Sonntag, 30. Dezember 2012

Pierre Magnan: Der Mörder mit der schönen Handschrift

Ein Krimi des in diesem Jahr verstorbenen Autors Pierre Magnan, der 2006 auf deutsch erschienen ist. Das französische Original ist bereits von 1986. Diese Mördergeschichte aus der Haute Provence macht durchaus Spaß, auch wenn sie manchmal arg am Reißbrett entworfen scheint und einige Längen aufweist.

In einer beklemmenden Szenerie, in der durch düstere Schluchten der Mistral heult und die verstockten Bewohner windschiefer Häuser in abweisenden Bergkäffern viel verbergen und wenig sprechen, lässt Magnan die Köpfe rollen: Nacheinander werden mehrere alleinstehende reiche Damen umgebracht, die allesamt einer alten verzweigten Familie angehören. Jedesmal kündigt sich der Mörder beim Opfer mit einer schön geschriebenen Botschaft an. Wenn wieder das Knattern eines Mofas im Dorf zu hören ist, droht Unheil.

Pluspunkte sind die schrulligen Figuren: der pensionierte Kommissar Violette, den seine Intuition und sein Gespür für die Gegend und ihre Menschen auf die Spur bringen, die umworbenen und begehrten, aber doch todunglücklichen Damen, eine verschrobene Kartenspielerrunde, der Mörder selbst, der auf seine skurrile Art höchst bemitleidenswert ist. Auch die Landschaft, die Magnan mit bildreicher Sprache zum Leben erweckt, bietet eine höchst überzeugende Kulisse.

Schade sind die vielen Wiederholungen, die das Buch unnötig in die Länge ziehen. Warum etwa muss jeder der Morde, die alle nach dem selben Schema ablaufen, in aller Breite erzählt werden? Es ärgert ein bisschen, jedesmal nach weiteren 50 Seiten festzustellen, dass alles so gelaufen ist wie immer. Weniger wäre hier mehr gewesen.







Samstag, 22. Dezember 2012

Passig/Lobo: Internet - Segen oder Fluch

Ja, dieses Buch ist so global angelegt, wie es klingt. Es macht sogar den Versuch, mehr als eine Momentaufnahme des Jahres 2012 zu sein. Aber das ist bei im weitesten Sinne medientheoretischen Werken immer sehr schwierig, wenn sie nicht rein historisch angelegt sind.

Dennoch ist den Autoren Kathrin Passig und Sascha Lobo wenig vorzuwerfen, denn sie räumen sehr systematisch mit Totschlagargumenten, falschen Bildern und Ideen im Kopf auf, die die Diskussion um das Internet behindern. Neu war mir der hervorragende Begriff der "reductio ad Hitlerum", eine Sache durch die Behauptung zu widerlegen, das gleiche habe auch Hitler gesagt, gedacht oder gar gemacht.

In einer Weise, die Vergnügen macht, durchaus selbstironisch ist (traut man Sascha Lobo gar nicht zu), und in ganz lichten Momenten Woody-Allen-würdig auf den Boden der Tatsachen zurückholt, werfen die beiden Fragen nach Privatsphäre und Datenschutz in sozialen Netzwerken und nach neuen politischen Beteiligungsmodellen auf. Ist es plausibel, dass sich der Mensch durch sein technisches Umfeld extrem verändert hat, die politischen Entscheidungsprozesse aber die gleichen sind wie vor 50 Jahren? Gute Frage.


Das gute alte Rieplsche Gesetz wird hier mit Recht auseinandergenommen. Das neue Medium verdrängt natürlich das alte, alles andere sind theoretische Spielereien.

Zitat: "Es geht immer auch etwas verloren, an dem die Herzen netter Menschen hingen. Schneller, als man denkt, steht man in diesem Prozess auf der anderen Seite, und dann tut einem die frühere Verurteilung des Alten ebenso leid wie alles, was man einst in jugendlicher Hartherzigkeit über Bäuche, Haarausfall und Falten geäußert hat. Nur wenige Menschen können sich wie geschickte Surfer ein bisschen länger auf dem Wellenkamm des Fortschritts halten, und auch ihnen gelingt das nur in manchen Bereichen ihres Lebens."

Passig und Lobo haben zu vielen Themen viele Schnipsel zusammengetragen. Sympathisch, dass es keine zusammenfassende Leitidee gibt, keine Botschaft, außer der, die sich im Titel ankündigt. Allerdings verheddern sich die beiden allzu oft im Sowohl-als-auch, wenn sich der Leser sehnlich eine klare Ansage wünscht. Es sei eben ein weites Feld, dieses Internet, heißt es dann sinngemäß (zu) oft.

Mittwoch, 7. November 2012

Augusto Cavadi: Die Mafia erklärt für Touristen

 
Ein Mitbringsel aus dem Sizilienurlaub. Aber der Titel führt in die Irre: Dieses 50-seitige Büchlein erklärt gar nichts. In Interviewform stellt sich der Autor selbst globale Fragen nach Ursprung, Struktur und Zukunft der Mafia, die er ebenso global und vage beantwortet.

Zu mehr als Binsenweisheiten reicht es nicht: Die Mafia hat sich immer an die jeweiligen politischen Verhältnisse angepasst. Frauen spielen in der Mafia - wie in der Gesellschaft überhaupt - eine immer wichtigere Rolle. Was die Zukunft der Mafia anbelangt, sollte man weder zu optimistisch noch zu pessimistisch sein. Aha.

Keine Namen, keine Fakten, keine Geschichten, keine Hintergründe. Aus journalistischer Sicht: ein schlechter Interviewer, der einem ausweichend antwortenden Gesprächspartner nicht auf den Zahn fühlt.

Der typisch mediterrane Sachbuchstil der Substantive und Schachtelsätze wird hier auf die Spitze getrieben. Das Ganze klingt wie eine mittelmäßige Uni-Hausarbeit. Was auch an dem miserablen 1:1-Übersetzer liegt, der sich keinerlei Mühe macht, auf die deutsche Sprache einzugehen. Vieles ist schlicht falsch übersetzt. Wer einen Mord veranlasst, ist ein Anstifter, kein "Mandant". Und was bitte ist "periti", ein Begriff, der einfach unübersetzt hingeklotzt wird?

