Dienstag, 19. August 2014

Angela Bachmair: Wir sind stolz, Zigeuner zu sein

„Wir sind stolz, Zigeuner zu sein", hat die Augsburger Journalistin Angela Bachmair ihr Buch über die Rieser Sinti-Familie Reinhardt genannt. Der Ausspruch stammt von der 70-jährigen Anna Reinhardt, deren Erinnerungen die Autorin aufgezeichnet hat. Im Mittelpunkt steht die oft verdrängte Zeit bis 1945: „Porajmos" heißt auf Romanes „Verschlingen" und steht für die grausame Verfolgung und Ermordung der Sinti und Roma durch die Nationalsozialisten.
 
Die weit verzweigte Familie Reinhardt, die im Ries und in Württemberg zu Hause ist, traf der Nazi-Irrsinn mit Wucht. Sie mussten Schikanen wie „Rassenuntersuchungen" über sich ergehen lassen, wurden nach Polen deportiert und mussten Zwangsarbeit leisten. Familien wurden auseinandergerissen, nicht wenige kamen Konzentrationslagern um. Auch die Rückkehr nach Nördlingen und der Neuanfang war schwer. Im Kampf um Wiedergutmachung stießen die Reinhardts auf Unverständnis und Ablehnung: Oft saßen in den zuständigen Behörden noch die alten Nazischergen wie ein Polizeikommissar, der 1954 über die „angeborene Unsauberkeit der Zigeuner" dozierte.
 
Das Buch berichtet vom Aufenthalt Oberdorf, wo die Reinhardts in Bürgermeister August Hirsch einen ihrer wenigen engagierten Fürsprecher hatte. Aber auch vom großen Zusammenhalt der Familie, die sich mit Altmetallhandel durchschlug und erfolgreiche Fußballer und angesehene Musiker hervor brachte.
 
Bachmairs großes Verdienst ist, die Familiengeschichte vor dem Vergessen bewahrt zu haben. Behutsam, wissenschaftlich genau, geradezu detailversessen zeichnet sie den Lebensweg der Reinhardts nach. Das mit Fußnoten gespickte Werk taugt auch zum Nachschlagen. Bemüht, das Erinnerte einzuordnen, kommentiert Bachmair allerdings vieles, was allein stehen könnte. Das Buch wäre packender, würden Anna Reinhardts erschütternden Erzählungen einfach nur wirken. Wie etwa diese: Als fünfjähriges Mädchen bekommt Anna, eben in Nördlingen angekommen, ihre erste Puppe. Sogleich schneidet sie ihr die Haare kahl: So wie man es im Lager mit ihr selbst gemacht hat. Kommentare wären nicht nötig.
 
Dennoch: ein wichtiges Buch.
 
 
Angela Bachmair: Wir sind stolz, Zigeuner zu sein. Vom Leben und Leiden einer Sinti-Familie. Wißner Verlag. 216 Seiten. 9,80 Euro
 
 
Erschienen in Ipf- und Jagst-Zeitung / Aalener Nachrichten am 20. August 2014.

Sonntag, 10. August 2014

Edgar Hahnewald: Der grüne Film

Es ist nicht so einfach, Landschaft zu beschreiben, ohne auf die immer gleichen Formulierungen zu verfallen. Dieses Wanderbuch von Edgar Hahnewald aus dem Jahr 1920, zeigt wie es geht. Was ein Schreiber alles entdecken kann, wenn er genau hinsieht: Jede Wolke, jedes Kornfeld, jede Pfütze inspiriert diesen Mann zu Wortzaubereinen. 

Beschrieben sind 20 Wanderungen rund um Dresden zu allen Jahreszeiten. Zum Lesen ist es völlig unerheblich, ob man dieses Landschaften kennt oder ob man sie vielleicht niemals zu Gesicht bekommen wird. Sie ist einfach schön, diese Art von Naturpoesie, wie sich auch in alten Reiseführern und frühen Merian-Heften immer wieder auftaucht. 

Natürlich würde die Sprache heute teils als schwülstig und kitschig empfunden. Und vielleicht war sie es damals schon. Na und? Dafür macht sie glücklich und sorgt bei Lesern, die die Natur lieben und gerne wandern für ständige Wiedererkennens-Erlebnisse. 

