Mittwoch, 27. Dezember 2017

Elena Ferrante: Meine geniale Freundin

Immer wieder sind in sozialen Netzwerken Posts zu lesen à la: Wir Kinder der guten alten Zeit, haben uns die Knie aufgeschürft, sind Fahrrad ohne Helm gefahren, haben was weiß ich getan, ohne behütet zu werden - und es hat uns nicht geschadet.

Blablabla. Wie diese "gute alte Zeit" ausgesehen haben könnte, ist in diesem Buch zu lesen:

"Wir lebten in einer Welt, in der Kinder und Erwachsene sich häufig verletzten. Die Wunden bluteten, vereiterten und manchmal starb jemand daran." Ein Mädchen verletzt sich an einem Nagel und stirbt an Tetanus,  ein Junge will Trümmer wegräumen und wird zerquetscht, "das Blut lief ihm aus Mund und Ohren", ein Viertklässler findet eine Bombe, fasst sie an und stirbt, ein Arbeiter fällt von einem Hochhaus und stirbt, Kinder sterben an Krupp und Tuberkulose, Jugendliche werfen mit Steinen und Feuerwerkskörpern aufeinander.

Im ersten Teil ihres vierbändigen Romanzyklus lässt Ferrante die 66-jährige Schriftstellerin Elena Greco von ihrer Kindheit und Jugend im neapolitanischen Arbeiterviertel Rione erzählen. Nichts ist hier romantisch, hier wird gekämpft, beneidet, belästigt, vergewaltigt, Rache genommen, ausgebeutet, unterdrückt und getötet.

Elena, die Tochter eines Pförtners, und ihre beste Freundin Lila, die Tochter des Schusters, wollen hier raus. Das verbindet sie. Ansonsten sind sie sehr, sehr unterschiedlich. Elena lernt von früh bis spät, besucht das Gymnasium, sehnt sich nach einer anderen Welt als dem schmutzigen Rione.Lila, eigentlich die Begabtere, Aufgewecktere, Listigere - und wohl auch Attraktivere - würde auch gerne die höhere Schule besuchen. Doch als sie das ihrem Vater beibringen will, wirft sie dieser aus dem Fenster.  Sie begräbt ihre Träume, will nur noch reich werden - und zwar mithilfe einer reichen Hochzeit. Doch ihr selbst schwant, das das nicht gut gehen wird.


Elena ist seltsam abhängig von Lila, Sie definiert ihr eigenes Sein über die Freundin. Sie lässt ihre Puppe das gleiche sagen, was zuvor die Puppe der Freundin gesagt hat. Ist Lila in der Grundschule Klassenbeste, so setzt Elena alles daran, ebenfalls schulische Erfolge zu erzielen. Hat Lila einen Verlobten, so erlaubt auch Elena einem Jungen, sie anzufassen.

Glücklich ist keine der beiden. Das weiß der Leser, der Elenas Gefühle bis ins kleinste mitgeteilt bekommt, Lilas Gefühle aber durch den seltsamen Filter dessen, was ihre "geniale Freundin" über sie denkt, ahnen muss.


Aufgrund seiner psychologischen Dichte ist der Roman, der tief schürft und in die Tragödien ganzer Sippen hinabtaucht, nicht leicht zu lesen. Das muss man mögen, kann man aber aber auch.