Kostprobe: "Umso mehr, wenn man bedenkt, dass diese Jahrhunderte lange Verankerung auf ein Territorium wahrscheinlich die Mafia spezifisch kennzeichnet: ein Archipel von geheimen kriminellen Assoziationen einerseits und ein subtiles Gewebe von symbolhafter, ethischer und interpersoneller Beihilfe andererseits, Macht und finanzielle Gewinne zu erobern widmen." Capice?

Oder: "Und wenn es stimmt, dass gewisse Grundorientierungen, die für linke Parteien und Gewerkschaften typisch sind, für die Mafia grundsätzlich und kulturell schwer verträglich sind, hat diese Tatsache in der Vergangenheit nicht vermeiden können - und so könnte auch der Fall in der Zukunft sein -, dass die Mafiosi und ihre Freunde versucht haben, sich in linksorientierten Organisationen einzuschleichen und im allgemeinen das gleiche versuchen, immer wenn diese Organisationen aus der Opposition an Regierung kommen."

Fazit: Touri-Nepp. Finger weg.

Montag, 22. Oktober 2012

Wer war Ioan Culianu?

Man sollte meinen, die Antwort in Ted Antons dokumentarischen 350-Seiten-Roman „Der Mord an Professor Culianu: Rekonstruktion eines Verbrechens“ von 1996 (deutsch 1999) zu finden.

Die Zutaten, die das wirkliche Leben liefert, wären eigentlich perfekt: Ein rumänischer Religionswissenschaftler im Chicagoer Exil, der sich vor allem mit den zwielichtigen Aspekten des Religiösen wie Magie, Häretik, Gnosis, Okkultismus im Zeitalter der Renaissance beschäftigt, wird am 21. Mai 1991 – wahrscheinlich von Schergen der nach der Wende immer noch aktiven Securitate – erschossen. Culianu hatte sich kritisch mit den Erben Ceaucescus auseinandergesetzt. Der Mord an ihm ist bis heute nicht aufgeklärt worden.

Aber wie grottenschlecht hat Ted Anton diese Geschichte umgesetzt. Anton bekam zwei Stipendien, um die Lebensgeschichte Culianus nachzuerzählen. Er trägt alle Dokumente zusammen, die er irgendwie bekommen kann, führt offenbar recht oberflächliche Interviews mit Zeitzeugen und achtet penibel darauf, dass auch nicht die winzigste Kleinigkeit unveröffentlicht bleibt. Welche Vorträge Culianu hörte, was er zu Veröffentlichungen von Kollegen sagte – völlig aus dem Kontext – welche Restaurants er besuchte. Unter diesen ständigen Wiederholungen kann Anton das Wichtige nicht vom Unwichtigen unterscheiden.

Der Person Culianu kommt der Leser in keinem Moment näher. Weder was er fühlt, noch wie er denkt. Anton reimt sich lediglich verzichbare Gemeinplätze à la "er freute sich darauf" und "sie genossen die Zweisamkeit" zusammen. Auch das Gedankengebäude Culianus hat er ganz offenbar nicht verstanden. X-mal betet er herunter, dass Culianu Grenzen zwischen Magie und Realität als fließend betrachtet.  Er zitiert Culianus Ansicht,"dass der Geist Welten ersinnt und sie so real macht, dass sie tatsächlich real werden." Darüber kommt er nicht hinaus.


Auch über den Religionsphilosophen Mircea Eliade, der Culianos Vorbild und zeitweise auch dessen Mentor war, erfährt der Leser nur Oberflächliches:Der Mensch fühle sich in der modernen Welt verloren und träume vom "Mythos der ewigen Wiederkehr", habe Eliade geschrieben. Der Leser lernt nichts über die Magie der Renaissance, nichts über Culianus Lieblingsgelehrten Giordano Bruno, obwohl er viel darüber lesen muss.


Dieses ungelenke Zusammengestöpsel ohne jeden roten Faden nimmt jede Lust, sich mit weiter mit Culianu und seinen Büchern zu befassen. Oder vielleicht weckt es gerade diese Lust: Denn so blutleer, so teilnahmslos und langweilig wie diese Schilderungen kann ein Wissenschaftler, der sich mit offensichtlicher Leidenschaft Alchemie, Gnostikern, Manichäern widmete, der obendrein ein, wie es einmal beiläufig heißt, "koboldhaftes Gesicht" hatte, gar nicht sein.

Mittwoch, 5. September 2012

Christian Kracht: Imperium

Gibt es an Christan Krachts "Imperium" irgendetwas auszusetzen? Natürlich nicht. Es ist ein Meisterwerk. In bewusst altfränkisch-verschmitztem Sprachfluss - Kracht vergleicht ihn im Gespräch mit Denis Scheck selbst mit Erich Kästner - erzählt er die Geschichte von August Engelhardt, einem Nürnberger Lebensreformler, Nudisten und Veganer der wilhelminischen Kaiserzeit.

Engelhardt kauft im Bismarck-Archipel eine Insel und züchtet dort Kokosnüsse, von denen er sich fortan ausschließlich ernährt. Nicht nur mit dem von ihm verachteten deutschen Südsee-Kolonialzirkus, auch mit vereinzelten Anhängern, die ihn auf dem Eiland besuchten, zerstreitet sich Engelhardt, den einseitige Ernährung und Alleinsein zunehmend krank und kauzig machen.

Cameo-Auftritte haben Hermann Hesse, Thomas Mann und Franz Kafka - alle durch kurze Schlaglichter herrlich in ihrem Wesen getroffen. Aber auch Kapitän Christian Slütter, der tragische Held aus Hugo Pratts Corto-Maltese-Comic "Südseeballade" darf in dieser perfekt inszenierten Schmierenkomödie mitspielen, an deren  Bühnenhimmel sich unverkennbar die schwarzen Wolken von Weltkrieg und Naziwahn zusammenziehen. Der Traum vom neuen Menschen wird nicht wahr. Er erweist sich als Alptraum.

