Donnerstag, 17. Juli 2014

Jan Philipp Reemtsma: Im Keller

Die Entführung des Hamburger Sozialforschers und Millionärs Jan Philipp Reemtsma im März 1996 war einer der großen Kriminalfälle der deutschen Nachkriegszeit. 33 Tage lang war Reemtsma in einem Keller angekettet, bevor er nach Zahlung von 30 Millionen Mark Lösegeld freikam. Der Haupttäter Thomas Drach wurde später gefasst und saß von 1998 bis Oktober 2013 im Gefängnis. Wo die Millionen geblieben sind, ist bis heute nicht ganz geklärt.

Nicht lange nach seiner Freilassung veröffentlichte Reemtsma 1997 mit "Im Keller" einen Bericht über seine Entführung. Nun bin ich in einer Flohmarktkiste auf dieses Buch gestoßen, das ich schon längst hätte lesen sollen: Ein Intellektueller schildert, wie er auf brutale Art aus der Welt gerissen und in völlige Ohnmacht gestoßen wird. Und: Das Buch kann die hohen Erwartungen einlösen und ist auch fast zwei Jahrzehnte nach der Tat lesenswert.

Durch das Buch zieht sich die strikte Trennung von außen und innen - unter Mitmenschen und im abgeschotteten Keller: Das sind für den Entführten zwei komplett getrennte Welten, die nicht zusammenfinden. Zunächst schildert Reemtsma die äußeren Vorgänge, wie er sie aus Recherchen und Gesprächen mit der Polizei und seiner Familie rekonstruiert hat: Wie die Kriminellen, die ihn vor der Tür seines Hauses in Blankenese gekidnappt haben, immer wieder Lösegeld-Übergabeversuche scheitern lassen, wie sie schließlich die 30 Millionen erbeuten und ihn selbst einen Tag später im Wald bei Hamburg aussetzen.

Diese Rekonstruktion der Tatsachen, die aus heutiger Sicht ergänzt würden müsste, ist nicht besonders dramatisch im Aufbau. Sie ist auch nicht das Hauptanliegen des Buches. Der Text ist nämlich vor allem ein fein ausgearbeitetes Psychogramm und eine philosophische Erörterung der Frage: "Kann es unter Extrembedingungen so etwas wie ein Individuum überhaupt geben? Der Leser steigt in den folgenden Abschnitten mit Reemtsma hinab in eine andere Welt, die des drei mal vier Meter großen Kellers. Diese Welt befindet völlig außerhalb der Realität. Sie hat ihre eigene Rationalität. Außen ist Reemtsma ein anderer als er drinnen war - auch wenn der Keller Wochen nach der Entführung immer wieder unbarmherzig über ihn hereinbrechen wird.

Reemtsma zeigt diese extreme Spaltung auf, indem er die Schilderung seiner Person außerhalb des Kellers die Ich-Form, für die Person im Keller die Er-Form verwendet. Dabei kommt es zu Wendungen wie: "Ich weiß nicht mehr, was er gedacht hat." Wider Erwarten liest sich das alles flüssig und höchst plausibel.

Ein Gefühl bleibt hängen: Das Schlimmste im Keller sind nicht die körperliche Misshandlung, die Schikanen und die ständige Bedrohung mit dem Tod. Das Schlimmste sind absolute Passivität, Hilflosigkeit, Überwältigt-, Übermächtigt- und Ausgeliefertsein des Mannes, der hier als Tauschware für 30 Millionen festgehalten wird.

"Wer vollständig ohnmächtig ist, ist bei lebendigem Leibe nicht mehr ,da'" schreibt Reemtsma. Er ist, so betont Ich ein ums andere Mal, ist "aus der Welt gefallen", "aus allen sozialen und kommunikativen Beziehungen herausgefallen". Das Er im Keller ist keine Person, "sondern ein leerer Raum, durch den die Gefühle ziehen". Ein Ich, ein Individuum, das sich auflehnen kann, gibt es nicht (mehr).

Den Entführten treibt die Frage um, "ob er überhaupt noch dachte wie ein normaler Mensch" oder längst als verrückt angesehen werden musste. Das konkretisiert sich nicht nur in dem was er tut - er bietet sich den Entführern selbst als Geldbote an, er präpariert eines Scherbe, um sich das Leben zu nehmen - sondern speziell in seinem Denken:  Als die Entführer drohen, ihm einen Finger abzuschneiden, macht er sich Gedanken, von welchem Finger er sich am ehesten trennten könnte (dem kleinen Finger der rechten Hand). Einmal überfällt ihn der wache Wunschtraum, der Entführer solle ihn trösten, ihn berühren, die Hand auf seine Schulter legen. 

Diese als "Stockholm-Symdrom" bekannte Hinwendung des Entführten zum Entführer packt ihn mit Macht. Als er dem Entführer vor einer Geldübergabe "Drive carefully" zuruft (er spricht Englisch mit Thomas Drach), fügt er gleich hinzu: "That's why the call it the Stockholm Syndrome. "
Das ist typisch: Reemtsma beschreibt nicht nur seinen Gefühle, sondern erklärt und interpretiert sie gleich ausgiebig auf einer akademischen Meta-Ebene Vielleicht macht ihm das das Ausgeliefertsein erträglicher. Er selbst sieht es als "ein Sich-Wehren gegen die Reduktion der Welt auf ein überwältigendes Gefühl". Für den Leser gibt es dem Bericht eine zusätzliche Tiefe, die eine reine Schilderung nie vermocht hätte.

Gleiches gilt wohl für Reemtsmas Galgenhumor. Als ihn die Entführer in der Dunkelheit in einem Waldstück bei Hamburg aussetzen verabschiedet er sich mit: "Nice having met you, I can't stay."