Samstag, 9. September 2023

Roald Dahl: Gesammelte Erzählungen

Keiner, der selbst Geschichten schreibt, kommt an Roald Dahl vorbei.

Seine Handlungen sind ebenso zeitlos wie die Typen, die durch eine undurchdringliche Welt schlurfen: die ewigen Verlierer, denen ihre kleinen Betrügereien über den Kopf wachsen, die viel mehr lostreten, als sie wollen, deren ausgeklügelte Pläne nicht aufgehen, weil die andere  eben auch mit gezinkten Karten spielen, weil die anderen eben noch gerissener oder auch noch dümmer sind - und gerade deshalb gewinnen. 

Dahls Geschichten aus den Vierziger- bis Sechzigerjahren - in diesem Band sind alle versammelt - zelebrieren das „Was wäre wenn“. Selbst die dümmstmögliche Option tritt ja auch in der Realität irgendwann einmal ein, das weiß jeder, der lange genug lebt.

Manchmal dreht sich mit einem einzigen Satz die gesamte Handlung ins Gegenteil. Fast immer ist ein Sprichwort, wie das von der Grube, in die man selbst hinein fällt, das den Plot schon vorwegnimmt.

Sie wollen das Geschäft ihres Lebens machen oder beim illegalen Pferderennen den Jackpot knacken, den Pelzmantel heimlichen Liebhabers verstecken, Fasanen mit Betäubungsmitteln wildern, unmögliche Wetten gewinnen oder eine spottbillige Unterkunft beziehen, sie sind Rattenfänger, Bienennarr, Taxidermistin, sadistische Ehefrau und unterwürfiger Ehemann (oder umgekehrt), Eifersüchtige, radikale Vegetarier, Franz Liszts Reinkarnation als Katze, Adolf Hitlers Mutter…

Und einer entwickelt eine KI, die Geschichten schreibt. 1948!

Donnerstag, 27. Juli 2023

Michael Ende: Die unendliche Geschichte



Kaum ein Buch ist von Verfilmungen so verhunzt und beschädigt worden wie Michael Endes Unendliche Geschichte. Natürlich werden einige damals im Hype um den Film (den von 1984,  die diversen Fortsetzungen sind nicht der Rede wert) auch zum Buch von 1979 gegriffen haben. Aber ungleich höher wird die Zahl derjenigen gewesen sein, die dachten: Das Buch spare ich mir, ich kenne ja den Film. Alles auch schon wieder 40 Jahre her.

Ich habe den Roman jedenfalls in einem öffentlichen Bücherschrank gefunden und wieder gelesen. Und er hat mich noch mehr umgehauen als früher. Was für ein faszinierend durchkomponiertes Stück Weltliteratur! Die wohl größte Ode an die Fantasie, die jemals geschrieben wurde.

Die "Unendliche Geschichte" ist ein sprachgewaltiges, zeitloses Rätselspiel, das bewusst die Grenzen der Logik auslotet, westliche und östliche Weisheit vereint, Heldenreise und amour fou, Grimms Märchen und Washington Irving, Ilias und Parzival, Göttliche Komödie und Herr der Ringe, Hermann Hesse und Dostojewski, Jorge Luis Borges und Italo Calvino...

Während andere Werke (Harry Potters Zeitungen, in denen sich die Figuren auf  Fotos bewegen, haben längst nichts Magisches mehr - obwohl, ich gebe es zu, auch Harry Potter ein großes Geschenk an die Menschheit ist) in nur wenigen Jahrzehnten Staub angesetzt haben, ist und bleibt dieses Buch hochaktuell.

Also: unbedingt (noch einmal) lesen und die Magie auf der Zunge zergehen lassen.

Dienstag, 11. Juli 2023

Urs Widmer: Der Geliebte der Mutter

In dem 2000 erschienenen Roman des 2014 verstorbenen Schweizer Autors berichtet der Erzähler über genau dies: den Geliebten seiner Mutter. Einen Dirigenten, der es aus armen Verhältnissen zu großem Ruhm und Reichtum bringt. Während die Mutter, die dem Dirigenten lebenslang mehr als zugetan ist, aus einer gesicherten Existenz mehr und mehr ins Bodenlose stürzt.

Das Leben der Mutter wird vom Dirigenten bestimmt: Seinem "Jungen Orchester" widmet sie ihre ganze Schaffenskraft, lässt sich benutzen, darf für eine kurze Affäre herhalten, wird vom Dirigenten, dem diese Affäre eine bedeutungslose Randnotiz ist, zur Abtreibung gedrängt. Oder nicht? Was stimmt von dem, was die Mutter an den Sohn weitergibt? Ist der Dirigent der Vater des Erzählers? Wenn nicht, warum ist von seinem wirklichen Vater an keiner Stelle die Rede? Vieles bleibt geschickt im Unklaren. Widmer schildert in starker Sprache den Verfall der Mutter, die dem Dirigenten auf Gedeih und Verderb - verfallen - ist, bis zu ihrem Selbstmord. Ein lesenswertes Stück deutscher Literatur.

