Montag, 30. Dezember 2013

Robert Seethaler: Der Trafikant

Der 17-jährige Franz Huchel kommt Ende der Dreißigerjahre vom Salzkammergut, wo er mit seiner Mutter gelebt hat, nach Wien. Er wird Gehilfe in Otto Trsnjeks Trafik. Mit der Tür zu dem Zeitungs- und Tabakladen öffnet sich für den Unbefangenen der Eingang zu einer ungekannten Welt. Er erfährt und erlebt die politischen Umwälzungen in der Großstadt, schließt eine schüchterne Freundschaft mit dem "Deppendoktor" Sigmund Freud und schlittert kopfüber in eine Liebesbeziehung mit Anezka, die Tänzerin in einem schmuddeligen Varieté ist. Aber die Zeiten sind schlecht und feindlich für einen Träumer wie Franz. Selbst seine Träume, die er auf Zettel schreibt und täglich ans Schaufenster der Trafik klebt, werden immer bedrückender.

Manche Autoren lassen eine Maschine kommen, mit der sie plötzlich das absolute, uneingeschränkt Böse in die Welt setzen können: die Nazi-Maschine. Bei Seethaler ist das anders: Diese Nazis brechen nicht von außen in eine heile Welt hinein, sie sind von nebenan, waren immer innen drin in dieser Stadt, die Franz so rätselhaft bleibt: "Bin ich verrückt geworden?", fragt er sich: "Oder ist die ganze Welt verrückt geworden?" Was gegen das Verrücktwerden helfen könnte, hat sich Franz beim Professor Freud abgeschaut, der die Menschen "von ihren ausgelatschten, aber gemütlichen Wegen" abdrängt, damit sie ihren steinigen Weg selbst suchen müssen.

In der Gestapo-Leitzentrale am Morzinplatz geht alles zu Ende. Dennoch dominiert in dieser Geschichte, die so leicht, poetisch und klar erzählt ist, nicht die bittere Anklage. Es sind die kleinen großen Momente, weise und humorvoll, die hängen bleiben. In einem ihrer Briefe schreibt die einsame Mutter an Franz: "Die Liebe kommt und geht, man kenn sich vorher nicht aus, und man kennt sich nachher nicht aus, und am allerwenigsten kennt man sich aus, wenn sie da ist. Und deswegen lass Dir eines sagen: Niemand taugt für die Liebe, und trotzdem oder gerade deswegen erwischt sie fast jeden von uns irgendwann einmal."

Sonntag, 27. Oktober 2013

Franz Hohler: Gleis 4

Auf einmal bricht der fremde ältere Herr, der Isabelles Koffer eben noch höflich die Treppe hochgetragen hat, zusammen. „Bitte...“, bringt er noch heraus, dann stirbt er auf dem Bahnsteig in Zürich-Oerlikon. Für Isabelle ändert sich schlagartig alles. Wer war der ältere Herr, worum wollte er sie bitten? Die Altenpflegerin bricht ihre Italienreise ab und sucht Zugang zu dem Mann, der offenbar Kanadier ist, aber eine rätselhafte Schweizer Vergangenheit hat. Gemeinsam mit ihrer erwachsenen Tochter Sarah und Véronique, der Witwe des Mannes, macht sie sich auf kriminalistische Spurensuche, die immer Unerhörteres und Haarsträubenderes zu Tage bringt. Was Jahrzehnte lang vertuscht und verschwiegen wurde, legen die drei Frauen Schicht für Schicht frei.



Sie erleben noch einmal, wie die Schweizer „Armenbehörde“ den unehelich geborenen Jungen der Mutter wegnimmt und ihn als „Verdingbub“ auf einen Bauernhof zu sadistischen Pflegeeltern bringt. Wie sie ihn eines Verbrechens beschuldigen und in ein unmenschliches Erziehungsheim abschieben. Wie ihm schließlich die Flucht in ein fernes Land und eine neue Identität gelingt. Hinter dem idyllischen Alpenpanorama lauern im Roman „Gleis 4“ des 70-jährigen Schweizers Franz Hohler Engstirnigkeit, Verstocktheit und Brutalität. Alles Böse prasselt auf den allein gelassenen Jungen ein. Verbündete findet er erst jetzt, nach dem Tod.



Die distanzierte Erzählweise, die überstrapazierte indirekte Rede, die Behäbigkeit und die Exkurse in eine eiskalte Behördensprache verstärken im Leser den Drang aufzubegehren, sich gegen diese himmelschreiende Ungerechtigkeit zur Wehr zu setzen. Ein hochemotionaler, spannender Sozialkrimi.



Franz Hohler: Gleis 4. Verlag Luchterhand. 220 Seiten. 17,99 Euro.



Erschienen in Schwäbische Zeitung, 23./24. Oktober 2013

Mittwoch, 2. Oktober 2013

Anthony Horowitz: Das Geheimnis des weißen Bandes

Die mustergültigsten und besten Vertreter einer Gattung sind vielfach dann entstanden, als deren große Zeit schon längst vorbei war. Die beste Doo-Wop-Band waren „Rocky Sharpe and the Replays” in den Siebzigerjahren, das beste Kino-Piratenabenteuer ist „Fluch der Karibik“ von 2003. Rennaissancen, Neo-Baustile, Revivals übertreffen oft ihre Ahnen. 