Wer taucht auf? "Ein tamilischer Gentleman, dessen blauschwarze Haut in seltsamem Kontrast zu den schlohweißen Haarbüscheln stand, die ihm dergestalt aus den Ohren ragten, als seien sie links und rechts an seinem Kopf befestigte, wollige Blumenkohlbüsche". Ich schätze, Kracht hat einen solchen auf seinen Reisen gesehen. Ein australischer Soldat und Vergewaltiger kommt aus der Stadt Wagga Wagga – hier vermute ich erfreut, dass Kracht das Hinweisschild auf diese Partnerstadt bei einem seiner Besuche in Nördlingen aufgefallen ist.

Ein durchnässter Berliner lehnt an einer Hauswand "und isst, mesmerisiert kauend, eine jener labberigen Bratwürste. Die überfettete, gleichgültige Trostlosigkeit, das graue Lamentat seiner borstig geschnittenen Haare, die öligen Wurstsprenkel zwischen seinen groben Fingern". Eine junge Frau schleicht nachts über ein Schiffsdeck "wie eine ingwerfarbene, desinteressierte Katze". Alles Szenen wie von einem ratternden Kinematographen vorgeführt. Kinematographen-Ästhetik, Kästner-Ton. Lesen.

Dienstag, 28. August 2012

Leo Perutz: Der schwedische Reiter (1936)

Ey sapperment!Wenn Ihr schon unbedingt historische Romane lesen müsst, nehmt  diesen. Einen besseren gibt es nicht: so märchenhaft so verwoben und verwunschen, so magisch und mythisch und dennoch knallhart. Die Reichen sind reich, die Armen sind so arm, dass es kracht, und bleiben es ihr Leben lang. Wer betrogen wird, betrügt, wer verrät, der wird verraten - so ist das Spiel. Im eisigen Schlesien des 18. Jahrhunderts und heute.

Dieser mehrfache Rollen- und Identitätstausch, der sich zwischen einem  Dieb und einem schwedischen Soldaten abspielt, ist ein Glanzstück an Handlung, lässt den Leser traurig und zornig zurück, und gibt ihm doch das Gefühl, alles müsse haargenau so ablaufen. Liebe Autoren historischer Romane: Bitte, bitte eine Scheibe abschneiden!





Freitag, 13. Juli 2012

Andrew Crumey: Rousseau und die geilen Pelztierchen

Dieser Roman von Andrew Crumey aus dem Jahr 2000 (2003 auf deutsch erschienen) besitzt drei Erzählstränge: Mr. Mee ist ein 86-jähriger Zausel der Jetzt-Zeit, der - ähnlich dem Peter Kien in Canettis Blendung -  weltfremd zwischen seinen Büchern lebt. In einem dieser Bücher stößt er auf die Sekte der Zanthiker, die Feuer für eine Lebensform hielt, und kommt über diese zur geheimnisvollen Enzyklopädie eines gewissen Rosier. Bei seinen Recherchen zu Rosiers Enzyklopädie macht der völlig unbedarfte Mr. Mee erstmals Bekannschaft mit dem Medium Internet und - ganz nebenbei - auch mit dem weiblichen Geschlecht. Zwar verlässt ihn seine treue Haushälterin, doch er lernt die Studentin Catriona kennen, die ihm gegen entsprechende Bezahlung zu ganz neuen körperlichen Erfahrungen verhilft.


Ferrand und Minard, sind zwei Kopisten des 18. Jahrhunderts, der eine übervorsichtig, der andere treudoof. Sie sollen ein obskures Manuskript - eben Rosiers Enzyklopädie - abschreiben. Sie verschusseln die Blätter, werden Zeuge eines Mordes und fliehen aufs Land, wo sie die Bekanntschaft des verschrobenen Jean-Jacques Rousseau machen, in dem sie den Mörder zu erkennen glauben.

Hauptfigur Nummer drei ist der frustrierte Literaturdozent Petrie in der Jetzt-Zeit, ein Experte für Rousseau und Proust, der sich in eine farblose Studentin Luisa verliebt hat und auf einen zweiten Frühling hofft.

Natürlich haben alle drei Stränge miteinander zu tun: Petrie hat ein Buch über Ferrand und Minard geschrieben, mit dem sich Luisa für eine Porno-Website ablichten lässt, auf welche wiederum Mr. Mee stößt.

Einige unverhoffte Wendungen in der Handlung sind sehr schön, manches (wie z. B. der dusselige Mr. Mee und seine Sexabenteuer) ist sehr platt gezeichnet. Wunderbar sind dagegen die Anspielungen auf mathematische Probleme und Paradoxa, die Crumey in die Handlung einstreut, vom Ziegenproblem bis zu Schrödingers Katze.

Nett. Aber wenn im Klappentext steht "Umberto Eco und Lawrence Norfolk, Jorge Luis Borges und Italo Calvino stehen Pate", dann ist das einige Nummern zu hoch gegriffen.