Dienstag, 4. Juli 2023

Matthias Bumiller: Thorbeckes magischer Kräutergarten

Nicht ganz so ausführlich wie dieses Buch zum Thema, dafür wunderbar illustriert mit Abbildungen aus alten Kräuterbüchern. Nach einer allgemeinen Einleitung über Kräuter und ihre Beschreibung in Büchern stellt Bumiller je auf wenigen Seiten eine Pflanze vor, der magische Eigenschaften zugeschrieben wurden und werden, die in Sagen und Märchen, Religion und Aberglaube, Heilkunst und (Rausch-)Ritual eine wichtige Rolle spielt - vom Odermennig bis zur Mistel, von der Herbstzeitlosen bis zum ominösen Boramez. 

Die Illustrationen stammen zumeist aus der Inkunabelzeit oder dem 16. Jahrhundert, sind also Holzschnitte. Aber auch von Kniphofs Naturselbstdrucken sind einige abgebildet.

Montag, 3. Juli 2023

Christine Becker: Helleborus 1485-1905

Untertitel: „Botanische Darstellungen, wissenschaftliche Illustrationen & Biographien.“ Dieses großformatige, unendlich liebevoll und detailreich gestaltete Werk versammelt mehr als 150 Darstellungen der Pflanze Helleborus (bekannt als Christrose) aus fünf Jahrhunderten - begonnen mit der Erfindung des Buchdrucks - und bietet darüber hinaus einen reichhaltigen Textteil.

Was Autorin und Herausgeberin Christine Becker hier quasi im Alleingang und mit riesigem Aufwand zustande gebracht hat, macht sich unfassbar schön nicht nur in der Gestaltung aus. Im Text werden die Biographien von Herausgebern, Autorinnen und Verleger historischer Pflanzenbücher, aber auch Pflanzenmalern, Illustratorinnen, Kupferstechern usw. abgehandelt.

Dieser Alleingang sorgt aber auch für die kleinen Kritikpunkte, vielleicht wären mehr Lektoratsschritte nötig gewesen. In den Texten sind leider nicht alle Informationen zuverlässig. Manches doppelt sich, manches ist anscheinend kritiklos aus uralten Quellen übernommen. 

Beispiele: Ein ominöses „Deutsches Museum Berlin“ wird gleich mehrmals erwähnt, ein Verleger wird als „vorbildlicher Christ“ tituliert (sinngemäß, ich will die genaue Formulierung nicht mehr suchen), statt Arts and Crafts, ist von „Art and Crafts“ die Rede. Dennoch ist dieses Buch ein echter Schatz und ein großer Gewinn für alle bibliophilen Pflanzenfreunde.

Preis bei Amazon neu: 129 Euro.

Mittwoch, 31. Mai 2023

Tana French: Grabes Grün

Auf dem Klappentext dieses Buches loben namhafte Journalistx es als „einen der spannendsten, subtilsten und sprachlich ausgefeiltesten Kriminalromane des Jahres“ (2007), „packend“, „Kriminal-Literatur“, das „Beste, was in diesem Jahr auf den Krimi-Markt gekommen ist“. Hm. Die fast 700 Seiten haben mich nicht überzeugt. Zugegeben, er ist nicht schlecht geschrieben, aber er lohnt sich nicht, zu langatmig, wenig Spannung, zu vorhersehbar. Einfach ein typisch durchkonstruierter Regionalkrimi.

Das Polizistenpaar Rob und Cassie sucht in der irischen Provinz den Mördx eines kleinen Mädchens: Es wurde in einer archäologischen Ausgrabungsstätte gefunden - genau dort, wo Rob (der übrigens als Erzähler auftritt) selbst in seiner Kindheit ein furchtbares Erlebnis hatte: zwei seiner Freunde verschwanden beim Spielen spurlos, ohne, dass Rob sich anschließend an etwas erinnern konnte. 

Im Laufe der Ermittlungen kommen sich die beiden Polizisten naher und entfernen sich wieder voneinander. Wer das kleine Mädchen auf dem Gewissen hat, wird leider zu schnell klar. Der Fall aus der Kindheit bleibt ungelöst. 


Dienstag, 30. Mai 2023

Robert Gernhardt: Was deine Katze wirklich denkt

Robert Gernhardt gehört zweifellos zu den größten deutschen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts, auch wenn er im Lauf seiner Karriere manches, naja, Überflüssige fabrizierte. Zu Letzterem gehört dieses vom Meister launig illustrierte Büchlein von 1996.

Nun ist es so, dass ich selbst einen Kater besitze - beziehungsweise besitzt der Kater mich... und das ist auch schon genau der Humor, der diese 13 Mini-Episoden, erzählt aus der Sicht von Gernhardts Kater Schimmi, prägt. Herrchen und  Frauchen beziehungsweise "Chef und Chefin" sind nur dazu da, um Fressen hinzustellen... nach dem Fressen kommt das Fressen und ein bisschen Fressen könnte jetzt nicht schaden - stimmt ja definitiv alles, ist aber wenig originell.

Im Bezug auf kluge Sprache kann Gernhardt ohnehin niemand das Wasser reichen, aber die Genialitäten fehlen in diesen Geschichtchen. Ich glaube, die Psyche einer Katze ist dann doch tiefer und facettenreicher. Schimmi würde beipflichten.