 Das liegt natürlich auch daran, dass es die Nachahmer leichter haben. Aus der zeitlichen Distanz können sie beurteilen: Was hat die Jahrzehnte überdauert, was macht den Charme eines Genres aus?  

Gleiches gilt für „Das Geheimnis des weißen Bandes“, einen Sherlock-Holmes-Krimi von Anthony Horowitz aus dem Jahr 2011. An einem eiskalten Wintertag betritt ein Mann die Wohnung in der Baker Street 221B. Ein Londoner Kunsthändler, der die Rache einer irisch-amerikanischen Verbrecherbande fürchtet, wendet sich Hilfe suchend an Sherlock Holmes. Im Lauf der Ermittlungen stößt dieser auf dunkle Machenschaften, kann zwei Morde nicht verhindern und wird sogar selbst zum Verdächtigen. 

Horowitz hat seinen Doyle gründlich studiert. Alles ist stimmig, der Stil, die Atmosphäre, der Nebel, die Droschkenfahrten, die Londoner Elendsgestalten, der unbedarfte Dr. Watson. Und natürlich Holmes und seine Methoden, die Beobachtung noch so kleinster Details, die waghalsig erscheinenden Schlussfolgerungen, die zuweilen arrogante Auftritte. Horowitz trifft es und übertrifft sein Vorbild dabei, ohne dass das Ganze prätentiös oder überfrachtet wirkt. Er geht noch weiter als Doyle, verpackt mehrere Fälle in einen, lässt seine Helden in noch viel tiefere Abgründe blicken als es sein Vorgänger es mehr als ein Jahrhundert zuvor getan hat.

Mittwoch, 4. September 2013

Michael Ondaatje: Katzentisch

He wor John Steinbeck, do stund Joseph Conrad.... und hier kommt Michael Ondaatjes "Katzentisch". Ein Schiffsabenteuer erster Güte und gleichzeitig ein fabelhaftes, weises Geschichtenbuch.

In den Fünfzigerjahren verlässt der elfjährige Mynah seine Heimat Ceylon. Drei Wochen dauert die Fahrt auf dem Dampfer "Oronsay" nach London. In Wahrheit steckt in dieser Fahrt, die er als Kind unternimmt,  schon sein ganzes Leben - auch wenn er es noch nicht ahnt.

Im Speiseraum sitzt er am Katzentisch - abseits, weit weg vom Kapitän. Aber an diesem Tisch  passieren die entscheidenden Dinge, hier ist das Leben, hier sitzen die Menschen, die etwas erleben und erzählen: der Pianist Mazappa, der experimentierfreudige Botaniker Daniels, der weitgereiste Schiffsabwracker Nevil, der stumme Schneider Gunesekera, die scheinbar dröge alte Jungfer Lasqueti.

Das Beste: Hier sitzen auch die Gleichaltrigen und ebenfalls allein Reisenden Cassius und Rahmadin. Die drei machen das Schiff zu ihrem Abenteuerreich, loten Grenzen aus, übertreten genussvoll Verbote, entdecken, recherchieren, horchen, saugen alles auf, suchen und finden (auch) sich selbst. 

Großartig ist dieser Roman, der ganz nebenbei eine spannende Mordgeschichte erzählt, wegen der Figuren, deren ganze Leben - die sich in diesen wenigen Wochen der Schiffsreise herausschälen und hier mitunter die entscheidende Wendung nehmen - forterzählt sind,

In einer Zwischenwelt, wie sie unterwegs, auf Schiffen, Häfen, Flughäfen zu erleben ist, wo alle, die uns begegnen ebenso entwurzelt sind wie wir selbst, erleben wir die wenigen entscheidenden Dinge. Schöner als die Passage, die die nächtliche Fahrt durch den Suez-Kanal, knapp am Ufer entlang, beschreibt, kann Literatur nicht sein:

"Cassius und ich hingen gefährlich tief über die Reling des Bugs hinunter, um die bruchstückhaften Bilder zu betrachten, die sich uns unten darboten - ein Händler mit seinem Lebensmittelstand, Maschinisten, die sich an einem Feuer unterhielten, das Entladen von Abfall -, Leute und Dinge, die wir nie wieder erleben würden, wie wir begriffen. Und so kam uns der geringfügige und wichtige Sachverhalt zu Bewusstsein, dass unser Leben durch interessante Fremde bereichert werden kann, die an einem vorbeigehen, ohne dass man näher mit ihnen zu tun hat."