Donnerstag, 12. Juli 2012

Pierre Kretz: Der Seelenhüter

Ein kauziger Eigenbrötler ist der Ich-Erzähler in Pierre Kretz‘ Elsass-Roman „Der Seelenhüter“. Frau und Sohn haben ihn nach einem Suff-Unfall verlassen, zur Außenwelt pflegt er außer Besuchen beim Psychotherapeuten keinen Kontakt. Eingeigelt in seinem heruntergekommenen Elternhaus im Nest Heimsdorf lebt er im Keller – dort, wo im Elsass guter Wein reifen kann, wenn man ihm Zeit und Ruhe lässt. 
Ruhe aber hat dieser Einsiedler keine, weil ihn die Geister der Vergangenheit bestürmen: Der Vater im Weltkrieg in Russland gefallen, die Mutter in Bombennächten irrsinnig geworden. Verwandte, Nachbarn und Vorfahren, die in Kriegen verheizt, von wechselnden Machthabern umerzogen und schikaniert wurden. Überzeugt von der „historischen Dimension jedes Menschen“ lebt der Eremit nur mehr in der Vergangenheit und betreibt „Forschungen“.
Heimsdorf und seine Gespenster hindern ihn daran, die Sonne zu sehen und nehmen in seinem Kopf überhand. In seinem feuchten Kellerloch hat er an der Wäscheleine Fotos gefallener Elsässer Soldaten aufgehängt. Mal in französischer, mal in deutscher Uniform, waren sie stets auf der Seite der Verlierer. Der Erzähler sieht sich zum Hüter dieser toten Seelen auserkoren, sie sprechen zu ihm, erzählen ihm Geschichten, nehmen ihn in Beschlag und geben ihn nicht frei.
Wir Deutsche kommen in dieser anekdotischen Zeitreise durch die Vergangenheit des Elsass nicht gut weg. Doch was heißt schon wir? Jede Generation in Heimsdorf erlebt die Nachbarn von der anderen Rheinseite komplett anders. „Sen die namliga nem“, hat der Großvater des Erzählers einst gesagt, als die Nazi-Truppen durchs Dorf marschierten: Es sind nicht mehr die Nämlichen, nicht mehr dieselben, mit denen er im Ersten Weltkrieg gekämpft hat. 
Auf nichts ist Verlass, nichts ist gerecht, nichts hat Bestand – das raubt dem Seelenhüter den Verstand. Auch wenn er am Schluss als Karikatur dasteht: In seiner Verstörung ist er ein Spiegel für das malträtierte und gar nicht idyllisch-gemütliche Elsass. Ein überzeugend und humorvoll erzähltes Stück Zeitgeschichte.

Pierre Kretz: Der Seelenhüter. Roman. 208 Seiten. Verlag Klöpfer & Meyer. 18,90 Euro.

Erschienen in Schwäbische Zeitung, 11. 7. 2012

Freitag, 15. Juni 2012

Martin Suter: Ein perfekter Freund

Martin Suter, die Zweite (in diesem Blog). Diesmal ein Buch von 2002. Wie ist es möglich, dass ein Krimi so vollgestopft ist mit Klischees - ein gutaussehender Italiener, der obendrein Journalist und an einer "heißen Story" dran ist und durch eine Kopfverletzung einen totalen Gedächtnisverlust erleidet, böse Firmenbosse eines multinationalen Konzerns, die zu allen Mitteln greifen, um ihre unsauberen Machenschaften zu vertuschen, eine heißblütige Stripperin aus der Karibik, ein schmieriger Immobilienhai - und trotzdem so gut?

Es liegt daran, dass alles stimmt. Alles muss so sein, denkt sich der Leser, der mit dem Protagonisten Fabio in dessen ausgelöschter Vergangenheit stochert. Der sich mit ihm über den falschen Freund Lucas ärgert, der Fabio die Freundin ausspannt, noch während der im Koma liegt. Der sich über die vielen offenen Fragen am Ende freuen und die Geschichte selbst weiter spinnen darf.

Alles ist folgerichtig erzählt und der Knalleffekt am Ende vom Feinsten. Außerdem weiß Suter, wovon er redet, wenn er beschreibt, wie ein Journalist arbeitet. Das ist bei Romanautoren selten.

Sonntag, 10. Juni 2012

Das Buch der Grotesken

Eine Anthologie von fantastischen und satirischen Erzählungen aus dem Jahr 1914, die ich auf dem jährlichen Büchermarktplatz in Waiblingen - der übrigens immer einen Besuch wert ist - gefunden habe.

"Ein lustig-grausig-buntphantastisches Siebenundzwanziggeschichtenabenteueralbum, für Leute, die nicht schlafen gehen wollen", beschreibt der Herausgeber Felix Lorenz die wilde Sammlung, die von Lukian über die Geschichtenerzähler der Renaissance und die Schelmenromane um Lazarillo de Tormes, Schelmuffsky und Pantagruel, die Meister des Geisterhaften, E.T.A. Hoffmann ("Die Geschichte vom verlornen Spiegelbilde") und Edgar-Allan Poe ("Hopp-Frosch") bis hin zu damals zeitgenössischen Autoren wie Jakob Elias Poritzky und Victor Auburtin alles einsammelt, was unter grotesk zu verstehen ist.

Lorenz schreibt: "So kommt es, dass in den Bereich der Groteske das Grausig-Phantastische ebenso wie das Barock-Satirische und das schlechthin Burleske hineingehören - sie finden sich dort unter dem Zaubermantel eines überlegen spielenden Dichterwillens zusammen." So findet sich denn Mark Twain neben Paul Scheerbart, Christian Reuter neben Villiers de L'Isle-Adam.

Besondere Schätze sind H. G. Wells Besuch mit dem kleinen Sohn im skurrilen Zauberladen, dessen Besitzer unaufhörlich Tricks vorführt, bis die Situation aus dem Ruder läuft, aber auch Brjussows Geständnisse eines grausigen Traumwandlers, der aus reiner Mordlust seine Frau schlachtet. Fabelhaftes Seemannsgarn spinnt Ewald Gerhard Seeliger in der Robinsonade "Hein Krukenbargs Paradies".

Auch wenn die von Lorenz ausgewählten Zeitgenossen nicht alle mit den Klassikern mithalten können und manches (besonders im Bereich der Satire) doch recht gewollt und gespreizt ist, macht es Spaß, beim Lesen die Lügner und Prahlhänse, Paradiesvögel und Blender, Dämonen und Psychopathen, Hypnotisierten und Besessenen, Homunculi und Doppelgänger, Geisterbeschwörer und Hypnotisierten vorbeidefilieren zu sehen. Schaurigschön.

Montag, 4. Juni 2012

Mikkel Birkegaard: Die Bibliothek der Schatten

"Kommen Sie allein, ohne Lesestoff in jedweder Form."

Das ist originell: Die Bücher sind hier die Waffen. Eine Kopenhagener Geheimgesellschaft vereint Männer und Frauen, die die Gabe besitzen, allein durch Vorlesen andere Menschen steuern zu können - wenn sie Sender sind - oder die Gedanken lautlos Lesender mithören und verstärken können - wenn sie Empfänger sind. Der Anwalt Jon stößt zu der Gesellschaft, der sein Vater einst angehörte und entdeckt seine eigene Gabe als Sender. Er trifft aber auch auf eine Schattengesellschaft, deren Mitglieder ihre Gabe missbrauchen.

