Samstag, 19. Januar 2019

Martin Walser: Spätdienst

Dieser Mann ist nicht alt. Versponnen, versunken, ja. Zornig, enttäuscht, weinerlich manchmal - aber das war er ja schon immer. Walser, der 91-Jährige vom Bodensee, gewährt hier einen Blick in seine Denkwerkstatt in verdichteter Kleinstform. Es sind schätzungsweise rund 1000 Miniaturen, die dieser Band vereint: Haikus, Aphorismen, Epigramme, Randnotizen. Dazwischen finden sich Zitate als Einsprengsel, etwa aus dem Choral "Wer nur den lieben Gott lässt walten".

Manchmal klingt Walser in seinen Sinngedichten wie ein Stoiker oder wie Angelus Silesius oder aber Heinrich Seuse, der Mystiker vom Bodensee (der in Walsers Wohnort Überlingen auch nach Jahrhunderten noch verehrt wird). Aber Walser ist natürlich kein Stoiker, dazu ist er zu gern leidenschaftlich beleidigt, unduldsam und obendrein höchst sprachverliebt: "In mir ist Gelichter zu Haus, / Ich warte, / bis es vom Totschlag heimkommt / und ängstlich singend einschläft in mir."

Seine Verse und Sentenzen ranken sich um Wahnsinn und Weißglut, immer wieder Lebensangst, Hoffnung auf das Sterben, Sonne, Licht und Schnee. Es geht mehr um Verzeihen als Verstehen, mehr um Glück als um Recht. Die kurzen Momente der Einsicht, die Aha-Erlebnisse verlangen nicht nach Handlung. Sie möchten nicht ausgewalzt, sondern hingeworfen werden und sind in dieser kleinen Form bestens aufgehoben. "Ich klettere an mir empor / wie ein Affe, / um größer zu sein, / als ich bin. / Von oben sehe ich, / wie klein ich bin."

Natürlich könnte man sich nun an einzelnen, misslungenen Sprüchlein aufhängen. Manches ist platt, manches kleinlich. Manches klingt wie in einer Rauschnacht begeistert hingekritzelt und am nächsten Morgen als Binsenweisheit entlarvt: "Wenn du weißt, dass das, was du machst, Blödsinn ist, wird es dadurch, dass du das weißt, nicht intelligenter."

Recht ungelenk und unnötig sind die namentlichen Beschimpfungen von Literaturkritikern (Karasek, Weidermann, Schirrmacher....) Aber danach wartet ja gottlob schon immer die nächste, wohlformulierte Preziose. Ein hohes, geistreiches Vergnügen.


Martin Walser, Spätdienst. Bekenntnis und Stimmung. Rowohlt, 208 Seiten. 20 Euro.

Freitag, 18. Januar 2019

Nicholas Christopher: Das verlorene Bestiarium

Xeno Atlas wächst unter einfachsten Bedingungen in New York auf. Seine Mutter ist schon bei der Geburt gestorben. Der griechischstämmige Vater fährt zur See - wenn er zu Hause ist, verhält er sich dem Sohn gegenüber wortkarg und grob. Die sizilianische Großmutter hat Xeno in ihr Herz geschlossen und erzählt ihm viel von wundersamen Fabeltieren, die ihn fortan begeistern.

Im Internat entdeckt ein Geschichtslehrer Xenos  Interesse an der magischen Tierwelt und Bestiarien, alten Tierbüchern. Er weist ihn auf das verschollene Karawanenbuch hin: Ein spektakuläres Kompendium aller Tiere, die nicht auf Noahs Arche durften, weil sie als zwielichtig galten. Die Meeresschildkröte Zaratan, die groß wie eine Insel ist, die indische Schlange Naga, die Schätze auf dem Meeresgrund hütet, der Phönix, der Basilisk, der Hippogreif und der Menschlöwe Mantikor zum Beispiel.

Das Buch erzählt von Xenos Suche nach diesem Buch, die ihn nach Venedig, Paris und Kreta führt. Unterdessen wird Xeno erwachsen, erlebt die Hippie-Bewegung als Student, wird als Soldat im Vietnamkrieg, wird in Venedig Kumpan eines schillernden ungarischen Gelehrten und findet die Liebe.

Alles in allem ist dieses Buch mit knapp 400 Seiten deutlich zu lang geraten. Weder erzählt Christopher besonders spannend von der Jagd nach dem Karawanenbuch (Xeno rekonstruiert in Bibliotheken und Archiven einen historischen Besitzer des verlorenen Werks nach dem anderen), noch hat sein Leben besondere Wendungen zu bieten - wenigstens nichts, was nicht andernorts schon einmal besser erzählt wurde. Vor allem schafft es Christopher nicht, die Tiere, um die es doch geht, in irgendeiner Weise lebendig zu machen.

