Dienstag, 22. Dezember 2020

Charlotte MacLeod: Schlaf in himmlischer Ruh

Professor Peter Shandy flieht vor der Weihnachtszeit, in welcher in seinem Landwirtschaftscollege von Balaclava in Massachusetts die große Lichterwoche mit touristischem Weihnachtsbrimborium und -markt stattfindet, auf ein Kreuzfahrtschiff. Doch ein Maschinenschaden zwingt ihn zur vorzeitigen Rückkehr. Kaum in seinem Häuschen auf dem Campus angekommen, findet er dort die Leiche der Lichterwoche-Organisatorin und Hilfsbibliothekarin Jemima Ames hinter seinem Sofa, daneben eine Anzahl von Murmeln. Wollte sie nur Shandys provokative Weihnachtsbeleuchtung ausschalten und wurde Opfer eines Unfalls - oder ist hier ein Verbrechen geschehen? 

Shandy, der manisch alles zählt, merkt sofort: Da fehlt eine Murmel. Er beginnt zu ermitteln. Zur Seite steht ihm Helen Marsh, die ins Dorf kommt, um Jemima Ames Haus zu hüten, aber sogleich als neue Hilfsbibliothekarin eingestellt wird - und sich mit Shandy mehr als blendend versteht. Dann findet Shandy auch noch den Finanzchef des Colleges tot auf und plötzlich brennt das College-eigene Kraftwerk. Was keiner zunächst vermutet hat: Wertvolle Bücher spielen eine Hauptrolle in dieser vertrackten Mordgeschichte.

Der erste Krimi der US-Autorin Charlotte MacLeod (1922-2005) entstand 1978. Er ist wunderbar zeitlos, weil er auf moderne Technik und Actionelemente komplett verzichtet. Stattdessen spielen Allzumenschliches, skurrile Einzelgänger und verrückte Zufälle eine Hauptrolle. Ein richtiger (neu)englischer Krimi eben. Perfekte Weihnachtslektüre.

Sonntag, 6. Dezember 2020

Horst Evers: Es hätte alles so schön sein können

Joaaah, geht schon. Muss man jetzt aber nicht unbedingt gelesen haben.

Es muss ja immer gleich ein Roadmovie sein: Der 17-jährige Marco aus der niedersächsischen Provinz (da kommt Evers ursprünglich selbst her) beobachtet in seiner Freizeit am liebsten das Landbordell. Auf einmal fliegt eine Leiche aus dem Fenster. Irgendwie (der Grund ist klar) lässt er sich dazu hinreißen, der hübschen Jana beim Verschwindenlassen der Leiche zu helfen und so machen sich Jana, Marco, seine Freundin Mareike und der Tote im Kofferraum im BMW auf die Reise. Wenn ihnen da nur nicht ein Monsterrocker, der obendrein Grammatik-Nazi ist, auf den Fersen wäre...

Evers‘ Sprache ist in Ordnung, stilistisch meistens stimmig  (wobei, was soll das hier: „Verdammt. Ich knutschte schon wieder den Waldboden. Ungewollt.“), schöne Erkenntnisse über das, was Menschen antreibt und was Realität und Zeit mit ihren Träumen machen, sind eingestreut, immer wieder sind Pointen gut gesetzt (könnten noch mehr sein - ein Lesebühnenpublikum würde er damit nicht bei Laune halten). Aber halt die Handlung. Die hätte ein bisschen schöner - origineller - sein können.

Sonntag, 29. November 2020

Walter Moers: Der Bücherdrache

Der kleine Buchling Hildegunst zwei wird von seinen fiesen Mitschülern zu einer Mutprobe verdonnert: Er soll den sagenumwobenen, allwissenden Bücherdrachen im Ormsumpf aufsuchen und ihm eine der legendären Bücherschuppen aus seinem Panzer klauen. Tatsächlich dringt Hildegunst zwei bis zum Bücherdrachen vor - und jener beginnt zu erzählen...

Wie zuletzt häufiger in Moers‘ Büchern ist die Handlung nicht entscheidend, es sind keine besonders originellen Einfälle, Verwicklungen, Überraschungen zu finden. Dafür ist dem Meister hier wieder ein richtiges Glanzstück gelungen, was das liebevolle Sinnieren über Sprache, Kommunikation und Erzählen betrifft. Ganz so falsch liegt man nicht, wenn man Moers in eine Reihe mit Umberto Eco stellt.