Eine gute Idee. Schade, dass ihr die Umsetzung nicht gerecht wird. Dabei hat die Atmosphäre, die der Autor erzeugen will, ihren Zauber. Den Leser umfangen nicht nur endlose Bücherstapel, sondern auch verwunschene Gärten, bewachsene Türmchen, rostige Zahnräder und eisenbeschlagene, schwere Holztüren.

Was stört, sind die vielen Ungereimtheiten und inhaltlichen Fehler. Wenn es in einem Antiquariat einen beträchtlichen Brand gibt, dann bleiben die Bücher nicht unversehrt, nur weil sie nicht verbrennen: Sie wären schwer rußgeschädigt und der Antiquar könnte nicht - wie im Hauptschauplatz "Libri di Luca" - direkt nach den aufwendigen Löscharbeiten zur Tagesordnung übergehen.

Auch die Sprache ist nicht besonders lebendig, sondern oft hölzern und bürokratisch. Die Handlung ist nicht stimmig, zu konstruiert, hat keine zwingende Logik. Die Spannung fehlt vollkommen.Bis zum Schluss nimmt die Lust umzublättern nicht zu. Nicht lesenswert.

Donnerstag, 24. Mai 2012

John Hart: Das eiserne Haus

Lohnt es, sich den Namen einer Figur zu merken, wo sie doch schon auf der nächsten Seite über den Haufen geschossen oder auf brutalere Art um die Ecke gebracht werden könnte? In John Harts rabenschwarzem Thriller „Das eiserne“ Haus fließt reichlich Blut. Wer die harte Gangart liebt und leicht trashige Sätze wie „Jimmy war ein Schlachter, Michael ein Chirurg“ (über zwei Berufskiller) abkann, darf sich auf Spannung satt in einem nervenzerreißenden Plot freuen.
Der New Yorker Killer Michael gerät ins Visier der Mafia. Als die Gangster auch Michaels menschenscheuen Bruder Julian bedrohen, der als Jugendlicher von einem reichen Senator adoptiert wurde, macht sich Michael auf den Weg in die Berge von North Carolina, um Julian zu schützen. Doch das dortige Anwesen des Senators ist alles andere als eine heile Welt: Aus einem Gartenteich wird eine Leiche nach der anderen gefischt. Die Polizei verdächtigt Julian des Mordes.
Michael will Licht ins Dunkel bringen, und stößt dabei in die düstersten Ecken seiner eigenen Vergangenheit vor. Schließlich betritt er wieder das „eiserne Haus“, ein heruntergekommenes Waisenhaus in den Bergen, in dem Julian und Michael eine entsetzliche Kindheit erleben mussten. In irrwitzigem Tempo werden Jäger zu Gejagten, Opfer zu Tätern. Nur eines ist sicher: Es kann immer noch schlimmer kommen.
John Hart: Das eiserne Haus. Thriller. C. Bertelsmann Verlag. 512 Seiten. 19,99 Euro.

Erschienen in Schwäbische Zeitung, 23. Mai 2012.

Montag, 16. April 2012

Das Urwaldschiff

Ein schöner Flohmarktfund: "Das Urwaldschiff - Ein Buch vom Amazonenstrom" von Richard Arnold Bermann aus dem Jahr 1927. Das ist ein wunderschöner Reiseroman über Wegfahren, Ankommen, Unterwegssein, Fernweh und alles, was das besondere Gefühl des Reisens ausmacht.

Begleitet wird eine Reisegesellschaft auf dem Dampfer "Hildebrandt", der den Amazonas von der Mündung her befahren soll. Die meisten Reisenden sind reiseerfahrene und abgebrühte Engländer. Aus dem Rahmen fällt der pensionierte Realschullehrer Bernhard Schwarz aus Böhmen alleine schon durch seine lächerliche Aufmachung: Auf dem mondänen Dampfer trägt er Tropenhelm und Khakianzug.

Für Schwarz ist diese Reise alles. Nach einem Leben voller Niederlagen erfüllt er sich den lebenslangen, einzigen Wunsch, den Amazonas und seine Urwälder zu erkunden. Es bricht über ihn wie eine Katastrophe herein, dass politische Unruhen den Dampfer schon im Mündungsdelta an der Weiterfahrt hindern. Während einer Sightseeing-Rundfahrt in der Küstenstadt Parà schert er aus der Reisegesellschaft aus und durchstreift auf eigene Faust ein Stückchen Urwald, das sich gleich hinter den städtischen Wasserwerken erstreckt.

Alleine diese unbeholfene Stippvisite genügt dem Autor, eine -  im blumigen Stil der Zwanzigerjahre - bildgewaltiges Dschungelpanorama zu schaffen: "rechts und links war die unwahrscheinlich tiefgrüne Waldkulisse, eine grandiose, geschlossene, einige Masse und doch von einer kaleidoskopischen Vielfähltigkeit sondergleichen: Wände aus Speeren geformt, Fächern, Platten, Seilen, groteskem Gitterwerk in tausend grünen und grauen und silbernen Nuancen. Das europäische Auge brauchte Zeit, bis es etwas von diesem Wald begriff: er war kein Wald, sondern eine Schlacht, nicht lyrisch zu genießen, wie die blonden Wälder der Heimat, sondern als ein krauses und grausames Epos, ein ungeheueres vegetabilisches Drama...."

Nach der überstürzten und verstörten Rückkehr ins Hotel, wird es für Schwarz immer mehr zur Gewissheit: Er wird die erträumte, geheimnisvolle Welt nie betreten. Um ihn zu trösten, erzählen die Reisegefährten Schwarz die Geschichte vom Konquistador und Amazonas-Entdecker Francisco de Orellana und seiner verhängnisvollen Suche nach dem Goldland.

Dieser zweite Teil des Buches fällt, wenngleich immer noch sehr poetisch erzählt, etwas ab - zu vorhersehbar und langatmig ist diese Abenteuergeschichte. Ausnahmen sind fantastische Beschreibungen eines Totentempels der Inka und Orellanas Begegnung mit der geheimnisvollen Amazone Coniapuyara.

