Sonntag, 19. Januar 2020

Hernán Rivera Letelier: Die Filmerzählerin



Dieses wunderschöne Büchlein ist so berührend,  so poetisch und in seinem Realismus so tieftraurig wie Federico Fellinis Film La Strada. Überhaupt hat mich dieses kleine Meisterwerk in vielem an den Leinwandklassiker  erinnert.

Das Leben ist trostlos und öde in der Salpeterminensiedlung mitten in der chilenischen Atacama-Wüste. Die einzige Abwechslung ist das schäbige Kino, in dem Filme mit Marylin Monroe oder John Wayne laufen. Der nach einem Arbeitsunfall halbgelähmte Vater (die junge Mutter hat die Familie verlassen), seine vier Söhne und die zehnjährige Tochter María Margarita können sich den Eintritt für alle nicht leisten. Also wird die Zehnjährige in einem Wettbewerb dazu auserkoren, ins Kino zu gehen und den anderen zu Hause die Filme nachzuerzählen.

So wird María Margarita zur begeisterten Cineastin und zur fantasievollen, wortgewandten darstellerisch begabten Filmerzählerin. Bald kommen Verwandte, um ihren Filmerzählungen und Darbietungen zu lauschen, Nachbarn bezahlen Eintritt, Bewohner der Siedlung laden das Mädchen in ihre Wellblechhütten ein, um sich von ihr einen Film erzählen zu lassen.

Sie ist dem Zauber des Kinos erlegen. Ich "betrachtete verzückt die staubglitzernde Lichtgarbe über mir". Und sie gibt diese Faszination an ihre Zuhörer weiter. Es ist eine märchenhafte, grenzenlose Welt, in der alles gut sein könnte. Wären da nicht bittere Armut, Unterdrückung, sexuelle Gewalt, Ausbeutung, Neid, zerronnene Hoffnungen und ein neues Medium, das nicht nur den schönen Traum der Filmerzählerin brutal zerstört: das Fernsehen. Wenn eine derart traurige Geschichte alleine durch ihre Poesie so glücklich machen kann, dann ist das große Literatur.

Freitag, 17. Januar 2020

Natalio Grueso: Der Wörterschmuggler

Die geheimnisvolle junge Japanerin Keiko "mit dem scheuen Blick und den honigfarbenen Augen"  lebt in Venedig. Sie empfängt jede Nacht einen Liebhaber. Aber stets nur für eine Nacht, und nur als Gegenleistung für mitgebrachte Geschichten und Verse.

Bruno Labastite möchte unbedingt dieser Auserwählte sein. Gut, dass Bruno nicht nur ein weitgereister Abenteurer und Verführer ist, sondern auch ein erprobter Geschichtenerzähler. Jedes Kapitel dieses Buches ist eine abgeschlossene Episode aus Brunos Leben. Diese verweben sie sich zu einem großen Ganzen. Es geht um einen Jugendlichen, der Wörter schmuggelt, einen traurigen Mann, der sich die Nutzungsrechte an allen geschriebenen und gesprochenen Wörtern gekauft hat, einen unsichtbarer Verehrer in der Oper, ein trauriges Fußballtalent, eine zwergenhafte alte Hehlerin mit Monokel, einen Traumjäger. Die Reise führt nach Buenos Aires, Shanghai, Paris, Genf, Moskau und an viele weitere Orte.

Das hört sich alles wunderbar an. Ist es aber nicht. Denn gut erzählte Geschichten leben von Beispielen. Das erst macht einen Cuentacuentos, einen Fabulierer aus: Er lässt Szenen lebendig vor Augen treten. So entsteht Kino im Kopf. Natalio Grueso aber macht es sich leicht. Er formuliert so vage wie möglich. Und genau deshalb reißen seine Geschichten nicht mit. Da gibt die Hauptperson dem Taxifahrer "ein großzügiges Trinkgeld". Schlecht. Ich will die Münzen klimpern hören, den Schein knistern, will wissen, wie viel Geld in welcher Währung sie dem Fahrer zusteckt und mit welchem Blick dieser reagiert. Jemand gießt sich "einen großzügigen Whisky ein". Dasselbe!

