Mittwoch, 15. November 2023

Dror Mishani: Vertrauen. Ein Fall für Avi Avraham.


Ein solider, gut konstruierter Krimi mit spannenden Momenten. Nicht gerade haarsträubend plump, wenn auch kein meisterlicher Pageturner.

Polizeioberinspektor Avraham Avraham arbeitet sich in Tel Aviv an kleinen, unbedeutenden Vorkommnissen an. Ein Tourist ist aus seinem Hotel verschwunden, ohne seine Zimmerrechnung zu bezahlen. Ein Baby ist vor einem Krankenhaus ausgesetzt worden.

Kleinigkeiten, Avraham verbeißt sich dennoch. Er interessiert sich für das scheinbar Unbedeutende, die kleinem Unstimmigkeiten, die zu großen kriminalistischen Rätseln werden, aber auch für die kleinen Leute, die den Großem ins Getriebe geraten und dafür bezahlen müssen. War der vermeintliche Tourist, der wenig später tot aus dem Fluss gezogen wird, wirklich ein Drogenhändler? Oder arbeitete er für den Mossad, wie seine Tochter meint? Avraham gibt sich bis zum Schluss nicht mit den einfachen Lösungen zufrieden. Das offene Ende leitet womöglich auf einen weiteren Teil der Krimi-Reihe über.

Das Buch bietet gerade Israel-Fans viel Lokalkolorit, beobachtet den israelischen Alltag, analysiert eine gespaltene, friedlose (derzeit leider sehr aktuell!) Gesellschaft und zählt damit unter den so beliebten landestypischen Krimis zu den besseren.

Sonntag, 29. Oktober 2023

Gianni Celati: Erzähler der Ebenen

 

Wieso habe ich diese wundersame Geschichtentruhe, die seit Jahrzehnten in meinem Regal schlummert, einst von der Stadtbibliothek ausrangiert und von mir gekauft wurde, zwischenzeitlich in meinem Haus halb verbrannt ist, erst jetzt geöffnet? 

Besser spät als nie. Celati schrieb Anfang der Achtziger diese Geschichten auf, die ihn von Bewohnern der Po-Ebene erzählt wurden. Gute sind dabei, mittlere und schlechte. Von Menschen, die sich ausnutzen und über den Tisch ziehen lassen, von Menschen, die auf Kosten ihrer Eltern leben und als Glücksritter in der Welt unterwegs sind, von einem einsamen Mann, der in allen Büchern seiner Bibliothek per Hand den Schluss korrigierte, um sie glücklich enden zu lassen. Es geht eigentlich immer um die Anderen. 

 Diese Geschichten haben fast nie eine Pointe, keinen Spannungsbogen, keine Wendungen, keine Moral, kein Happy End. Wie Leben eben in Wirklichkeit ist oder was wie man eben vom Leben der anderen landläufig erzählt. Als Steinbruch, die Geschichten weiterzudrehen, sie als Versatzstücke eigener Erzählungen zu verwenden, ist das durchaus geeignet. Viel mehr aber auch nicht.

Wurden diese Geschichten, als sie Anfang der Achtzigerjahre aufgeschrieben wurden, als origineller empfunden als heute, da auf verschiedensten Kanälen Originelles zu finden ist? Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Wir sind ja heute sehr verwöhnt. Bestätigt hat sich: Wie so oft im Wagenbach-Verlag hält der Inhalt nicht mit der schönen Aufmachung mit.

Montag, 23. Oktober 2023

Sheila Heti: Reine Farbe

Drei Sorten Mensch bevölkern die Erde. Die einen stammen von Vögeln ab und betrachten die Welt von oben teilnahmslos als ästhetisches Gesamtkunstwerk. Die zweiten, die Fische, ordnen alles dem Wohlergehen des Schwarms unter. Die dritten, die Bären, lieben nur einen Menschen, den aber unermesslich. 

Sheila Hetis surreal-poetischer Roman, dessen Stil an eine nordische Saga erinnert, erzählt die Geschichte von Mira. Sie ist ein Vogel, liebt Annie, den Fisch, aber auch ihren Vater, den Bären, mit dessen Seele sie sich nach seinem Tod in das Blatt eines Baumes zurückzieht. Die Erzählweise der Kanadierin Heti sprengt die Grenzen der Logik. 

Wenn Sie es lieben, Sätze wieder und wieder zu lesen, sie auf der Zunge zergehen lassen, dazwischen die eigenen Gedanken wandern lassen, dann lesen Sie dieses magisch-philosophische Sprachkunstwerk. Sonst lassen Sie die Finger davon.



Erschienen in Schwäbische Post / Gmünder Tagespost, 20. Oktober 2023

Samstag, 9. September 2023

Roald Dahl: Gesammelte Erzählungen

Keiner, der selbst Geschichten schreibt, kommt an Roald Dahl vorbei.

Seine Handlungen sind ebenso zeitlos wie die Typen, die durch eine undurchdringliche Welt schlurfen: die ewigen Verlierer, denen ihre kleinen Betrügereien über den Kopf wachsen, die viel mehr lostreten, als sie wollen, deren ausgeklügelte Pläne nicht aufgehen, weil die andere  eben auch mit gezinkten Karten spielen, weil die anderen eben noch gerissener oder auch noch dümmer sind - und gerade deshalb gewinnen. 