Freitag, 9. August 2013

Antonio Tabucchi: Der verschwundene Kopf des Damasceno Monteiro

Kann es sein, dass Antonio Tabucchi überschätzt wird? Vielleicht aber ist „Der verschwundene Kopf des Damasceno Monteiro“, ein Krimi von 1997, nur eines der schwächeren Werke des 2012 verstorbenen Autors. Das Buch lehnt sich an den realen Fall des 25-jährigen Carlos Rosa an, der 1996 in einem Kommissariat der Guarda Nacional Republica am Stadtrand Lissabons ermordet wurde. Seine Leiche fand man in einem Park, ohne Kopf und mit Zeichen von Mißhandlungen.
Tabucchi verlegt die Handlung nach Porto, der Ermordete heißt Damasceno Monteiro und ihm wird zum Verhängnis, dass er den Drogengeschäften der Polizei auf die Schliche gekommen ist. Tja, und da ist da der Journalist Firmino, der im Auftrag seiner Zeitung dem Fall nachgehen soll.
Und das ist dann reichlich skurril erzählt: Firmino fragt und bekommt auf jedes seiner Fragen eine ehrliche Antwort. Kein Misstrauen, keine Ablehnung, kein Zeitdruck, keine Drohungen. Eine Konkurrenz gibt es offenbar auch nicht und so landet Firmino einen Scoop nach dem anderen. Vielleicht wäre es dem Akademiker Tabucchi leichter gefallen, hier einen Uniprofessor allein durch Bücherrecherche ermitteln zu lassen. Von Journalismus versteht er jedenfalls nichts. Und dass er über Firmino ständig schreibt, dieser würde lieber einen Essay über den portugiesischen Neorealismus schreiben als Pressestorys, ist eine jämmerliche Krücke.
Zweiter Schwachpunkt ist die Figur des Anwalts, Fernando Diego Maria de Jesus de Mello de Sequeira, den die Menschen in Porto ob seiner Ähnlichkeit zu Charles Laughton in „Zeugin der Anklage“ als „Loton“ kennen. Er bleibt als Person blass, dient nur als Stichwortgeber für Ideen zu Recht und Gerechtigkeit, zur Justiz und den Normen, auf die sich alle berufen, die Unrecht tun. Dieser collageartige Essay ist durchaus interessant. Firmino und Loton können eine Wahrheit nach der anderen ans Licht bringen - sie ändern damit nichts. Der Schuldige kommt ungeschoren davon. Gegen einen kafkaesk-undurchschaubaren Apparat ist der Mensch machtlos. Er spürt nur "die Nadeln dieses Apparats, des Apparats der Strafkolonie, oder die Zigaretten, die auf der Haut ausgedrückt werden".

Ein spannendes Thema. Wenn es eben nur nicht so ungelenk, bemüht und zusammengestöpselt erzählt würde. Alles ist so offensichtlich konstruiert, so lieblos hingeklotzt. Auch die Stadt Porto ist recht farblos und ohne rechte Lust beschrieben.

Montag, 22. Juli 2013

Fred Vargas: Der verbotene Ort

Plog. So hört es sich an, wenn ein Tropfen Wahrheit fällt, sagt Kommissar Adamsberg. Hier geht es um die Blutfehde zwischen zwei Vampirsippen - die Handlung ist Banane. Aber dieser Krimi ist trotzdem sehr gut. Das machen der überdrehte Erzählstil von Fred Vargas und das skurrile Personal.

Kommissar Adamsberg schlurft so durch sein Leben, verfügt aber - wie fast sehr viele der Personen in diesem Buch - über unwahrscheinliche intuitive Fähigkeiten. Sein Adlatus Danglard "zieht große Kreise im Gras um etwas, ds ihn beunruhigt", er "umkreist die Mulden, in denen seine Sorgen verkalken".

Die Dialoge, Monologe und Gedankengänge sind gespickt mit Geschichten, die völlig abwegig sind, aber dennoch im Verlauf der Handlung eine Bedeutung bekommen - weil eben nichts ohne Bedeutung ist. Vom Mann, der einen Schrank aufgegessen hat, vom Onkel, der von einem Bären verspeist wurde.

Und dann noch viele zusammenhanglose Einzelheiten - aber auch das Leben besteht schließlich aus solchen.

Ach ja: Spannend ist es auch. Das lässt sich nicht bestreiten.