Moers‘ Zamonien- und Buchhaim-Romane stehen im Buchladen zwar in der Fantasyecke, sind aber große Literatur. Die deutsche  Sprache wird kunstvollst auf ihre Möglichkeiten ausgelotet, die ineinandergeschachtelten Erzählebenen spielen mit Mythen und Märchenstoffen genauso wie psychologischen Einsichten.

Dass der Schutzwall zwischen Schwermut und Verzweiflung Humor heißt, würde bei Schwurblern wie Paolo Coelho oder Sergio Bambaren ein weiser Einsiedler sagen. Bei Moers ist es ein wehleidiger, fetter Drache. Das macht den Unterschied aus.

Donnerstag, 8. Oktober 2020

Tilman Birr: On se left you see se Siegessäule

Zwar schon aus dem Jahr 2012, aber noch gut. Eine Perle der launigen Berliner Lesebühnenliteratur, auf diesem Hörbuch selbst vom Autor vor Publikum vorgetragen.

Der Autor beschreibt sein Leben als Stadtbilderklärer - ein Wortüberbleibsel aus DDR-Zeiten, als man nicht Stadtführer sagen durfte - auf einem Ausflugsschiff auf der Spree. Zwischen Nikolaiviertel, Reichstag und Tiergarten bespaßt er auf der Reise mit der muffig-altklugen Ost-Berliner Schiffsbesatzung besoffene Spanier, Hitler-verliebte Briten, alle Arten von deutschen Klugscheißern, Pubertierende, Verwirrte....

Einige Exkurse - etwa über seinen verrückten Casinobesuch mit Rocklegende Lemmy Kilmister - hat Birr etwas ungelenk eingebaut, wohl einfach, um sie auch in diesem Buch unterzubringen. Das erinnert dann an die ersten Bände von Walt Disneys Lustigen Taschenbüchern, in denen um die Comics herum unpassende Rahmenhandlungen gestrickt wurden.

Mancher Gag hat hat sich beim dritten Mal abgenutzt, aber im Großen und Ganzen ist das alles scharf beobachtet, pointenreich geschrieben und ein wirklich lustiges, unterhaltsames Hörbuch.

Samstag, 12. September 2020

Stefan Müller: 111 Gründe, Bücher zu lieben.

 

Der Literaturwissenschaftler Stefan Müller hat in dieser „Liebeserklärung an das Lesen“ 111 kleine „Weil...“-Kapitel rund um das Thema Buch versammelt. Darunter sind wunderbar nachdenkliche Essays, wie „Weil ich die Protagonisten manchmal einfach besser verstehe als sonst jemanden“.

Den Großteil nehmen Buchbesprechungen ein, darunter Aktuelles wie Judith Schalanskys Der Hals der Giraffe und Klassiker wie Franz Kafkas Die Verwandlung oder Lewis Carrolls Alice im Wunderland. Von Musils Mann ohne Eigenschaften bis zu Joanne K. Rowlings Harry-Potter-Romanen. Das sind schöne knappe Inhaltsangaben, meist kompetent eingeordnet. Sprachlich gibt es hier und da etwas zu mäkeln: Von Miguel de Cervantes‘ Romanfigur Don Quijote als „dem Don“ zu sprechen, klingt dämlich. Und wenn sich bei Sherlock Holmes „die Leser lesehungrig auf neue Geschichten freuen“, dann steht da ein Wörtchen zu viel.

Manchmal sind es einfach nur Listen, die nicht weiter kommentiert werden wie beispielsweise: „Weil diese elf Bücher so ziemlich jeden zum Lachen bringen.“ Vieles ist eher überflüssig, weil bekannte Vorzüge des Medium Buchs erörtert werden - allerdings nicht originell und sprachlich außerordentlich  genug, um einen Mehrwert zu bieten.

Sehr gelungen ist der Gang durch 111 Jahre deutscher Literaturgeschichte in den letzten Kapiteln. Das ist übersichtlich und pointiert, teilweise sogar überraschend und neu. Aber warum muss dies wieder in das dämliche Frage-Antwort-Korsett des Buches eingezwängt werden? Das führt zu grotesken Kapitelüberschriften wie „Weil die Mitte des 20. Jahrhunderts unter dem Zeichen der Aufarbeitung und Bewältigung der jüngsten deutschen Vergangenheit stand, Bücher von Weltruhm hervorbrachte und zuletzt auch wieder den ganz normalen Alltagswahnsinn in den Fokus rückte“.  Ist das ein Grund, Bücher zu lieben?

