Freitag, 20. Juni 2014

Ulrich Tukur: Die Spieluhr

Es gibt unendlich viele Welten.
Über diese nicht ganz neue Annahme hat unlängst der Physiker und Kosmologe Max Tegmark ein Buch veröffentlicht. Theorien gehen davon aus, dass mit dem Urknall Parallelwelten entstanden sind. Alles was passieren kann, passiert auch irgendwo in einem der in unendlicher Zahl parallel vorhandenen Universen.

Ein bisschen so ist es auch im Roman "Die Spieluhr" von Ulrich Tukur. Ja, Tukur kann nicht nur als Schauspieler und Musiker etwas. Wer diesen bibliophil gestalteten Band öffnet, reist sogleich zwischen Parallelwelten hin und her. Um von einer Welt in eine andere zu gelangen und dabei nebenbei auch durch die Zeit zu reisen, dienen mysteriöse Gemälde, Gobelins oder Brücken, mit denen der Autor die surreale Szenerie ausstaffiert hat.

Die Hauptfigur ist ein Schauspieler, mithin Tukur selbst. Er spielt den Kunstsammler Wilhelm Uhde in einer Verfilmung des Lebens der Putzfrau Séraphine de Senlis (1864-1942), die als eine der bedeutendsten Vertreterin der naiven Malerei gilt. Die Dreharbeiten finden zum Teil in einem Schloss in der Picardie statt. Tatsächlich hat Tukur 2008 in einem solchen Film mitgewirkt. Nur, dass er hier seine Erlebnisse ein bisschen weiterspinnt. Eine hervorragende Strategie beim Geschichtenerzählen. 

Und so lässt der Autor den Regieassistenten verschwinden: Wie sich herausstellen soll, hat ihn ein Gemälde verschluckt. Er ist der verhängnisvollen Sogwirkung der traumhaft schöne Marquise von Montrague und ihrer Musik erlegen. Auch der  Tukur-Erzähler selbst kann sich dem Sog der Parallelwelten nicht entziehen. Er landet auf rätselhafte Art und Weise im Jahr 1944 und ist als Staatssekretär verwickelt in Stauffenbergs missglücktes Hitler-Attentat. Wer ist wirklich, wer ist wer? Die Realitätsebenen geraten durcheinander. In einer Welt versteckt sich eine  andere, versteckt sich eine andere. Alles ist ineinandergeschachtelt. Wie bei einer Matrjoschka-Puppe oder zwei gegenüberliegenden Spiegeln

Zu kritteln habe ich durchaus etwas: So fehlen der Story die Spannung und ein echter Knalleffekt. Sprachlich kommt "Die Spieluhr" manchmal etwas schwurbelig daher. Schon der allererste Satz könnte manchem Leser die Lust rauben:
 
„Wie das Leben in der Rückschau aus einer Flut visueller Erinnerungen besteht, keinem rationalen System und ständiger Verwandlung unterworfen, so besteht ein kinematographischer Film aus einer Unzahl systematischer montierter, unveränderlicher Bilder, die zusammengesetzt eine mehr oder weniger ergreifende Geschichte ergeben.“
 
Oft ist Tukurs Sprache zu wenig konkret und schafft es eben nicht, Kino im Kopf zu erzeugen: Da werden "Backwerk" und "Obst" gereicht, drei "Männer" spielen zum Tanz auf. Manches ist allzu klischeehaft. Warum muss ein Tal unbedingt "anmutig" sein?

Aber dies soll mitnichten ein Verriss werden. Die märchenhafte Atmosphäre dieses magisch-realistischen Romans wiegt nämlich alle Schwächen auf. Die Leser wandeln durch eine attraktiv-surreale Zauberwelt wie man sie in Filmen von Tim Burton und Jean-Pierre Jeunet, Juraj Herz' "Das neunte Herz" oder in Martin Scorseses "Hugo Cabret" gesehen hat. Vor allem aber der grandiose  E.T.A. Hoffmann hat Pate gestanden: Menschen verlieren sich in schauerlichen Herrenhäusern, geraten in rätselhafte Zeitschleusen, verwandeln sich unvermittelt in Schmetterlinge, erliegen der Magie der Musik. Der offene Schluss passt hervorragend zu diesem gelungenen hoffmannesken Kleinod.
 
P.S. Wie auf dem Bild zu erkennen ist, muss ich die meisten Bücher, die ich in diesem Blog bespreche, aus der Stadtbibliothek entleihen. Vielleicht hat ja jemand im Verlag Lust, mir ein Rezensionsexemplar einer aktuellen Neuerscheinung zu schicken?