Dienstag, 16. Juli 2013

Ernst Jünger: Afrikanische Spiele

„Er verfügte über eine Sprache, die Fenster besaß.“ Stimmt. Das, was Ernst Jünger in dieser Erzählung über einen Soldaten schreibt, kann auch über ihn selbst gesagt werden. Seine Sprache eröffnet ganze Welten. Jedes magisch aufgeladene Wort, jede Formulierung ist ein edler Genuss.
In dieser Erzählung, die Jünger 1936 – also schon zur Zeit seiner inneren Emigration – veröffentlichte, erinnert er sich an ein eigenes Abenteuer. 1913, als 18-Jähriger, riss Jünger von zu Hause aus und schloss sich der französischen Fremdenlegion an, nur um kurze Zeit später auf Betreiben seines Vaters - der Kontakte spielen ließ und viel Geld aufbringen musste – aus Afrika zurückgeholt zu werden.
Exakt so ergeht es Berger, dem Protagonisten dieser Erzählung – womit die Handlung grob skizziert wäre. Er such das Abenteuer und trifft auf Gescheiterte, Gestrandete, Orientierungslose, Schuldige oder auch nur Romantiker und Fernwehkranke wie ihn selbst.
„Da war aber noch ein anderer, wilderer Geist, der mir zuflüsterte, dass die Gefahr kein Genussmittel ist, an dem man sich vom sicheren Sessel aus ergötzen kann, sondern dass die Freude an ihr eine Verpflichtung verbirgt, und dieser versuchte, mich auf die Bühnen hinauszuziehen.“
Afrika ist für ihn  „der Inbegriff der wilden, ungebahnten und unwegsamen Natur und damit ein Gebiet, in dem die Begegnung mit der Außerordentlichen und Unerwarteten noch am ersten wahrscheinlich“ ist.  Das glückselige Land, in dem man vom Gelderwerb unabhängig ist, man lebt von der Hand in den Mund, sammelt oder erbeutet. Hier sind die „Blumen größer, ihre Farben tiefer, ihre Gerüche brennender“.
Er hofft, auch fernab der Bücher, ein märchenhaftes Land zu finden,  „vielleicht einen Ort, an dem die Gesetze aufgehoben sind (...)  auch die Insel der Vergessenheit“, doch er scheitert auf der ganzen Linie. Er findet das Banale. Statt Neuland betritt er eine trostlose Welt der Langeweile auf dreckigen Pritschen, in der es vor allem darum geht, sich vor sinnfreien Befehlen wegzuducken. Während eines Fluchtversuchs versteckt sich Berger in einem Dschungelgestrüpp, das sich bei Tageslicht als simples Artischockenfeld entpuppt. Das trifft es genau:  Afrika ist trivial.
Überall das Gleiche, ausgelatschte Pfade, Gier, Neid und Intoleranz. Davon können auch heutige Reisende ein Lied singen, gerade, wenn sie bewusst off the beaten track unterwegs sein wollen.
„Es gibt da eine wunderbare Geographie“, verrät Berger der wohlmeinende Militärarzt Soupil: Allerdings finde man diese am ehesten in den Büchern.
Berger aber will erleben, er will spüren, er will nicht nur erzählt bekommen, dass jemand einen Fisch gefangen habe: „Man möchte sich die Finger an den stachligen Auswüchsen seines Kopfes blutig ritzen und seinen Leib eng mit den Händen umspannen, um zu prüfen, wie glatt und feucht die Häute, wie stark und geschmeidig die Muskelzüge sind.“ Zumindest in Afrika wird er nicht fündig.
Hier gibt es kein klingelndes Kriegsgetöse, keinen elitären Heldenkult, keinen kraftvollen Aufbruch (mehr). Stattdessen fantasievolle Personenbeschreibungen. Reisegefährte Paul spielt Mundharmonika: „Man hatte den Eindruck, dass dieses Instrument seiner Natur in besonderer Weise entsprach, denn er hatte etwas stark Ausatmendes, Pausbäckiges und gehörte so wohl einem Schlage an, von dem das Volk zu sagen pflegt, dass er auf die unangenehmen Dinge des Lebens pustet oder pfeift.“
Ein Bäckerlehrling unter den Fremdenlegionären trägt die Züge seines Handwerks: „das von der Nachtarbeit in mehlbestäubten Kellern bleiche Gesicht, die müde Wärme der Backstuben und eine Art von lüsterner Frühreife.“
„Afrikanische Spiele“ ist auch ein Buch über den Rausch, im Dahindämmern genauso wie im sinnlichen Erleben. Absinth: „Alle Dinge wandelten sich in viele Sorten von weicher, bunter Watte um.“ Opium: „Du siehst das Kleine unendlich vergrößert und das Große unendlich klein.“ Die Periode vor dem Einschlafen wird zum zögernden Eintreten in eine Höhle. In allem ist Jünger ernst. Ernster als andere deutsche Schriftsteller seiner Zeit  – vielleicht mit Ausnahme Thomas Manns.

Freitag, 14. Juni 2013

Fred Vargas: Coule la Seine

Ein Band mit drei Kurzkrimis der französischen Autorin Fred Vargas. Alle folgen dem selben Strickmuster: Kommissar Jean-Baptiste Adamsberg hat einen Mordfall aufzuklären und ist dabei jedes Mal auf die Hilfe eines Sonderlings angewiesen. Im Gegensatz zu seinen Kollegen nimmt Adamsberg diese eigenartigen Typen mit ihren Spleens ernst, wofür er jeweils mit dem entscheidenden Hinweis zur Lösung des Falls belohnt wird.

Im Fall von "Cinq franc pièce" wird ein Clochard, der mit einem von ihm liebevoll "Martin" genannten Einkaufswagen durch Paris zieht und ranzige Naturschwämme verkauft, Zeuge, wie eine Frau erschossen wird. In "La nuit des bruts" verblüfft ein stockbesoffener, gut gekleideter Herr, der die Weihnachtsnach in der Ausnüchterungszelle der Polizei verbringt, mit Faktenwissen und hilft Danglard, mehr über das Schicksal der toten Frau in der Seine herauszufinden.

