Sonntag, 17. April 2016

Peter Härtling: Waiblingers Augen

Dem vergessenen Dichtergenie Wilhelm Waiblinger (1804-1830) hat Peter Härtling 1987 diesen biografischen Roman gewidmet. Aus dem ohnehin kurzen Leben Waiblingers, der mit 25 Jahren in Rom starb, hat Härtling eine kurze, aber intensive Lebensepisode herausgepickt. 

Der junge Mann, der schon als Dreizehnjähriger Hilfsschreiber am Uracher Oberamtsgericht war, war als Theologiestudent provisorisch im Tübinger Stift aufgenommen. In dieser Zeit, als 19-Jähriger, veröffentlichte Waiblinger seine gefeierte autobiografische Erzählung um den Dichter Phaeton. 1822 besuchter er erstmals den seit langem geistig umnachteten Hölderlin in seinem Turm, mit dem er von nun an immer wieder Gespräche führte. Sein viel beachteter Aufsatz "Friedrich Hölderlins Leben. Dichtung und Wahnsinn" ist das Ergebnis dieser Begegnungen.

Ebenfalls historisch belegt ist das Verhältnis Waiblingers mit der fünf Jahre älteren Julie Michaelis, der Schwester des jüdischen Tübinger Juristen Adolph Michaelis, das aktenkundig wurde, weil das Haus der Familie nach Brandstiftung in Flammen aufging. Auf die Veröffentlichung seiner Bücher "Lieder der Verirrung" und "Drei Tage in der Unterwelt" hin wurde Waiblinger aus dem Stift ausgeschlossen. 1826 reiste er nach Italien, wo er bis zu seinem Tod lebte.

Für Härtling ist dieses Leben die Grundlage für das Porträt eines überschäumenden Gefühlsmenschen, der in seinen immer weiter gesteigerten Emotionen verglüht. "Verspätetes Kraftgenie" war der Ausdruck, den Hermann Hesse für Waiblinger fand.

Bei Härtling ist Waiblinger ein durch und durch poetisches Wesen, ein Lord Byron, ein Don Giovanni, dem die biedere Realität bei Weitem nicht genügt. Dass die Straßen Tübingens nicht auch verwüstet sind, wenn sein Inneres zerrütet ist, macht ihn fassungslos. Die undurchsichtige, - mir sehr sympathische - Erzählweise dieses Romans macht mitunter schwer zu unterscheiden, was Teil der erlebten Wirklichkeit und was Teil des in Waiblingers Kopf wuchernden, energiestrotzenden Romans.

Wie ich es immer bei besonders gelungenen Romanen mache, kommt verstärkt das Buch selbst zu Wort.

Waiblinger sagt:

"Ja, ich bin überreizt, ich verwechsle Glück mit Unglück, liebe leidenschaftlicher als andere, renne gegen Wände, und manchmal, nachts, bin ich das Geschöpf meiner Alpträume, ein orientalischer Fürst und eine blutgierige Bestie zugleich."

"Schreiben und Leben zusammenführen, so zu verquicken, dass mein Werk und ich eines werden, das Leben die Dichtung und die Dichtung das Leben."

Die Familie Michaelis weist ihn zurück, sieht sich selbst an den Rand gedrängt, kann das ungestüme Wesen des Dichters nicht ertragen.

"Er ist in unser Leben eingebrochen, eigensüchtig, nur darauf aus, sich zu erkunden und uns zu gebrauchen, gewiss begabt, doch eingesperrt in seinem Wahn, mit ein paar Versen das Leben zu steigern"

Julie sagt zu Waiblinger:

"Du gehörst zum niemandem, Wilhelm, du bist entsetzlich frei und vielleicht deshalb auch verloren."

"Was du liebst, zerstörst du auch."

Jedes zweite Kapitel aus der Sicht von Julies jüngerer Schwester Lily geschrieben. Das frühreife Kind erkennt als einzige die ganze Weite von Waiblingers Wesen, sie sieht sich als die wahre Geliebte des Dichters. Sie liebt und versteht Waiblinger und weiß, sie würde mit ihm die Flucht aus der Enge ergreifen - nicht wie die ängstliche, verzagte Julie. Aber auch diese kann nicht verhindern, dass die Berührung mit Waiblinger in einer vielfachen Katastrophe endet.
 





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