Diskussionen über die Kunst des Geschichtenschreibens sind in die Erzählungen ebenso eingewoben wie eine Betrachtung über die Literatur des 19. Jahrhunderts. Wie das Dorf Macondo in Gabriel García Márquez‘ „Hundert Jahre Einsamkeit“ ist Obaba ein symbolischer Ort auf der Landkarte des menschlichen Bewusstseins, Denkens und Empfindens. Atxaga selbst verglich „Obabakoak“, das vielfach ausgezeichnet und in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurde, mit den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht.

„Alles Sichtbare haftet am Unsichtbaren, das Hörbare am Unhörbaren, das Fühlbare am Unfühlbaren, vielleicht das Denkbare am Undenkbaren“, zitierte Atxaga einmal den deutschen Dichter Novalis und beschrieb damit seine Kunst, die große Welt in Obaba, der kleinen Welt der Bauern, Bettler und Tagelöhner, einzufangen. Obaba ist Hamburg – denn in dieser Stadt beginnt die Romanhandlung – genauso wie Asteasu, Atxagas eigener Heimatort. Im dortigen Bergwerk begegnete der Autor in seiner Kindheit deutschen Ingenieuren:

„Ihr Akzent, ihre zupackende Art sind mir unauslöschlich im Gedächtnis geblieben“, erklärte Atxaga, der zur Ausstellungseröffnung nach Alicante gekommen war, gegenüber der Costa Blanca Rundschau seine besondere Beziehung zu Deutschland. Die deutschen Ingenieure sind eingeflossen in die Figur des Esteban Werfell, eines baskischen Jungen, der sich von seinem Vater – einem deutschen Ingenieur – eingeengt fühlt. Auf besonderen Wunsch Atxagas spielt die Figur des deutschen Ingenieurs auch in der Verfilmung von „Obabakoak“, die seit wenigen Wochen in den spanischen Kinos zu sehen ist, eine wichtige Rolle.

Regisseur Montxo Arméndariz glückte der Versuch, aus der Geschichtensammlung eine zusammenhängende Filmstory zu machen. Als Rahmenhandlung dient die Reise der 25-jährigen Lourdes, die mit der Videokamera Obaba und seine Leute porträtieren will. Die spanisch-deutsche Koproduktion, die in Ustarroz (Navarra) gedreht wurde, tritt für Spanien bei der Bewerbung um die Oscars für nichtenglischen Film an. Obaba ist die Welt, in die Atxagas Erfahrungen aus Kindheit und Jugend einfl ießen. „Die Welt meiner Kindheit war ländlich und einfach, ohne Politik, ohne Lenin, Marx und Freud“, sagte der Schriftsteller in Alicante. Doch irgendwann brach die Politik über das Dorf herein: der Widerstandskampf der Basken, Terrorismus, Gewalt und Unterdrückung.

Über das literarische Schaffen Atxagas brach die Politik Mitte der 90er Jahre herein. Der Roman „Ein Mann allein“ ist das Porträt eines Ex-Aktivisten der Terrororganisation Eta, „Das Fenster zum Himmel“ begleitet eine Eta-Terroristin nach der Verbüßung ihrer Haftstrafe zurück ins Baskenland. Atxagas jüngstes Werk, „Der Sohn des Akkordeonspielers“ (2004), beschreibt einen jungen Mann, der in den 60er und 70er Jahren im gewaltsamen Umfeld der Eta aufwächst. Diese politischen Romane stießen bei der Kritik auf geteiltes Echo.
 
In Alicante kündigte Atxaga nun wiederum eine Kehrtwende an. Hatte er vor wenigen Jahren noch davon gesprochen, mit seiner Literatur zur Verständigung beizutragen und der Gewaltspirale im Baskenland die Kultur entgegenzusetzen, klingt der Schriftsteller nun resigniert. „Es ist alles zur Problematik im Baskenland gesagt und geschrieben, ich bin müde“, sagte er in Alicante und fügte hinzu: „Jetzt sollen die Politiker handeln und mir Bescheid sagen, wenn sich etwas verbessert hat.“
 
Auf die Frage, ob Kultur die Völker verbinden könne, antwortete er nur kurz „Da bin ich skeptisch“ und leitete lieber zu seinem neuesten Buchprojekt über. „Sieben Häuser in Frankreich“ soll es heißen und im nächsten Herbst erscheinen. Atxaga, so scheint es, kehrt zu seinen Wurzeln zurück, auch wenn er betont, das neue Buch sei realitätsnaher als seine früheren Werke. Ein altes Klassenfoto ist der Ausgangspunkt für den Erzähler, der die darauf Abgebildeten auf ihren getrennten Wegen in ihre verschiedenen Häuser begleitet: ein Hotel, ein Gefängnis, ein Tempel und ein Krankenhaus zum Beispiel.
 
Die Inspiration fand Atxaga – wo auch sonst – in Obaba, der Welt, die ihm begegnet und sein Bewusstsein prägt: „Ich hörte, dass ein ehemaliger Schulkamerad von mir inzwischen Mönch in einem hinduistischen Tempel ist.“ Von Bernardo Atxaga sind zahlreiche Werke in deutscher Übersetzung erschienen, darunter „Obabakoak“, „Das Fenster zum Himmel“, „Memoiren einer baskischen Kuh“ sowie das Kinderbuch „Shola und die Wildschweine“.

Erschienen in Costa Blanca Rundschau Nr. 42, Woche 45/2005