Obendrein kommt Hahnewalds Sprache fast ganz ohne tote, abgedroschene Bilder aus. Jeder Vergleich passt zur Situation und ruft ein bestimmtes Gefühl, einen Klang, einen Geruch wach. Hier ist alles lebendig: Wege wandern oder schreiten, Häuser ducken sich oder stecken die Köpfe zusammen und flüstern. Blumiger geht es nicht: Wenn Hahnewald beschreibt, mit welchen Finten und Verführungen der verschiedenen Blüten es fertig bringen, Falter und Hummeln anzulocken, sieht man den Oberlehrer in Kniebundhosen vor sich, der seinen Schülern von Pflanze zu Pflanze vorauseilt. Der Autor regt sich auf über allzu akkurat geschnittene Hecken und geschmacklose Gartenzwerge, aber auch über die „Biervandalen“, die johlen und Blütenzweige abreißen. Ja, ja.

Warum gibt es solche Wanderbücher heute nicht mehr? Drängt sich die Natur nicht mehr so auf wie früher und tritt mehr in den Hintergrund? Oder haben wir das Sehen und das Achten auf Kleinigkeiten verlernt? Empfinden wir einen Sonnenaufgang im Nebel oder Herbstgewitter über einem abgeernteten Kornfeld nicht mehr als spektakulär, weil wir von allen Seiten zugedröhnt werden? In jedem Fall finde ich, dass eine solche Herrlichkeit nicht in Vergessenheit geraden darf. Deshalb hier ein paar besonders schöne Stellen: 

„Unter der treuen Aussicht zweier schlanker Kiefern dehnt sich eine Lichtung wohlig in der Sonne.“

„Der Zauber des Laubteppichs wird noch erhöht durch huschende Sonnenlichter, die am goldenen Boden zittern.“

„Hinten im Lichtglast breitet sich die große Stadt, haus an Haus, vom Silbergürtel der Elbe umflossen. Die Türme ragen klar und deutlich aus dem Häusergewoge empor."

„Der Weg verlässt die Enge und tritt hinaus auf lichtfunkelnde Höhen.“

„Auf waldigem Felsthrone träumt das Dorf Coschütz im Sonnenzauber, vom Windberg überwölbt.“

„Es ist ein still beschaulicher Gräbergarten. Aus dem tiefernsten Schatten der Zypressen blickt dich das lenzgläubige Himmelschlüssel fragend an ob du ihm sein freudiges Blühen an dieser Stätte verwehren möchtest."

„Und darüber hinaus blaut der duftige Kranz sonniger Höhen weltenweit.“

„Tiefen Frieden, leuchtende Sonnenfreude atmet alles.“

„Im Wiesengras frohlocken farbenglühende Blumenaugen im Lichte.“

„In freudigem Schauen versunken, weilt der Blick in weiter Ferne. Mit einem weltumfassenden Zuge möchte er all die Schönheit heimtragen, hinein ins graue Einerlei des Alltags.“

„Traumverloren, als habe ihn die Schönheit des Geschauten gepackt, zieht der Weg hinein in den Wald, an einem hoheitsvollen Buchentempel vorüber.“

„Lange könnte man hier sitzen, immer neue, feine Reize tun sich dem Auge kund.“

"Feld um Feld wallt die prangende Flut der Ähren, die Dörfer liegen wie Stille Inseln im goldnen Meere, und weit draußen, wo die wogende Getreideflut am Riesenleibe der Stadt verbrandet, blitzt der Strom und blaue Höhen Flimmern im Licht."

 

P.S.: Das Papier, auf dem dieses alte Buch gedruckt ist, muss eine besondere Zutat haben: Es glitzert in der Sonne. 

Robin Sloan: Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra

Der arbeitslose Webdesigner Clay Jannon aus San Francisco nimmt eine Stelle als Aushilfe in einer seltsamen 24-Stunden-Buchhandlung an. Bald stellt er fest, dass die meisten Kunden nicht kommen, um sich eines der Bücher zu kaufen, die sich hier in engen Gängen bis in schwindelerregende Höhen stapeln. Vielmehr sind es Mitglieder eines verschworenen Clubs, die mit Hilfe ausgewählter Bücher, die sie ausleihen und zurückbringen, einen uralten Code knacken wollen.
 
