Sonntag, 31. Mai 2020

Franz Fühmann: Pavlos Papierbuch

Dieser Erzählungsband gehört schon seit vielen Jahren zu meinen Lieblingen. Zur Recherche für meinen neuen Literaturführer Berlin erlesen! habe ich ihn erneut gelesen und habe mich von Franz Fühmann in die mythendurchwirkte, poetische Welt entführen lassen. Es sind ganz einfache, alltägliche Begebenheiten und Beobachtungen, die er in diesen Erzählungen aus verschiedenen Schaffensperioden versammelt. Drei nackte Männer in der Sauna oder ein Pärchen, das Bekanntschaft mit einer Kindergruppe auf der Schiffsfahrt zu einer Insel macht. Überall dringt das Reich der Fantasie ein. Die Schiffsreisenden treffen auf eine Prinzessin, die einen Zauberer zwingt, den verwunschenen Schwan zu erlösen. Die drei Saunagänger entschwinden in einem fliegenden Auto in ein Hochhausfenster.

In den Erzählungen über seine Kindheit und die erwachende Liebe zum gleichaltrigen Mariechen schlägt Fühmanns Fantasie in einem atemlosen Tempo Purzelbäume

 "...wusste ich plötzlich und gänzlich unwiderstehlich, ich, so wusste ich, ich musste jetzt einfach mit einem Schlag alle Blumen ausreißen, mit Posaunenschall, dachte ich, barst die Wolke, mit einem Schlag alle Blumen, dann würde ein solches Feuer vom Himmel fallen, dass auch ihr Zauber kaputtging und sie samt ihrem Zauber und alles, und ich griff, und jetzt mit dem Bewusstsein meines ganzen Leibes, dass auch ich im Feuer aufgehen und Feuer sein würde, das sie verbrannte, ins Gras nach den Stengeln aller sechs Blumen, da hatte auch Mariechen nach derselben Stelle gegriffen, und während Wahnsinn unsere Augen beschlug und die Grillen verstummten und unsere Fingerkuppen einander berührten, wünschte ich mit der Inbrunst eines letzten Wunsches, alle Menschen könnten uns nun so sehen, wie wir beide da hockten, zwei Magier, über den Tod gebeugt, den Donner zu Häupten und den Blitz in den Händen, die mächtigsten Zauberer dieser Erde …)"

Fühmann, einer der Vorzeige-Schriftsteller der DDR, ist vor allem auch durch seine Lebensgeschichte eine interessante Persönlichkeit. Geboren 1922 im böhmischen Riesengebirge, bekannte sich Fühmann schon als Jugendlicher begeistert zu den Nazis, trat 1938 der SA bei. Im Krieg an der Ostfront geriet er in sowjetische Gefangenschaft und wurde in eine sogenannte Antifa-Schule abkommandiert, wo er sich zum glühenden Sozialisten wandelte. Ab 1949 wirkte er in der DDR, war Funktionär in der nationaldemokratischen Blockpartei und bewältigte seine frühere politische Gesinnung literarisch. Als Autor von Kinderbüchern, Nacherzählungen großer Sagenstoffe wie der Odyssee oder Reineke Fuchs, Schriften über Georg Trakl, Sigmund Freud und E.T.A. Hoffmann sowie zahlloser Lyrik- und Prosatexte avancierte er zu einer der wichtigsten literarischen Stimmen der DDR. In späteren Jahren setzte er sich zunehmend kritisch mit der Kulturpolitik der DDR auseinander und ergriff in Briefen und Aufsätzen Partei für angefeindete Schriftsteller. Auch die Ausbürgerung Wolf Biermanns kritisierte er. Fühmann starb 1982 in Berlin und wurde in seinem Wohnort Märkisch Buchholz beigesetzt.

Die Auswahl in diesem Band  (1982 in der DDR erschienen) gibt einen schönen Überblick der verschiedenen Facetten Fühmanns. Neben den erwähnten Alltagsverfremdungen, die Fühmanns poetischen Zauber aufzeigen, sind auch dystopische Zukunftsvisionen darin, die Ende der 1970er-Jahre entstanden und in dem Band Saiäns-Fiktschen erschienen.

In Die Ohnmacht entwickelt ein Trinker einen Apparat, der es Menschen erlaubt, in die Zukunft zu sehen - nur um festzustellen, dass diese sich unter allen Umständen so verhalten werden, wie es die Zukunftsvision angezeigt hat. Ein Diplomlogiker unterzieht sich diesem Test, protestiert gegen die Umkehrung von Ursache und Wirkung, pocht auf seine Willensfreiheit - und sieht dann den Tod eines Kindes in der Zukunft, den er tatsächlich nicht verhindern kann.

Die Titelerzählung Pavlos Papierbuch handelt in einer Welt nach dem Atomkrieg, in der Bücher aus Papier unter Verschluss gehalten werden. Pavlo kommt durch Zufall in den Besitz eines solchen Papierbuchs. "...es lag... in der Hand wie ein Vogel in seinem Nest, und jede seiner Seiten war ein Gebilde, das ringsum mit Blicken abschreitbar war, ein Maß an Raum, in sich geschlossen, und damit auch ein Maß für die Zeit. Dies Maß war menschlich..."

Es ist  eine Anthologie, Pavlo liest Kafkas Strafkolonie, Villiers de l'Isle d'Adams Die Marter der Hoffnung und eine grausame KZ-Geschichte mit dem Titel Der Nasenstüber. Pavlo lassen diese Erzählungen verstört zurück: Was war ihr Fazit, wo wurde erklärt, was richtig und was falsch ist? Nicht zu Unrecht wurde  diese Kritik absurden Mechanismen der Herrschaft als Anspielung auf die Zustände in der DDR verstanden.

Zwei wunderschöne Homer-Nachdichtungen - Das Netz des Hephaistos und Die Geliebte der Morgenröte - beschließen den Band.