In "Salut et liberté" hockt ein seltsamer alter Mann - allem Anschein nach ein Obdachloser - auf der Bank vor dem Polizeipräsidium und spuckt Olivenkerne auf einen Laternenmast. Gleichzeitig erhält Kommissar Adamsberg anonyme Briefe, deren Schreiber sich selbst des Mordes bezichtigt. Dass beide Dinge etwas miteinander zu tun haben könnten, scheint völlig aus der Luft gegriffen.

Für Adamsberg dagegen haben sie natürlich miteinander zu tun. Und das ist eben der Unterscheid. Seine Methode besteht darin, abzuwarten, genau zu beobachten und hinzuhören, keine Schlüsse zu ziehen, sondern dem Bauchgefühl folgen und damit immer richtig zu liegen. Sprachliche Einfälle, witzige Dialoge und skurrile Figuren machen diese Geschichten lesenswert, auch wenn der Leser manche Wendungen nicht ganz nachvollziehen kann und eben alle Stories dem gleichen Muster folgen. Fazit: Nicht umwerfend, aber sehr unterhaltsam.

Freitag, 31. Mai 2013

Axel Munthe: Das Buch von San Michele

Diesen Bestseller aus den Zwanzigerjahren habe ich mir gekauft, weil er für Herbert Rosendorfers großartiges "Der Mann mit den goldenen Ohren" Pate gestanden haben soll. Das besagt dessen Klappentext. Nun ja, Rosendorfers Buch ist ein herrlich leichtfüßiger und humorvoller Inselroman, "Das Buch von San Michele" manchmal auch. Nicht immer.
 
Hauptsächlich erzählt der Schwede Munthe in diesem autobiographischen Roman mit  fantastischen Einsprengseln von seiner Karriere als Arzt in Paris und Rom. In einer Zeit, da es noch Helden gab, berichtete Munthe ganz freimütig von seinen Heldentaten - wie er Menschen und Tieren selbstlos half, wie er den Armen gab und die Reichen insgeheim oder ganz offen verachtete.
 
Manchmal mündet das in unerträgliche Prahlerei - vielleicht ist Munthe bei Karl May in die Schule gegangen: so viel Gutes und Richtiges tut er, so oft springt er den Hilflosen zur Seite, so beliebt ist er bei Frauen, Männern und Tieren. Das ist mitunter derart übertrieben, dass es zum liebenswerten Schelmenroman wird. Wie der Arzt kurzfristig bei einer Schauspielertruppe aushelfen muss, und damit im Alleingang eine Hamlet-Inszenierung rettet. Wie er bei seinen adeligen und begüterten Patientinnen die von ihm selbst erfundene Modekrankheit "Kolitis" diagnostiziert.
 
Schöne Anekdoten wie vom traurigen, elternlosen Kind John, dessen er sich kurzzeitig annimmt, sind dabei. Manches ist aus heutiger Sicht bedenklich, etwa wenn der Erzähler in einer seiner zahlreichen eingestreuten Nachdenkereien dafür plädiert, Schwerverbrechern die Möglichkeit zu geben, ihre Strafen mit der Teilnahme an medizinischen Menschenversuchen zu mildern. Und man muss schon ein ausgewiesener Hundefreund sein, um Munthes endlosen Philosophierereien über das Wesen dieser Tiere gut zu finden.
 
Und dann sind da noch Plattitüden, die wirklich keiner lesen will: "Da war sie, die geliebte Lerche, auf unsichtbaren Schwingen hoch oben im Blau schwirrend, als ließe sie ihr ganzes Herz ausströmen gegen Himmel und Erde in jauchzendem Trillern von Lebensfreude." 
 
Aber da ist auch das höchst gelungene, wundersam und fast archaisch erzählte Kapitel über Munthes Reise nach Lappland. Und da sind vor allem der Anfang und der Schluss des Buches, die mit Wind und Sonne, Sommer und Herbst, Licht, Vergänglichkeit, Freundschaft spielen. Auf der Felseninsel Capri, wo Munthe seine Villa San Michele erträumt und erbaut, blüht der Roman auf und der Erzähler wird heiter und bescheiden.
 
Hier geht es um die wichtigen Dinge. Und um den Tod, der so viel barmherziger ist als das Leben. Wirklichkeit und Traum fließen. Über allem liegt eine große Leichtigkeit. Selbst gegen Schluss, wenn sich der Arzt erblindet in einen Turm zurückzieht und schließlich sein eigenes Sterben erzählt, beherrscht sie alle düsteren Gedanken.
 
Mein Tipp: Kapitel Eins lesen, die erste Begegnung mit San Michele, dann das nordische Kapitel sieben, schließlich ab Kapitel 29 bis zum Schluss.  So begegnet der Leser einem Stück Weltliteratur, das in seiner Weisheit und leisen Poesie seinesgleichen sucht.
 
