Dienstag, 31. März 2020

Ingo Schulze: Die rechtschaffenen Mörder

Norbert Paulini aus Dresden ist der letzte Leser von Büchern aus Papier.

Als Antiquar versammelt er zu DDR-Zeiten wertvolle Erstausgaben, Vergriffenes, schwer erhältliche West-Literatur, Kostbares, Lesenswertes - und den entsprechenden Kunden- und Freundeskreis - um sich.

Dann kommt die Wende, für die sich der unpolitische Bildungsbürger  Paulini erst nicht interessiert. Aber sie krempelt sein Leben um. Bücher sind plötzlich nichts mehr wert, sein Haus fällt an Erben aus dem Westen, seine Ehefrau wird als jahrelanger Stasi-Spitzel enttarnt. Was ihm noch bleibt, die Bücher, nimmt ihm das schlimme Elbe-Hochwasser 2002. Er zieht in die Sächsische Schweiz und wird dort - das allerdings ist im Buch nur mit wenigen Sätzen angedeutet - zum offenbar gewaltbereiten Rechtsextremen. Paulini verunglückt am Ende tödlich, als er und seine Freundin Lisa von einer Felskuppe stürzen.

Was macht diesen Roman spannend? Die schillernde Welt der alten Bücher? Die Wandlung der Hauptfigur vom Kulturmenschen zum Reaktionär? Letztere wird jetzt von den meisten Rezensenten in den Vordergrund gestellt, aber im Roman kaum thematisiert. Mich hat etwas anderes fasziniert. „Die rechtschaffenen Mörder“ ist nämlich ein großartiges literarisches Versteckspiel - es folgt damit Klassikern wie Leo Perutz‘ Der Meister des Jüngsten Tages oder Anton Tschechows Drama auf der Jagd.

Im ersten von drei Teilen ist Paulinis Lebensgeschichte erzählt. Der zweite Teil unterscheidet sich davon. Er ist eine Art Tagebuch, in dem der Autor des ersten Teils, ein gewisser „Schultze“ (!), seine Motivation erklärt, Paulini ein literarisches Denkmal zu setzen. Paulini sei der Held seiner Dresdner Jugend gewesen. Er verstehe Paulini als „den großen Leser (…), der über die Zeiten und Systeme hinweg aufgrund seiner Veranlagung und Leidenschaft zum Bollwerk wird gegen das, was uns Büchermenschen bedroht“, der sich „gegen das stemmt, was uns Jahr für Jahr aushöhlt und wegschwemmt und eines Tages nichts mehr von dem übrig gelassen haben wird, wofür wir zu leben geglaubt haben“.

Kann ich als Rezensent nun furchtbar überladene Schachtelsätze kritisieren? Oder die altbackene, platte Sprache in Sätzen wie diesem:  „Selbst meine Eltern, die in Sachen Frauen bei mir an Kummer gewöhnt waren, gaben schnell ihre Reserviertheit Lisa gegenüber auf.“ Nein, kann ich nicht. Denn es ist nicht der Dresdner Autor Ingo Schulze, der hier spricht, sondern der fiktive Dresdner Autor „Schultze“ (ja, wie bei Tim und Struppi).

Und dieser Schultze beginnt, mich Leser einzuwickeln. Eigentlich war Paulini schon immer unsympathisch, geht mir nun auf. Eigentlich war er ja bereits in jungen Jahren ein rechthaberischer, andere belehrender, fast autistischer Kulturbürger - was sich im Alter noch verstärkte. Ein begieriger Leser zwar, aber dennoch ein Mensch ohne Neugier. Das aktuelle Bindeglied zwischen Paulini und dem Autor Schultze ist Lisa: Schultzes Freundin hilft Paulini im Haushalt und im Antiquariat in der Sächsischen Schweiz. Oder ist da doch mehr, das sie mit dem Bücherkauz verbindet?