Charmant ist immerhin die Idee, Xeno selbst zum Tier-Retter à la Noah zu machen: Als im Senegal ein Naturpark aufgegeben wird, verlädt er die Wildtiere von dort auf das von seinem Vater geerbte Schiff und bringt sie nach Kenia. Schade, dass dieses Thema (Artenschutz, die Letzten ihrer Art, der Umgang mit dem Bedrohten, der Schutz vor dem Vergessen) nicht eingängiger thematisiert wird.

Sonntag, 13. Januar 2019

Cixin Liu: Der dunkle Wald

Der dunkle Wald ist nach Die drei Sonnen der zweite Teil der Trisolaris-Trilogie von Cixin Liu. Wie so oft bei zweiten Teilen (man denke beispielsweise an den Kinofilm Matrix Reloaded) wird die Durchschlagskraft eines Aufsehen erregendes Vorgängers nicht erreicht. Ist Die drei Sonnen über weite Teile ein philosophisch-politisches Krimi-Rätselspiel, so ist Der dunkle Wald eher ein Weltraum-Militärabenteuer. Die Handlung ist lange nicht so überraschend und hintergründig wie die des ersten Teils, sie wartet trotzdem mit einigen spannenden Wendungen und Ideen auf.

Die  feindlichen Invasoren vom Planeten Trisolaris nähern sich der Erde. In rund 400 Jahren wird ihre Flotte da sein. Bereits jetzt überwachen die Trisolarier mit winzigen intelligente Partikeln, den Sophonen, die sie auf die Erde geschickt haben, die Menschheit. Gleichzeitig schaffen es die Sophonen, jeden wissenschaftlichen Fortschritt auf der Erde zu blockieren. Ihr einziger Nachteil: Die Sophonen können keine Gedanken lesen. Die menschliche Fähigkeit der Täuschung und Verstellung ist den technologisch hoch überlegenen Trisolariern, die durch Gedanken kommunizieren, fremd.

Vier Erdenbürger werden ausgewählt, um sich als sogenannte Wandschauer - ein alter asiatischer Ausdruck für Meditierende - Gedanken über die Rettung vor den Trisolariern zu machen, aber niemanden von den geheimen Plänen wissen zu lassen. Einer dieser Wandschauer ist der erfolglose Astrophysiker Luo Ji. Als einziger der vier Wandschauer schafft er es, seine Strategie tatsächlich geheim zu halten. Aber die Erde setzt aufgrund vermeintlich übermächtigen Weltraumflotte lieber auf militärische Konfrontation  - tatsächlich endet das erste Zusammentreffen mit einer einzigen Sonde der Trisolarier im Weltraum mit einer verheerenden Niederlage der Erdenflotte.

Luo Ji, der zwischenzeitlich mehrere Hundert Jahre in Kälteschlaf verbracht hat, setzt seine Mission fort. Er hat sich mit der Wissenschaft der Kosmosoziologie befasst, und stößt auf eine Gesetzmäßigkeit, die zwischen den Zivilisationen im All herrscht:

"Das Universum ist ein dunkler Wald. Jede Zivilisation ist ein bewaffneter Jäger, der wie ein Geist zwischen den Bäumen umherstreift (…) Der Jäger muss vorsichtig sein, denn überall im Wald lauern andere Jäger wie er. Stößt er auf ein anderes Leben, egal ob es sich dabei um einen anderen Jäger, einen Engel oder einen Teufel, ein neugeborenes Baby oder einen alten Tattergreis, eine Fee oder einen Waldgeist handelt, bleibt ihm nichts anderes übrig, als es auszuschalten. In diesem Wald sind die Hölle die anderen Lebewesen."

Wer also die genauen Koordinaten eines Planeten angibt und durch die Sonne verstärkt in das All schickt, erreicht dessen Zerstörung - weil der Planet zwangsläufig angegriffen wird. Wer aus der Deckung kommt, wird abgeschossen. Er ist "verflucht". Dieses Wissen verhilft Luo Ji, tatsächlich ins Gespräch mit den Trisolariern zu kommen....

Thematisiert werden nebenbei die zahlreichen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Kommunikation ohne Worte. Alles in allem ein Übergang zu einem hoffentlich gelungenen dritten Teil.