 
 
 
 

Mittwoch, 17. April 2013

Franz Spunda: Baphomet

Ein Buch aus dem Jahr 1928, in Fraktur gedruckt, halb in Leder gebunden. Franz Spundas (1890-1963) Schauerroman über einen Alchimisten, eine seltsame Nonne, eine Gilde von Tempelrittern und das Lebenselixier ist  mehrfach neu aufgelegt worden. Aber ihn in einer neuen Aufmachung zu lesen wäre nicht dasselbe.

Es hat den Zauber des Entdeckens, in einem solchen verstaubten Wälzer, am besten noch bei Schummerlicht, von den Planetengeistern zu lesen, vom unnennbaren Licht AUR, der prima materia, den aurum potabile, den zehn Sephiroth, dem solaren Hahn und vielerlei anderem magisch Klingendem.

Zu entdecken gibt es auch einige originell-altmodische Beschreibungen, etwa wenn Spunda in Avignon  drohend den Mistral nahen lässt: "Die Möwen der Rhone flogen wie aufgescheuchte Blitze über die dünstenden Gassen und Plätze, in denen die Menschen besorgt gegen die Himmel sahen. Noch lag das ganze Firmament im Opalglanz da und nur fern, im Nordosten, zeigte sich dem Mont Ventoux eine verräterische Wolke, düster leuchtend in braunroter Glut."

Damit ist aber auch das Positive gesagt. Je länger man sich mit diesem Buch beschäftigt, desto mehr nervt der unbeholfene, dämlich auktoriale Erzählstil. Alle Personen handeln seltsam unentschlossen, reden naiv auch mit dem Feind über ihre geheimen Absichten, verplappern sich ständig und wiederholen sich. Eine echte Handlung kommt nicht zustande. Der junge Vicente Lascari erbt in Florenz das Haus eines Alchimisten, in dem er das Lebenselixier und den Stein der Weisen findet. Sowohl die Adepten des Templergottes Baphomet als auch Vertreter des Vatikans versuchen, Lascari und die Gegenstände für sich zu gewinnen. Am Schluss schafft es keiner. Spannungsbogen: Fehlanzeige.

Verpackt in das Alchimisten-Brimborium ist eine theatralische Liebesgeschichte, aber auch die bietet nichts Überraschendes sondern vielmehr Arztroman-würdige Plattitüden:

"Statt vieler Worte umschlang sie ihn innig und drückte ihre Lippen auf die seinen. ,Du, du! Mein Weib!', jauchzte er auf." Mir ist beim Lesen das Jauchzen vergangen. Aber was soll man von einem Roman halten, in dem Männer resigniert über Frauen sagen: "Wer kennt sich bei diesen überspannten Wesen aus?"

Die Protagonisten ergehen sich in haarsträubenden Philosophierereien über das Wesen Gottes, des Teufels und so weiter. Zum Beispiel sagt der Monsignore d'Arnoult, der den Vatikan vertritt: "Das Tier muss zu Gott und Gott zum Tier werden, damit der Mensch, der zwischen beiden steht, einen vom anderen erlösen kann. Denn deshalb ist Gott, der reine Gott, Mensch geworden, um in Beziehung mit dem unvernünftigen Tier zu treten, gleichsam um Abbitte zu leisten, dass er diese Wesen überhaupt geschaffen hat." Aha.

Zu allem Überfluss muss noch gesagt werden, dass der österreichische Autor Franz Spunda offenbar den Nazis nahe stand. Na ja. Wenigstens offener Antisemitismus ist in diesem Buch nicht zu finden. Der Rabbi Mordechai ist zwar zunächst ebenfalls ein Zauberer und Alchimist, gehört aber definitiv zu den Guten.

Montag, 8. April 2013

Ute Böttinger: Hohenlohe pur genießen

Es gibt Reiseführer, die versprechen Insidertipps und kommen dann mit Ausgelatschtem und –gelutschtem à la Brandenburger Tor und Hofbräuhaus um die Ecke. Das trifft auf das Büchlein „Hohenlohe pur genießen“, das jetzt erschienen ist, sicher nicht zu. In der Gegend um Kocher, Jagst und Tauber, genauer zwischen Stimpfach im Südosten und dem Kloster Schöntal mit dem Grab des Götz von Berlichingen im Nordwesten, ist Autorin Ute Böttinger auf Entdeckungsreise gegangen. Was sie aus ihren Funden gemacht hat, ist eine gelungene Mischung, die Familien, Kulturfans, Wanderer und alle, die gern essen und trinken, begeistern dürfte. Klassiker wie das Schloss Langenburg, die Großcomburg in Schwäbisch Hall, das Freilichtmuseum Wackershofe, der Wildpark Bad Mergentheim oder das Muswiesenfest in Rot sind beschrieben, aber auch Geheimtipps wie eine Marionettenwerkstatt in Hermuthshausen, ein malerischer Friedhof in Mulfingen und ein versteckter Badeplatz an der Jagst. Feste, Direktvermarkter, Handwerksmuseen, Wellness-Angebote, Stadtführungen und Erlebniswanderungen: Der gut recherchierte Band führt so ziemlich alles auf, was Hohenlohe an Freizeitmöglichkeiten zu bieten hat und dürfte auch Kennern noch einige hilfreiche Tipps geben. Manchmal wären allerdings präzisere Angaben, etwa der Termin eines empfohlenen Wochenmarktes, oder kleine Routenkarten zu Wanderungen und Radtouren wünschenswert. Vor, nach oder zwischen dem Besuch der 66 Lieblingsplätze sollte dringend eingekehrt werden. Dazu empfiehlt die Autorin elf Gasthäuser, vom urigen Biker-Bahnhof über das Kinorestaurant bis hin zum Sterne-Haus. Denn Hohenlohe hat kulinarisch auch jenseits des deftigen Schwäbisch-Hällischen Landschweins und der süßen, kleinen Langenburger Wibele eine Menge zu bieten.
Ute Böttinger. Hohenlohe pur genießen! 66 Lieblingsplätze und 11 Köche. 192 Seiten. Gmeiner Verlag. 14,99 Euro.