Ob Schwarz diese mystische Welt letztlich doch betritt, bleibt offen. Der Leser darf sie in jedem Fall betreten. Dieses Buch schließt sie auf - vielleicht besser, als eine wirkliche Reise das vermochte. Von Marcel Reich-Ranicki soll es ein Zitat geben, von dem ich gehört habe, es aber nirgendwo fand: "Ich habe kein Interesse, die Niagara-Fälle zu sehen, aber ein gutes Buch über sie lesen, das will ich."

Ein echter Buchschatz, wozu auch die fabelhaften Aquarell-Illustrationen von Franz Heckendorf beitragen.

Samstag, 7. April 2012

Hermann Hesse: Magie des Buches

Dreitausend Buchkritiken hat Hermann Hesse veröffentlicht – das werde ich wohl nicht mehr schaffen. Aber ich lasse mich nicht entmutigen und nehme mir den Suhrkamp-Band „Magie des Buches“ vor. Es enthält Essays zum Thema Buch, Lesen und Literaur, die Hesse über die Jahre publiziert hat.

Ich gebe zu: Es ist für mich immer noch ein Genuss, macht mich glücklich und gibt mir das Gefühl, an Weisheit zu gewinnen, wenn ich Hesse lese. „Zu diesem Gebiete, wo ich vor Enttäuschungen ebenso sicher bin wie vor Sensationen, kehre ich von allen Ausflügen ins Älteste und Fernste immer wieder zurück“: Was Hesse in seinem Text „Lieblingslektüre“ (1945) über die deutsche Literatur von 1750 bis 1850 schreibt, kann ich für mich auf die Werke Hesses anwenden. Mit der Ausnahme, dass Sensationen bei diesem Autoren, der gerne als kindisch, kitschig und neoromantisch (als sei dies ein Schimpfwort) geschmäht wird, durchaus drin sind. Etwa, wenn er Worte findet, um die glasklaren Lehren der östlichen Philosophie in den abenteuerlich zerklüfteten Landschaften der Romantik blühen zu lassen.

Auch die in diesem Band zusammengefassten Betrachtungen sind gleichzeitig ein „Zen in der Kunst des Bücherlesens“ und eine energiegeladene Hymne an das große Gefühl und die schöne Sprache. Was gut ist, kommt von innen: Das gilt auch für Gedichte (Essay von 1918), die „Träume oder Tanzschritte oder Schreie einer Seele, Reaktionen auf Erlebnisse gestammelte Wunschbilder oder Zauberformeln, Gebärde eines Weisen oder Grimasse eines Irren“ sein müssen, und eben nicht „gewollte Erzeugnisse, Fabrikate, Pralinés für das Publikum.“

Donnerstag, 22. März 2012

Riikka Pulkkinen: Wahr


Die Seele ist ein dichter Wald

Manchmal ist das Leben so leicht: „Regen, Blaubeersträucher im Wald, ein roter Eimer vor der Sauna, das Mädchen im Haus beim Mittagsschlaf." Für Literaturstudentin Eeva ist das Idyll perfekt, wenn sie sich als Kindermädchen um die kleine Familie der erfolgreichen Psychologin Elsa Ahlqvist kümmern darf. Elsa selbst ist viel auf Reisen. Ihr Mann, der Kunstmaler Martti und die kleine Tochter Eleonoora lieben Eeva. Und Eeva liebt die beiden über alle Maßen. Viel mehr, als gut für sie und die Familie Ahlqvist wäre.

Jahrzehnte später gehen schwarze Schatten um: Elsa hat Krebs im Endstadium. Ihre Enkelin Anna, die sich so gerne fiktive Lebensgeschichten für Passanten ausdenkt, findet ein vergessenes Kleid im Schrank – Eevas Kleid. Für Anna ist das die Initialzündung, das verdrängte Familiengeheimnis um das Kindermädchen Schicht für Schicht freizulegen. Dabei gewinnt sie einen ganz neuen Blick auf ihren Großvater Marttii, ihre Mutter Eleonoora, die Großmutter Elsa und auf sich selbst.

Die Finnen reden nicht viel, heißt es. Und reden sie doch, so haben sie zuvor gründlich nachgedacht. Auf die Figuren in Riikka Pulkkinens Familiensaga trifft das voll und ganz zu. Sie denken und fühlen ausgiebig und sagen ab und zu ein bedeutungsschwangeres Wort, über das sie dann wieder ganz lange nachdenken.

Die 31-jährige Pulkkinnen, deren zweiter Roman „Wahr" in Finnland gefeiert wird, steigt ganz tief hinunter in Gefühls- und Seelenwelten jeder einzelnen Figur. „Die Beziehungen zwischen Menschen sind wie dichte Wälder", lässt sie ihre Hauptfigur Anna sagen. Keine leichte Kost, aber ein eindringlicher Roman über die ganz großen Themen: Kranksein, Sterben, Familie und Freiheit. Vor allem über die Liebe.

Erschienen in Schwäbische Zeitung, 21. März 2012

Samstag, 17. März 2012

Sebastian Haffner - Ein Mitgenommener über seine Zeit

Sebastians Haffners posthum veröffentlichte „Geschichte eines Deutschen: Die Erinnerungen 1914-1933“ (Eine etwas ältere Kritik von mir, aus dem Jahr 2001)


Die Zahl der Werke, die uns erklären, wie Deutschland zu seinem Nazi-Regime kam – warum es so und nicht anders hat kommen müssen – ist groß. Viele dieser Erklärungsversuche lassen beim Leser nicht mehr als den Gedanken zurück, dass man hinterher eben immer klüger ist.

Für Sebastian Haffners Erinnerungen, die der Sohn des 1999 verstorbenen Publizisten posthum veröffentlichte, kann dieser Einwand nicht gelten: Sie entstanden im Jahr 1939, auf dem Höhepunkt der Nazi-Gräueltaten und am Vorabend des Zweiten Weltkrieges. Haffner weiß, wovon er redet. Denn er erzählt von seinem eigenen Leben. Es ist das Leben eines Heranwachsenden, der die geschichtlichen Umwälzungen mal mehr, mal weniger intensiv am eigenen Leibe erfährt. Eines 7-jährigen, dem der Kriegsausbruch 1914 seinen geliebten Sommerurlaub in Hinterpommern verdirbt. Eines Jungen, der den Krieg als ein aufregendes Spiel erlebt: Begeistert studiert er die neuesten Frontnachrichten und Gefangenenstatistiken, vom baldigen „Endsieg“ mehr als überzeugt.