Eine schöne Fundgrube aber nicht das, was es vorgibt. Keine Wunderlampe, um die Liebe zu Büchern zu wecken oder wieder wachzurufen. Dafür über weite Strecken gute, informative Unterhaltung.

Dienstag, 8. September 2020

Christian Grawe: Theodor Fontane. 100 Seiten

Noch ein Fontane-Buch, das ich zur Vorbereitung auf meinen Literaturführer Berlin erlesen! durchgeackert habe. Aber dieses ist wirklich empfehlenswert, bietet es doch einen wunderbar leichten, lesbaren und dennoch tiefergehenden Einblick in Fontanes Leben und Werk. Der Autor, emeritierter Professor für deutsche Literatur an der Universität Melbourne, transportiert seine große Sympathie für den märkischen Schriftsteller, ist aber keineswegs unkritisch.

Ein weites Feld. Das ist nicht nur der Standardspruch von Effi Briests Vater, das ist auch vieles im Leben und Werk Fontanes. Journalist und Romancier, Kriegsberichterstatter und Theaterkritiker, Revoluzzer und stockkonservativer Verehrer des preußischen Landadels, Englandfreund und Brandenburg-Wanderer. Wo steht Fontane in der Literaturgeschichte? Wie sind Landschaften, Gegenstände Namen, Musik, Dialoge in seinem Werk zu deuten? Welche Rolle spielen Sexualität und Religion? Die kurzen Kapitel geben perfekt Aufschluss und machen große Lust, sich in Fontanes Schmöker zu vertiefen. 

Dafür gibt Grawe dem Leser sogar einen Fahrplan mit: er bewertet die Romane Fontanes in einem subjektiven Ranking - von Effi Briest, 5 Sterne, bis Ellernklipp, 1 Stern - der Lesenswürdigkeit.

Donnerstag, 3. September 2020

George Saunders: Fuchs 8

Fuchs 8 setzt sich an die Schreibmaschine und schreibt den Menschen einen Brief. Er erzählt darin von seinem Leben. Wie er die Menschen liebenlernte, als er der durch ein Fenster einer Mutter lauschte, die die ihren Kindern Geschichten vorlas. 

So lernte er die Sprache, der Menschen, aber natürlich nicht ihre Rechtschreibung. Er findet die Menschen "kul". Und Fuchs 8 neigt zu Tagträumen. Er gilt innerhalb seiner Gruppe von Füchsen als Außenseiter. 

So träumt er davon, dass die Menschen mit ihm am Tisch sitzen und sagen: "Fükse sind unsere Liblinstire" und sich fragen: "Warum nur, warum waren wir so dumm und haben den Hunt zu unserm meisten Haustir gemacht? - Und ich so: Das weis ich echt nicht."

Mit seinem Verständnis der Menschen und ihrer Sprache kann er seinen Artgenossen in der Gruppe helfen, glaubt er. Er führt seine Fähigkeiten dem Oberfuchs vor, der ist erstaunt.

"Und ich drauf: Korrekk, Alter, was das grat war war Mänschisch.

Und er so: Das ist zimlich gut, Fuks 8."

Fuchs 8 möchte den Menschen näherkommen. Doch die bauen eine Einkaufsmall mitten ins Fuchsgebiet, Sie machen die Natur platt und zerstören die Lebensgrundlage der Füchse. Viele von ihnen verhungern. Zu Fuchs 7 sind die Menschen sogar ganz besonders grausam. 

Fuchs 8, der Geschichten mit Happy End eigentlich liebt, verliert viel von seiner Hoffnung verloren. Als er den Brief an die Menschen schreibt, ist er nicht mehr unschuldig wie zu Beginn. Dieser Fuchs ist sehr weise. Er bringt die einfachen Wahrheiten auf den Punkt. Weiß viel von Zusammenleben und Rücksicht.

Vor allem die Sprache ist unfassbar anrührend: Frank Heibert ist hier eine so geniale Übersetzung  gelungen, dass Fuchs 8 auch in deutscher Sprache ein ganz großes Kunstwerk ist. 




Mittwoch, 2. September 2020

Arturo Pérez Reverte: El Club Dumas


Roman Polanskis Verfilmung
Die neun Pforten habe ich bereits mehrmals gesehen, das Original von 1993 erst jetzt gelesen. Natürlich auch unter dem Gesichtspunkt, ob die Verfilmung gelungen ist, der Buchvorlage gerecht wird oder sie sogar - auch das gibt es - veredelt.