Erschienen in: Ipf- und Jagst-Zeitung/Aalener Nachrichten am 8. April 2013.

Dienstag, 26. März 2013

Brian Clegg: Inflight Science

Je nach Betrachtungsweise ist Fliegen eine sehr langsame Art der Fortbewegung. Den Großteil des Fluges verbringen Passagiere mit Warten - worauf auch immer.  Geduld ist gefragt. Dass Fliegen etwas absolut Faszinierendes ist, vergisst, wer viel im Flugzeug unterwegs ist.

Dieses Buch wertet nicht nur das Warten auf, sondern gibt auch die Faszination zurück und schärft den Blick für das Spannende und Interessante, das Flugreisende umgibt. Brian Clegg erklärt Fliegen wissenschaftlich. Von der ersten Gepäckkontrolle bis zur Landung. Überall steckt Wissenschaft drin und der Leser erfährt alles darüber.

Wie funktioniert ein Metalldetektor? Was bedeuten die Schilder und Zeichen auf dem Flughafen und im Flieger?  Woran orientiert sich der Autopilot? Warum startet ein Flugzeug besser gegen den Wind? Wie können Flugreisende mit einem Blick aus dem Fenster Größenverhältnisse und Entfernungen auf der Erde bestimmen? Warum mäandern Flüsse?  Woher hat das Meer seine verschiedenen Farben? Welche Wolkenformationen haben welche Auswirkungen? Ist der Regenbogen ein Regenring? Was hilft gegen Jetlag? Warum schaltet die Crew während der Landung das Licht in der Fluggastkabine aus? Und so weiter, und so weiter. Dazu begegnet der Reisende auf dieser Expedition ständig den Herren  Newton, Galileo und Einstein. Information satt, aber immer verständlich und locker-lesbar (britisch eben) aufbereitet.

Ich gebe zu, das komplette Buch zu Hause auf 441 m über NN gelesen zu haben. Das hat den Vorteil, dass ich die von Clegg in jedem Kapitel vorgeschlagenen Experimente machen konnte, ohne zumindest verwunderte Blicke von Mitfliegern zu ernten. Andererseits könnte leicht verschrobenes Verhalten - das Pusten auf ein Blatt Papier, um das Verhalten von Flugzeugflügeln nachzuempfinden, gehört noch zu den diskreteren Tätigkeiten - durchaus die Kontaktaufnahme zu Mitreisenden erleichtern. Wie überhaupt dieses Buch perfekt ist, um eine Konversation zu beginnen: "Wussten Sie eigentlich, dass..."

Donnerstag, 21. März 2013

Theodor Heuss: Von Ort zu Ort

Nebenan ein Bild vom Bücherflohmarkt Gröbenzell, wo ich dieses Buch gekauft habe: Reisereportagen, die der spätere Bundespräsident hauptsächlich in den 1910er und 1920er Jahren verfasst hat. Die Sammlung selbst ist 1959 erschienen. "Wanderungen mit Stift und Feder" heißt der Untertitel des Buches. Neben Beschreibungen von deutschen und europäischen Städten und Landschaften finden sich auch Zeichnungen der besuchten Orte aus Heuss' Skizzenbüchern darin.
 
Es ist diese schöne, vergessene Art, vom Reisen zu erzählen, wie man sie auch in den herrlichen alten Merian-Heften - zwischen Werbung für Salem-Zigaretten, Pelikan-Füllhalter und Super-8-Kameras - findet. Immer, auch bei Kurzbesuchen, mit respektvoller Langsamkeit. Manchmal im Stil zugegeben etwas behäbig, altväterlich. "Das Volk ist derb, gesund und fromm", schreibt Heuss über die Oberschwaben. Na ja, stimmt ja irgendwie.