Dann der Schock, die ungeheurliche Enttäuschung, als das Unfassbare eingetreten, der Krieg verloren ist. Das Inflationsjahr 1923 konfrontiert den Jugendlichen mit dem Zusammenbruch aller Lebensregeln, dem „Bankrott von Alter und Erfahrung“, mit Hunger und Armut, während er in der allgemeinen Weltuntergangsstimmung die Spekulanten aufsteigen und die Vergnügungssucht blühen sieht

Der Krieg und die Inflation – für Haffner die prägenden Erlebnisse einer Generation. Auf sie kommt er immer wieder zurück, wenn er das unaufhaltame Schlittern eines entwurzelten Volkes in den Abgrund schildert. Reichstagsbrand, Judenboykott und totale Überwachung – als die Nazi-Revolution schließlich „wie ein Giftgas durch alle Wände dringt“, sieht der junge Mann die Flucht aus Deutschland als einzigen Ausweg. Haffner macht es sich nicht leicht. Er zeigt nicht mit dem Finger auf irgendwelche Bösewichte, die das Verhängnis alleine zu verantworten hätten. Wenn er seinen persönlichen inneren Kampf schildert, versucht er die wahren Gründe für Rassenhass, Fanatismus und Mitläufertum auszumachen, nicht ohne sich dabei selbst anzuklagen. Haffner wird niemals dogmatisch, seine Überlegungen zeugen vielmehr von der scharfen Beobachtungsgabe desjenigen, der bitter an seiner Zeit und ihren Grausamkeiten leidet.

Haffners Sprache ist nicht blumig oder geschliffen sondern bleibt einfach und vertrauenswürdig, besonders, wenn von persönlichen Erlebnissen die Rede ist. Etwas holprig drückt sich der ausgebildete Jurist lediglich dann aus, wenn er daran geht, einige seiner Überlegungen umständlich zu rechtfertigen. Dem Leseerlebnis tut dies keinen Abbruch, denn der Leser nimmt ihm die Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit seines Unterfangens jederzeit ab.

Bemerkenswert sind Haffners Porträts zeitgeschichtlicher Persönlichkeiten. Die Wirkung Rathenaus auf die Massen vergleicht er mit einem „Magnet in einem in einem Haufen von Eisenspänen – genau so unvernünftig, genau so unentrinnbar, genau so unerklärlich“. Ähnliche Faszination habe nur Hitler, der Mann mit der „Zuhälterfrisur“, dem „Epileptikergehaben“ dem „Geifer, dem abwechselnd flackernden und stieren Blick“ erregen können: Was dem einen „durch seine unfassliche Kultur“ gelang, vermochte der andere „durch sein unfassliche Gemeinheit“. Ironisches schimmert in der Darstellung des unauffälligen Politikers Stresemann durch. Überhaupt ziehen sich Ironie, auch Selbstironie, und ein gewisser Galgenhumor durch das ganze Werk.

An anderen Stellen bricht die blanke Wut aus dem Autor heraus: über die Untätigen, die Mitläufer, die Feiglinge, bisweilen auch über sich selbst. Im Jahr 1933, mit dem die Darstellung endet, sieht Haffner den Prozess der totalen Infiltrierung schon abgeschlossen. Der Verfasser hat den Krieg unmittelbar vor sich, wenn er 1939 prophezeit, dass die Nazigräuel „zu einer Menschheitskrise allerersten Ranges führen, in der die physische Fortexistenz der Gattung Mensch in Frage gestellt“ ist, und „in der wahrscheinlich nur noch ungeheuerliche Mittel wie die physische Destruktion aller mit dem Wolfsbazillus Behafteten Rettung bringen könnten.“

(Rezension vom Sommer 2001, Bernhard Hampp)

Dienstag, 6. März 2012

Oliver Bottini: Der kalte Traum

Ein junger kroatischer Soldat presst einem serbischen Alten voll Zorn die Pistole an die Schläfe. Dieses Foto ist vor 17 Jahren in einer Lokalzeitung erschienen. Es geht der deutschen Journalistin Yvonne Ahrens nicht aus dem Kopf. Sie macht sich in Zagreb auf die Suche nach dem unbekannten Krieger und bringt damit einen Stein ins Rollen, der alle Figuren in Oliver Bottinis Jugoslawien-Thriller „Der kalte Traum“ mitreißt: Ahrens selbst, den planlosen Berliner Ermittler Adamek, den gescheiterten Ex-Diplomaten Ehringer, den ein Verkehrsunfall vom Macher zum Pflegefall herabgewürdigt hat, den kroatischen Geheimdienstler Jordan, für den die Welt nach Jahrzehnten des Kriegs „karstig und sinnentleert“ ist, den Söldner Marx, der ohne Krieg nicht leben kann, den gutbürgerlichen Schwaben Milo Cavar, dessen Bruder Thomas seit 1995 in einem Massengrab in Bosnien liegt – oder doch nicht?

Alle werden im Lauf der aufreibenden Story auf irgendeine Weise Opfer jenes Krieges, der Europas Südosten ein Jahrzehnt lang in Blut tauchte, Nachbarn über Nacht zu Todfeinden machte und – so zeigt Bottinis Roman – auch im Jahr 2010 noch nicht vorbei ist. Nach und nach enthüllen sich Zusammenhänge, kommen immer grausigere Geschehnisse ans Tageslicht. Krimiautor Bottini lässt diesmal erstmals nicht die Freiburger Kommissarin Louise Bonì ermitteln, sondern schafft ein bedrückendes und hochspannendes Panoptikum von Getriebenen und Getretenen. Der Roman jagt den Leser aus dem „sanftmütigen Tal“ um Rottweil ins abweisende Berliner Betongedränge, vom Brandenburger Kranichzuggebiet zu den Schlachtfeldern von Vukovar und Srebrenica. Erzählebenen fließen ineinander über, Zeiten und Perspektiven sind verwoben, die Figuren stimmig und scharf gezeichnet.