"Dieses überwältigende Gefühl", wenn das Kind an der Hand seiner Großvaters ins Bombonera-Fußballstadion von Buenos Aires geführt wird. Wie einfach wäre es  doch, dieses Gefühl mit plastischen Szenen - und ohne Klischees - heraufzubeschwören.

Es gibt einen Mann, der Menschen Bücher verschreibt, ihnen mit seinen Empfehlungen hilft. Und was empfiehlt er dem bezaubernden Mädchen, das er vor der Apotheke trifft? "Ich würde dir einen Liebesroman verschreiben." Der Mathestudent, der "mit Drogen liebäugelt" bekommt "eines von Thomas de Quincey" verschrieben. Die reife Dame, die sich am untreuen Ehemann rächt, "eines von Choderlos de Laclos". Lauter vertane Chancen.

Die Dame zieht vor dem rätselhaften Opernbesuch "das schwarze Kleid" an, darunter trägt sie "edle Dessous" und sie gibt "zwei Tropfen Parfum auf den Hals und die Handgelenke". Parfum? Wie hölzern, wie blutleer kann man erzählen? Wenn der Erzähler schon keine Fantasie hat, dürfte es dem Leser umso schwerer fallen.

Zum Frühstück gibt es "Gebäck" und "Cerealien", im spanischen Original also wahrscheinlich bollería oder repostería und céréales - auch nicht besser. Ich könnte noch unendlich viele Beispiele nennen, denn es gibt sie auf jeder Seite.

 Ich muss es einfach so drastisch formulieren: Natalio Grueso ist ein sehr, sehr schlechter Erzähler. Er hätte keine Chance bei Keiko.

Mittwoch, 1. Januar 2020

Jan Peter Bremer: Der amerikanische Investor

Nichts. Das passiert in diesem Buch von Jan Peter Bremer. Buchstäblich nichts. Bremer ist seit vielen Jahren einer der besten deutschsprachigen Schriftsteller. Und der einzige, der so grandios über nichts, nichts und wieder nichts schreiben kann.

Der Erzähler, ein Schriftsteller, liegt in seinem Bett und lässt die Gedanken schweifen. Besser gesagt haben ihn seine Gedanken fest im Griff. Er sinniert über das Kreuzberger Mietshaus, in dem er mit Frau und zwei Kindern wohnt, und das von einem amerikanischen Investor gekauft wurde, der es nun sanieren lässt. Die Böden senken sich ab und Wände bekommen Risse. Von der Mieterberatung hat der Erzähler widersprüchliche Signale erhalten. Er sorgt sich um die Zukunft und denkt darüber nach, dem amerikanischen Investor einen Brief zu schreiben. Diesem schwer zu fassenden Unbekannter, von dem er gelesen hat, dass er an Bord eines Flugzeuges lebt. Aber das ist gar nicht so leicht, wenn man obendrein so müde ist.

Die Sorge um die Wohnung, die Unfähigkeit zu reagieren, die Trägheit, die davon abhält, den ersten Satz zu schreiben, lässt einen inneren Monolog entstehen. Die Worte spinnen sich weiter, die Gedanken malen sich aus was wäre, wenn.... wortreich und in plastischer Sprache hadert der Erzähler mit seiner vermeintlichen Sprachlosigkeit. Die Frau, die Kinder, der Hund, der frühere Hausmeister, der kleine Ali - alle, die seinen Weg kreuzen, leben intensiv wie in einem Fiebertraum auf. Anders als die unnahbar-bedrohlichen Figuren in den Romanen und Erzählungen Franz Kafkas haben diese Fremden Gefühle, hegen Zorn oder Hinterlist, handeln überlegt oder impulsiv. Der Erzähler steigert sich hinein, überschlägt sich, seine Einfälle verselbstständigen sich, er gibt sich larmoyant, selbstzufrieden, eitel, faul, hysterisch. Das ist mitunter zum Schreien komisch.