Der Bücherjäger ("cazador de libros") Lucas Corso (im Film: Dean Corso) erhält die Aufgabe, die Echtheit des Manuskriptes von Le Vin d'Anjou, des Originals eines Kapitels von Alexandre Dumas' Die drei Musketiere, zu überprüfen. Bei dieser Mission begegnet ihm das uralte Werk über die Neun Pforten, in dem Teile angeblich von Satan selbst stammen und dessen Urheber wegen Teufelsanbetung auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Eine Nebenhandlung, die im Roman gegenüber dem eigentlichen Handlungsstrang rund um Dumas immer wieder in den Hintergrund tritt.

Dieser Dumas-Plot wiederum fehlt im Film völlig, eine mutige und richtige Entscheidung der Drehbuchautoren. Denn diese Handlung um einen illustren Club der Fans von Abenteuergeschichten ist einfach verwirrend, konstruiert, wirkt nicht stringent. Auch, wenn er dem ganzen vielleicht ein Augenzwinkern, eine humorvolle Note und Leichtigkeit hinzufügen sollte.

Im Film gibt es dafür einen völlig bekloppten Schluss um eine Sekte durchgeknallter Teufelsanbeter. An dieser Stelle bleibt das Buch rätselhafter, undurchsichtiger, philosophischer. Wen im Film stört, dass Corso unentwegt Zigaretten raucht, während er wertvollste Bücher durchblättert - das ist im Roman auch so.

Verständlicherweise wird hier ausgiebiger und genüsslicher über das Medium Buch diskutiert und sinniert, das Schreiben und das Erzählen, aber auch über alles, was sich zu Druck, Einband, Illustration, Erhaltungszustand von Büchern sagen lässt, über Marktpreise und Provenienz, Auktionen, Sammlerleidenschaft und die Marotten von Bibliophilen. In vieler Hinsicht wird Umberto Ecos Der Name der Rose als Vorbild für diesen Abenteuerroman überdeutlich. Der "profesor de semiótica en Bolonia" sitzt sogar einmal mit am Tisch, als die Dumas-Jünger sich versammeln.

Besonders schön ist der Bibliomane Victor Fargas gezeichnet. In seiner riesigen Villa hat der jämmerlich verarmende Büchersammler wertvollste Inkunabeln und Handschriften auf dem Boden aufgereiht. In regelmäßigen Abständen muss er unter größten Schmerzen einen seiner Schätze verkaufen, um überhaupt überleben zu können. Es ist, als wähle er eines seiner Kinder aus, das dann zur Schlachtbank geführt wird.

Sonntag, 31. Mai 2020

Franz Fühmann: Pavlos Papierbuch

Dieser Erzählungsband gehört schon seit vielen Jahren zu meinen Lieblingen. Zur Recherche für meinen neuen Literaturführer Berlin erlesen! habe ich ihn erneut gelesen und habe mich von Franz Fühmann in die mythendurchwirkte, poetische Welt entführen lassen. Es sind ganz einfache, alltägliche Begebenheiten und Beobachtungen, die er in diesen Erzählungen aus verschiedenen Schaffensperioden versammelt. Drei nackte Männer in der Sauna oder ein Pärchen, das Bekanntschaft mit einer Kindergruppe auf der Schiffsfahrt zu einer Insel macht. Überall dringt das Reich der Fantasie ein. Die Schiffsreisenden treffen auf eine Prinzessin, die einen Zauberer zwingt, den verwunschenen Schwan zu erlösen. Die drei Saunagänger entschwinden in einem fliegenden Auto in ein Hochhausfenster.

In den Erzählungen über seine Kindheit und die erwachende Liebe zum gleichaltrigen Mariechen schlägt Fühmanns Fantasie in einem atemlosen Tempo Purzelbäume

 "...wusste ich plötzlich und gänzlich unwiderstehlich, ich, so wusste ich, ich musste jetzt einfach mit einem Schlag alle Blumen ausreißen, mit Posaunenschall, dachte ich, barst die Wolke, mit einem Schlag alle Blumen, dann würde ein solches Feuer vom Himmel fallen, dass auch ihr Zauber kaputtging und sie samt ihrem Zauber und alles, und ich griff, und jetzt mit dem Bewusstsein meines ganzen Leibes, dass auch ich im Feuer aufgehen und Feuer sein würde, das sie verbrannte, ins Gras nach den Stengeln aller sechs Blumen, da hatte auch Mariechen nach derselben Stelle gegriffen, und während Wahnsinn unsere Augen beschlug und die Grillen verstummten und unsere Fingerkuppen einander berührten, wünschte ich mit der Inbrunst eines letzten Wunsches, alle Menschen könnten uns nun so sehen, wie wir beide da hockten, zwei Magier, über den Tod gebeugt, den Donner zu Häupten und den Blitz in den Händen, die mächtigsten Zauberer dieser Erde …)"