Aber: Wer nicht wenigstens ein Grundinteresse für die Umwälzungen auf dem Balkan mitbringt, wird seine Mühe haben. Extrem detailversessen leuchtet Bottini den Konflikt in all seinen Verästelungen und Widersprüchen aus. Ein extrem sinnloser Krieg, in dem es kein Gut und Böse gab, auch wenn alle Beteiligten überzeugt waren, auf der Seite der Guten zu stehen.

Erschienen in Schwäbische Zeitung, 3. März 2012

Mittwoch, 15. Februar 2012

Ariel Denis: Stille in Montparnasse (2002)

Ein Klassikliebhaber schlendert durch Paris und denkt über die Musik und seinen verstorbenen gleichgesinnten Freund Markus Berger nach. Das ist eigentlich kein “Romanbericht”, wie es im deutschen Untertitel heißt, sondern ein Essay im Plauderton. Dann und wann kommt es auch wehmütig, sentimental oder zornig daher.
Gleich vorneweg: Es ist ein umwerfend gutes Buch, das herrlich durchkomponiert ist und  mit der Dynamik und den Tempi spielt. Die Sprache ist klangvoll – auch noch in der deutschen Übersetzung von Regine Hermannsdörfer (deutsche Ausgabe 2007).
Wenn nur der dämliche Titel nicht wäre. „Stille in Montparnasse“ – im Original heißt es "Récital. Une interprétation."
In jedem Fall wird hier ganz viel Wahres, lange Geahntes und endlich Wiedergefundenes über Musik, Musik und Meer, Musik und Gesellschaft erzählt. Auch viel Originelles, wie die Erkenntnis, dass man für Musik unbedingt Alkohol braucht (um zu ihrer unaushaltbaren Fülle zu gelangen).
Darüber denkt der Erzähler nach: Dass man immer wieder in Konzerte geht, jedesmal in der Hoffnung,  "eines der verborgenen Zeichen Gottes zu finden, das Absolute der Musik.” Dass der Mensch stets auf der Suche nach der allerletzten, ununterbrochenen Melodie ist. Dass in der Welt der Künstler nur der absolute Erfolg von Bedeutung ist. Wer kein Alban Berg ist , ist ein Nichts.
Wie eine Lichtgestalt verehrt der Erzählers den Bariton Hermann Prey: “Er sang mit der Leere seins Körpers”, gegen ihn waren Elvis Presley und Frank Sinatra “lediglich Prothesenwisperer”. Treffsicher und mit viel Ironie beschrieben, gibt er sich allabendlich gefühlt deutscher Gemütlichkeit und romantischer Wiesengrund-Schwärmerei, hört Hermann Prey und trinkt Schladerer-Himbeergeist. Zum Wohle.
Auch zu einer verschämten Liebeserklärung an Chansons und Pop-Ohrwürmer lässt er sich hinreißen. Vor allem ist das Buch aber eine - bewusst übertriebene - Schmipfrede gegen alle, die Musik sagen und doch nur Lärm meinen. “Ich muss Stille fordern (…) im Namen der Musik.”

Stille ist manchmal großartig. Aber nur, weil es die Musik gibt.

Montag, 23. Januar 2012

Paul Auster: Leviathan (1992)

Der Schriftsteller Peter Aaron erzählt die Geschichte seines Kollegen Benjamin Sachs, von dem gleich zu Beginn berichtet wird, dass er sich im nördlichen Wisconsin am Straßenrand in die Luft gesprengt habe. Eine Geschichte, die zwangsläufig in dieser finalen Befreiungsaktion endet. Sachs befreit sich vom Schicksal, das ihm bestimmt scheint und den wahnwitzigen Zufällen, die ihn fernsteuern und gegen die er nicht anzukommen scheint: So wie kein Sterblicher gegen die launische Macht des Leviathan, des biblischen Seeungeheuers, ankommt.

Der Zufall - bzw. der Erzähler, der sich des Zufalls reichlich, aber gekonnt, bedient - will es so, dass Sachs am Unabhängigkeitstag 1986 von einer Feuerleiter in der Freiheitsstatue stürzt. Er wird aus heiterem Himmel in eine Schießerei verwickelt, findet eine Bowlingtasche randvoll mit Geldscheinen und überrascht daraufhin seine Frau mit einem anderen im Bett.

Während er immer tiefer in den Abgrund schlittert, gelangt er zur Erkenntnis: „Ich muss jetzt in die reale Welt hinaus und etwas tun.“ So nähert er sich zunächst der Frau des erschossenen Terroristen, tritt später in dessen Fußstapfen und setzt dessen explosives Werk fort.

„Kann ein Mensch mit einem Ich einschlafen und mit einem anderen aufwachen?“ Die Frage, ob man wirklich in jedem Moment seines Lebens neu beginnen kann, treibt Sachs - und auch Aaron - um.

Sachs' Antwort ist Ja. Er will "die Bruchstücke des Ich wieder zusammensetzen", ein Ganzes sein, einen Sinn im Leben finden - der für ihn darin besteht, Nachbildungen der Freiheitsstatue in die Luft zu sprengen. Endlich einmal tun, woran er glaubt. Und das heißt auch, endlich einmal an etwas zu glauben und zu wissen, was das ist.

Leider fehlt der Story die letzte Konsequenz. Sachs' Motivation bleibt seltsam unscharf. Was genau bedrückt ihn, was fehlt, wonach sehnt er sich, was ist das für eine Freiheit, die er meint - oder möchte das der Erzähler nicht aussprechen? Vielleicht steigt Aaron (nebenbei: Paul Austers alter ego) auch gar nicht dahinter, was Sachs bedrückt hat. Aaron hat im Leben den unspektakuläreren, weniger geradlinigen aber letztlich erfreulicheren Weg gewählt. Und dennoch beneidet er Sachs. So gibt in dieser vielschichtigen Handlung der Erzähler unbewusst eine Menge von sich selbst preis.

Paul Austers Leviathan ist ein Buch, das nahe geht, weil es nicht in unwahrscheinliche Lebenswelten abtaucht, sondern den Leser mit seiner eigenen Qual und Entsetzlichkeit konfrontiert.