Heuss beschreibt Fassaden, Straßen und Kirchenräume minutiös. Er schaut genau hin und lässt das auch den Leser tun. Über eine Gasse im holländischen Delft schreibt er, sie sei mit "Ziegeln gepflastert. Aber gepflastert klingt schon zu derb. Man möchte sagen: belegt." -  "Ich sammele mit geruhsamem Fleiß Bilder und Blicke", sinniert Heuss in seinem Artikel zu Naumburg

Aber er weckt auch die Geschichten, die in den Dingen schlummern, erzählt, was sie im Laufe der Jahrhunderte erlebt haben, wonach sie sich sehnen. Die Lektüre wertet heute noch einen Besuch in einem der beschriebenen Orte unwahrscheinlich auf und verleitet dazu, auf Entdeckungsreise zu gehen und tiefer in die Geheimnisse der Städte, Kirchen und Landschaften einzudringen.

Leider könnte es bei diesem Unternehmen dennoch zu einigen Enttäuschungen kommen: Während einige Städte, die Heuss besucht hat -  etwa Nördlingen, Eichstätt oder Bamberg (Ravenna, Venedig und Oxford sowieso) - weitgehend intakt geblieben sind, hat der Krieg von der einstigen Pracht vieler anderer wenig übrig gelassen. Heuss' Heimatstadt Heilbronn, von deren Brücken und Treppen, der "Giebelwelt der alten Straßen und Gassen" er schwärmt, gilt heute als wenig sehenswert. Immerhin hat Heuss in seinen hübschen Reportagen ein Stück der alten Schönheit über die Zeit gerettet.

Mittwoch, 20. Februar 2013

Clemens Brentano: Das Märchen von Gockel und Hinkel

Ein bezauberndes hochpoetisches kleines Kunstmärchen von Clemens Brentano, in das man nicht zu viel hineininterpretieren soll. "In Deutschland in einem wilden Wald lebte ein altes Männchen, und das hieß Gockel." Und dieses Männchen erlebt mit seiner Familie und einer Menge Tiere ein aberwitziges Abenteuer, in dessen Verlauf er vom Alten zum Jungen, dann wieder zum Alten, dann zum Kind wird.

Auf die Handlung kommt es nicht an, den Charme machen die herrlichen Einfälle aus, mit denen Brentano diese Märchenwelt ausstaffiert. Das Königsschloss aus ausgeblasenen Eiern, die  hinterlistige mechanische Puppe, ein Wunschring, eine Mäusestadt, ein ultimatives Loblied auf den Haushahn und ein fast absurder Schluss. Dieses zeitlose Panoptikum  ist eine Kurzreise ins romantische Märchenland wert. Aber wie schmecken Jauersche Würste? Und warum wünscht sich niemand Gallina zurück?

Donnerstag, 14. Februar 2013

Tom Wolfe: Back to Blood

AhhhHAHHHAHAHHH HockHockHock – so sieht es aus, wenn in Tom Wolfes Roman „Back to Blood“ der Psychiater Norman Lewis lacht, ein schmieriger Emporkömmling, der pornosüchtige Promis behandelt. Überzeichnet, knallig und mit kursiven Lautmalereien gespickt wie ein Comic ist das, was sich auf 765 mit Seiten unter der Sonne Miamis abspielt.

Wolfe, 81, Miterfinder des „New Journalism“, Autor der New-York-Satire „Fegefeuer der Eitelkeiten“ von 1987 und notorischer Träger vanillefarbener Dandy-Anzüge, nimmt die Einwandererstadt in Südflorida aufs Korn.

Dort braust das, KLATSCH, Boot der Küstenpolizei. An Bord Nestor Camacho. Der gutmütig prollige Cop kubanischer Herkunft holt in einer zirkusreifen Aktion einen illegalen Einwanderer vom Mast einer Luxusjacht – um ihn retten, denkt Camacho. Um ihn zu verhaften und der Abschiebung preiszugeben, sagt der Rest der mächtigen, riesigen Kubaner-Gemeinde Miamis und macht dem Nestbeschmutzer Camacho das Leben zur Hölle. Durch waghalsige Aktionen will der Verzweifelte den Kopf aus der Schlinge ziehen – und der Spaß beginnt.

In weiteren Rollen: Ein russischer Maler, der, unschnajjjjjanuck literweise Wodka kippt und mit perfekten Kopien Miamis blasierte Kunstwelt narrt. Ein stiernackiger schwarzer Polizeichef. Die weißen Americanos, die in Miami zur aussterbenden Minderheit gehören: Darunter der publicitygeile Psychiater, der schwächliche, aber durchtriebene Sensationsreporter John Smith, die sexverrückten Teilnehmer der Columbus Day Regatta. Einer sagt: „Alle Menschen, überall, haben nur noch
einen Gedanken – Zurück zum Blut.“ Alle Figuren in Wolfes Roman, Latinos, Americanos, Schwarze oder Russen, denken, fühlen, handeln unablässig als Vertreter ihrer Ethnie, Herkunft, Rasse. Jeder gegen jeden. Schmelztiegel? Pustekuchen.

Wolfe gibt’s dem Leser mit dem Holzhammer – wie es sich für einen Groschencomic gehört. Und er
trifft. Sein Cocktail aus Gesellschaftssatire, Sex, Klatsch, Slapstick und schrägen Gags macht jede Menge Spaß.
(Bernhard Hampp)


Erschienen in Schwäbische Zeitung, 13. Februar 2013