Freitag, 11. Januar 2019

Anthony Horowitz: Die Morde von Pye Hall

Ein unschlagbarer Krimi im Krimi ist Anthony Horowitz mit Die Morde von Pye Hall (Magpie Murders) gelungen. Mal kurz hineinlesen?

"War es überhaupt denkbar, dass einer der Dorfbewohner, der in einem hübschen, alten Haus aus dem frühen 19. Jahrhundert wohnte, sonntags zur Kirche ging und vielleicht Kricket spielte, am Wochenende seinen Rasen mähte und beim alljährlichen Basar seine selbstgemachte Marmelade verkaufte, ein mordender Irrer war?"

Agatha Christie, ick hör dir trapsen. Und auch die Handlung könnte durchaus von ihr (oder Dorothy L. Sayers) stammen:

Atticus Pünd, deutschstämmiger Privatdetektiv und Holocaust-Überlebender mit griechischen Wurzeln, ist unheilbar krank und hat auf sympathische Art seinen Frieden damit gemacht, nur noch wenige Monate zu leben. Es bleibt ihm also nicht mehr viel Zeit, die mysteriöse Enthauptung eines Lords mit einem antiken Schwert auf seinem Anwesen aufzuklären. Pünd befragt die Bewohner des südenglischen Dorfs und enthüllt zwischen idyllischen Backsteinhäusern, gepflegten Rosenhecken, Antiquitätenladen und Pub so manches wohlgehütete, dunkle Familiengeheimnis. Doch dann - kurz bevor der Ermittler alle Verdächtigen zusammentrommeln und ihnen des Rätsels Lösung auf den Kopf zusagen kann - bricht das Manuskript ab. Das Schlusskapitel fehlt.

Verlagslektorin Susan Ryeland - sie ist die Heldin der Rahmenhandlung - ärgert sich. Auch, wenn sie dem Autor Alan Conway nicht besonders leiden kann, ist sie doch ein ausgewiesener Fan seiner Atticus-Pünd-Krimis, deren inzwischen achten sie hier zum Lektorat erhalten hat. Sie macht sich auf die Suche nach den verlorenen Manuskriptseiten, als ihr der plötzliche Tod des Autors Conway mitgeteilt wird. War es wirklich Selbstmord? Susan zweifelt und stellt Nachforschungen an.

"Conway hatte etwas vom ,goldenen Zeitalter' des englischen Krimimalromans eingefangen (…) Es war ein klassischer Whodunnit und spielte auf dem Land. Es ging um einen komplizierten Mord, es gab eine Menge exzentrischer Charaktere und einen Detektiv, der als Außenseiter dazukam." So beschreibt die Lektorin den Stil des Krimiautors Conway.

Auch Anthony Horowitz beherrscht diesen Stil dieser alten englischen Kriminalromane meisterhaft. Und ebenso wie bei seinen Sherlock-Holmes-Romanen übertrifft er das Original im Grunde. In der zweiten Ebene, also der Rahmenhandlung um Susan Ryeland, thematisiert und hinterfragt der Autor das Genre Kriminalroman, er spielt mit ihnen, durchleuchtet ihre Gesetzmäßigkeiten, ihre Sprache und die Regeln des Literaturbetriebs.

Faszinierend ist das Gespräch Susan Ryelands mit einem Kriminalbeamten der Polizei, der der ermittelnden Lektorin manchen Zahn zieht: Die wenigen Morde, die in der Realität geschehen, sind alles andere als romantisch, meistens sind es brutale Taten aus Geldgier oder Zorn, sie werden nicht durch raffinierte Befragungen, das Knacken von Rätseln und das Entschlüsseln geheimer Botschaften aufgeklärt, sondern durch Videoüberwachungen und DNA-Tests. Und das höchst erfolgreich.

Aber keine Angst: Hier geht es nicht profan zu. Hier wird eine Geschichte (bzw. zwei) erzählt, die altmodische Krimifans wie mich begeistert. Und zwar zu Ende. Wenn das Leben schon so viele Abgründe, Skurrilitäten, Zufälle und Geheimnisse bereit hat - wieso sollte sie dann ausgerechnet der Tod nicht bieten? Also: Lesen!

PS: Zu kritteln habe ich dann doch etwas - und zwar ausnahmsweise an der typographischen Gestaltung. Der Atticus-Pünd-Roman, der ja einen großen Teil des Buches ausmacht, ist in einer serifenlosen, einem Schreibmaschinen-Typoskript nachempfundenen Schrift gehalten. Das ermüdet beim Lesen leider schnell.