Clay dringt immer tiefer in diese Geheimgesellschaft vor, die sich zum Ziel gemacht hat, ein von Aldus Manutius (ein üblicher Verdächtiger in solchen Romanen, die am Okkulten kratzen, siehe auch hier) verschlüsseltes Buch zu enträtseln. Im Gegensatz zu den älteren Damen und Herren, die sich mit ihren althergebrachten Methoden die Zähne ausbeißen, setzt Clay auf seine Beziehungen zum Google-Konzern: Mit dessen geballter Rechner-Power möchte er das Jahrhunderte lang gehütete Geheimnis lüften.
 
So weit die Handlung dieses Romans, der zwar nicht schlecht geschrieben ist, aber auch nicht berauschend. Immerhin thematisiert er die Tatsache, dass wir mittlerweile gewohnt sind, dass Google alle unsere Fragen beantwortet: Dass das nicht immer funktioniert, hat mancher noch nicht begriffen.
 
Ansonsten plätschert die Story so vor sich hin, ohne große Überraschungen. Ganz unterhaltsam, wenn da nicht das extrem alberne Schlusskapitel wäre.

Dienstag, 5. August 2014

Baltasar Gracián: Handorakel oder Kunst der Weltklugheit

Tagtäglich zerbrechen wir uns den Kopf über tausend Kleinigkeiten: Soll’s der Toilettensitz aus Kunstharz oder doch der aus Kiefernholz sein? Als Vorspeise Paella oder Caldo con Pelota? Altglas a la española in den Hausmüll werfen oder zum kilometerweit entfernten Container kutschieren? Parkgebühren bezahlen oder auf das Glück vertrauen, dass keine Politesse vorbeikommt?

Philosophen sind da anders. Sie machen sich nur über die wirklich wichtigen Fragen des Lebens Gedanken. Das unterscheidet sie von uns Normalos und deshalb fallen jedem gleich Dutzende berühmte Philosophen, aber nur wenige berühmte Sanitärartikelverkäufer ein.

Eine der wichtigsten Fragen, über die sich Philosophen den Kopf zerbrechen, lautet: „Wie sollen wir handeln?“ Die Deutschen können sich da an ihren Immanuel Kant halten: „Demnach muss ein jedes vernünftige Wesen so handeln, als ob es durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reich der Zwecke wäre“, schrieb der. Hm. Und was bedeutet das jetzt für das Altglas? Und für die Vorspeise?

Und wie sollen die Spanier handeln, die keinen Kant in ihren Reihen haben? Martin Heidegger solle seinen Freund José Ortega y Gasset einmal gefragt haben, warum es in Spanien so wenige Philosophen gäbe, worauf jener zurückfragte: „Warum gibt es in Deutschland so wenige Toreros?“

Das mit den spanischen Philosophen stimmt aber nicht so ganz, denn es gab neben Ortega y Gasset („Gespräch beim Golf oder Über die Idee des Dharma“) zumindest noch einen, den Jesuitenpater Baltasar Gracián y Morales (1601-1658), der auch heute noch amüsant und aufschlussreich zu lesen ist. In seinem Buch „Handorakel und Kunst der Weltklugheit“ (das unter anderem auf der Internetseite „capitalista.de – Mehr Netto“ bestellt werden kann) redet er Klartext.

Klugheit heißt für ihn ungefähr dieses: Handle so, dass du andere von dir abhängig machst. Erwarte nichts von deinen Freunden. Benutze den anderen als Werkzeug für deine Zwecke. Sei misstrauisch jedermann gegenüber und verhalte dich so, als würdest du ständig beobachtet.

Dieses Büchlein ist – auch in der deutschen Übersetzung von Arthur Schopenhauer – unbedingt lesenswert! Und beim Altglas-Problem vielleicht sogar hilfreicher als der alte Kant!


Erschienen in Costa Blanca Rundschau Nr. 64, Woche 15/2006