Dahls Geschichten aus den Vierziger- bis Sechzigerjahren - in diesem Band sind alle versammelt - zelebrieren das „Was wäre wenn“. Selbst die dümmstmögliche Option tritt ja auch in der Realität irgendwann einmal ein, das weiß jeder, der lange genug lebt.

Manchmal dreht sich mit einem einzigen Satz die gesamte Handlung ins Gegenteil. Fast immer ist ein Sprichwort, wie das von der Grube, in die man selbst hinein fällt, das den Plot schon vorwegnimmt.

Sie wollen das Geschäft ihres Lebens machen oder beim illegalen Pferderennen den Jackpot knacken, den Pelzmantel heimlichen Liebhabers verstecken, Fasanen mit Betäubungsmitteln wildern, unmögliche Wetten gewinnen oder eine spottbillige Unterkunft beziehen, sie sind Rattenfänger, Bienennarr, Taxidermistin, sadistische Ehefrau und unterwürfiger Ehemann (oder umgekehrt), Eifersüchtige, radikale Vegetarier, Franz Liszts Reinkarnation als Katze, Adolf Hitlers Mutter…

Und einer entwickelt eine KI, die Geschichten schreibt. 1948!

Donnerstag, 27. Juli 2023

Michael Ende: Die unendliche Geschichte



Kaum ein Buch ist von Verfilmungen so verhunzt und beschädigt worden wie Michael Endes Unendliche Geschichte. Natürlich werden einige damals im Hype um den Film (den von 1984,  die diversen Fortsetzungen sind nicht der Rede wert) auch zum Buch von 1979 gegriffen haben. Aber ungleich höher wird die Zahl derjenigen gewesen sein, die dachten: Das Buch spare ich mir, ich kenne ja den Film. Alles auch schon wieder 40 Jahre her.

Ich habe den Roman jedenfalls in einem öffentlichen Bücherschrank gefunden und wieder gelesen. Und er hat mich noch mehr umgehauen als früher. Was für ein faszinierend durchkomponiertes Stück Weltliteratur! Die wohl größte Ode an die Fantasie, die jemals geschrieben wurde.

Die "Unendliche Geschichte" ist ein sprachgewaltiges, zeitloses Rätselspiel, das bewusst die Grenzen der Logik auslotet, westliche und östliche Weisheit vereint, Heldenreise und amour fou, Grimms Märchen und Washington Irving, Ilias und Parzival, Göttliche Komödie und Herr der Ringe, Hermann Hesse und Dostojewski, Jorge Luis Borges und Italo Calvino...

Während andere Werke (Harry Potters Zeitungen, in denen sich die Figuren auf  Fotos bewegen, haben längst nichts Magisches mehr - obwohl, ich gebe es zu, auch Harry Potter ein großes Geschenk an die Menschheit ist) in nur wenigen Jahrzehnten Staub angesetzt haben, ist und bleibt dieses Buch hochaktuell.

Also: unbedingt (noch einmal) lesen und die Magie auf der Zunge zergehen lassen.

Dienstag, 11. Juli 2023

Urs Widmer: Der Geliebte der Mutter

In dem 2000 erschienenen Roman des 2014 verstorbenen Schweizer Autors berichtet der Erzähler über genau dies: den Geliebten seiner Mutter. Einen Dirigenten, der es aus armen Verhältnissen zu großem Ruhm und Reichtum bringt. Während die Mutter, die dem Dirigenten lebenslang mehr als zugetan ist, aus einer gesicherten Existenz mehr und mehr ins Bodenlose stürzt.

Das Leben der Mutter wird vom Dirigenten bestimmt: Seinem "Jungen Orchester" widmet sie ihre ganze Schaffenskraft, lässt sich benutzen, darf für eine kurze Affäre herhalten, wird vom Dirigenten, dem diese Affäre eine bedeutungslose Randnotiz ist, zur Abtreibung gedrängt. Oder nicht? Was stimmt von dem, was die Mutter an den Sohn weitergibt? Ist der Dirigent der Vater des Erzählers? Wenn nicht, warum ist von seinem wirklichen Vater an keiner Stelle die Rede? Vieles bleibt geschickt im Unklaren. Widmer schildert in starker Sprache den Verfall der Mutter, die dem Dirigenten auf Gedeih und Verderb - verfallen - ist, bis zu ihrem Selbstmord. Ein lesenswertes Stück deutscher Literatur.

Dienstag, 4. Juli 2023

Matthias Bumiller: Thorbeckes magischer Kräutergarten

Nicht ganz so ausführlich wie dieses Buch zum Thema, dafür wunderbar illustriert mit Abbildungen aus alten Kräuterbüchern. Nach einer allgemeinen Einleitung über Kräuter und ihre Beschreibung in Büchern stellt Bumiller je auf wenigen Seiten eine Pflanze vor, der magische Eigenschaften zugeschrieben wurden und werden, die in Sagen und Märchen, Religion und Aberglaube, Heilkunst und (Rausch-)Ritual eine wichtige Rolle spielt - vom Odermennig bis zur Mistel, von der Herbstzeitlosen bis zum ominösen Boramez. 

Die Illustrationen stammen zumeist aus der Inkunabelzeit oder dem 16. Jahrhundert, sind also Holzschnitte. Aber auch von Kniphofs Naturselbstdrucken sind einige abgebildet.