Der dritte Teil des Buches schließlich stellt nochmals alles auf den Kopf. Schultzes Verlagslektorin macht sich auf den Weg in die Sächsische Schweiz, weil sie Zweifel plagen. Wie sind Paulini und Lisa wirklich gestorben? Und mir als Leser stellt sich die Frage: Bin ich Schultze auf den Leim gegangen? Was von all dem Erzählten kann ich ihm überhaupt glauben?

Ein Buch zum Weiterrätseln und Weiterdenken.

Sonntag, 22. März 2020

Martin Mosebach: Der Nebelfürst

In 42 ebenso kurzen wie spannenden Kapiteln schildert Martin Mosebach hier die Abenteuergeschichte des Journalisten Theodor Lerner. Lerner existierte wirklich. Und wie im Roman unternahm er eine Expedition zur Bäreninsel südlich Spitzbergens, die damals als herrenlos galt. Er nahm sie in Besitz, indem er mitgebrachte Grenzpfähle einsteckte.

Rund um diesen historischen "Nebelfürsten" hat Mosebach eine hintersinnig humorvolle Geschichte gewoben. Bei ihm ist Lerner die begeisterungsfähige Marionette der Hochstaplerin Frau Hanhaus, die mit halsbrecherischen Versprechungen das ganz große Geschäft anzetteln will und immer wieder scheitert - aber, wie es solche Menschen an sich haben, den Kopf doch immer wieder aus der Schlinge zieht. Mosebach ist eine Art Don Quijote, der zwar keine Ritterromane liest, aber sich von Zeitungsartikeln und großen Versprechungen mitreißen lässt und deshalb manchmal tumb und hilflos durch die Handlung taumelt. Im Gegensatz zu Frau Hanhaus ist er wirklich ein Verlierer - auch wenn sich zum Schluss noch die eine oder andere Hintertür für ihn öffnet.

Wunderbare Charakterschilderungen machen dieses Buch aus: ein Laune machendes Porträt der Zeit in der deutsche Emporkömmlinge vom Weltreich träumten, während Pfeffersäcke das große Geld witterten. Besonders lesenswert sind die Passagen, in denen ein Maler namens Courbeaux einmal über die Kunst, verschiedene Arten von Schnee zu malen, referiert, um kurz darauf die unzähligen Schattierungen der Farbe Schwarz zu preisen, in der er eine afrikanische Varietétänzerin verewigt.

Montag, 9. März 2020

Volker Kutscher: Goldstein

Volker Kutschers dritter Roman um Gereon Rath, Kriminalkommissar in Berlin zur Zeit der Weimarer Republik (der erste, "Der nasse Fisch", ist Grundlage der Fernsehserie "Babylon Berlin".

Der Chicagoer Auftragskiller Abraham Goldstein ist in der Stadt: Rath erhält den Auftrag, ihn zu bewachen. Währenddessen misslingt der Einbruch eines jugendlichen Diebespaars, Benny und Alex, im Luxuskaufhaus KaDeWe, und Benny wird dabei tödliches Opfer brutaler Polizeigewalt. Dann stirbt ein Hehler, weitere Tote folgen, darunter ein SA-Mann. Ist das ein Werk des - natürlich entwischten -  Gangsters Goldstein?

In weiteren Rollen: Unterweltboss Johann Marlow, rivalisierende Ringvereine, eine verschwiegene Polizistenclique, die Selbstjustiz übt. Das Berlin Anfang der Dreißigerjahre hat Kutscher atmosphärisch gut eingefangen. Und er verwendet einen Kunstgriff, den ich sehr mag: Er erzählt die Handlung nicht in aller Breite aus, sondern überspringt Geschehenes, lässt Kapitel lässt Kapitel erst später einsetzen und den Leser das zwischenzeitlich Geschehene selbst rekonstruieren. Viele Autoren machen genau das Gegenteil, und das ist das Nervtötendendste, was es gibt: alles zehnmal erzählen, weil eine Figur es ja noch nicht weiß in (der Leser aber schon).

Aber gleichzeitig ist das auch das Problem dieses Krimis. Es gibt zu viele Handlungsstränge, die nicht zusammenkommen. Das hat mich am Schluss verwirrt zurückgelassen.