Fühmann, einer der Vorzeige-Schriftsteller der DDR, ist vor allem auch durch seine Lebensgeschichte eine interessante Persönlichkeit. Geboren 1922 im böhmischen Riesengebirge, bekannte sich Fühmann schon als Jugendlicher begeistert zu den Nazis, trat 1938 der SA bei. Im Krieg an der Ostfront geriet er in sowjetische Gefangenschaft und wurde in eine sogenannte Antifa-Schule abkommandiert, wo er sich zum glühenden Sozialisten wandelte. Ab 1949 wirkte er in der DDR, war Funktionär in der nationaldemokratischen Blockpartei und bewältigte seine frühere politische Gesinnung literarisch. Als Autor von Kinderbüchern, Nacherzählungen großer Sagenstoffe wie der Odyssee oder Reineke Fuchs, Schriften über Georg Trakl, Sigmund Freud und E.T.A. Hoffmann sowie zahlloser Lyrik- und Prosatexte avancierte er zu einer der wichtigsten literarischen Stimmen der DDR. In späteren Jahren setzte er sich zunehmend kritisch mit der Kulturpolitik der DDR auseinander und ergriff in Briefen und Aufsätzen Partei für angefeindete Schriftsteller. Auch die Ausbürgerung Wolf Biermanns kritisierte er. Fühmann starb 1982 in Berlin und wurde in seinem Wohnort Märkisch Buchholz beigesetzt.

Die Auswahl in diesem Band  (1982 in der DDR erschienen) gibt einen schönen Überblick der verschiedenen Facetten Fühmanns. Neben den erwähnten Alltagsverfremdungen, die Fühmanns poetischen Zauber aufzeigen, sind auch dystopische Zukunftsvisionen darin, die Ende der 1970er-Jahre entstanden und in dem Band Saiäns-Fiktschen erschienen.

In Die Ohnmacht entwickelt ein Trinker einen Apparat, der es Menschen erlaubt, in die Zukunft zu sehen - nur um festzustellen, dass diese sich unter allen Umständen so verhalten werden, wie es die Zukunftsvision angezeigt hat. Ein Diplomlogiker unterzieht sich diesem Test, protestiert gegen die Umkehrung von Ursache und Wirkung, pocht auf seine Willensfreiheit - und sieht dann den Tod eines Kindes in der Zukunft, den er tatsächlich nicht verhindern kann.

Die Titelerzählung Pavlos Papierbuch handelt in einer Welt nach dem Atomkrieg, in der Bücher aus Papier unter Verschluss gehalten werden. Pavlo kommt durch Zufall in den Besitz eines solchen Papierbuchs. "...es lag... in der Hand wie ein Vogel in seinem Nest, und jede seiner Seiten war ein Gebilde, das ringsum mit Blicken abschreitbar war, ein Maß an Raum, in sich geschlossen, und damit auch ein Maß für die Zeit. Dies Maß war menschlich..."

Es ist  eine Anthologie, Pavlo liest Kafkas Strafkolonie, Villiers de l'Isle d'Adams Die Marter der Hoffnung und eine grausame KZ-Geschichte mit dem Titel Der Nasenstüber. Pavlo lassen diese Erzählungen verstört zurück: Was war ihr Fazit, wo wurde erklärt, was richtig und was falsch ist? Nicht zu Unrecht wurde  diese Kritik absurden Mechanismen der Herrschaft als Anspielung auf die Zustände in der DDR verstanden.

Zwei wunderschöne Homer-Nachdichtungen - Das Netz des Hephaistos und Die Geliebte der Morgenröte - beschließen den Band.

Freitag, 17. April 2020

David Wheeler: Gartenlektüre

In England ist Gärtnern Kunstform, Philosophie und Lebenseinstellung. Da liegt es auf der Hand: Gartenliteratur ist und kann mehr als Tipps zu Tomatenzucht und Terrassenpflege geben, die schönsten Oster-Dekorationen vorstellen oder einfach das Beiwerk zu stimmungsvollen Bildern in großformatigen Fotobänden liefern. Das beweist seit 1987 die englische Gartenzeitschrift Hortus, deren Herausgeber David Wheeler hier einige besonders gelungene Texte in Buchform präsentiert.

Schon äußerlich ist dieses aufwendig gestaltete Buch mit Leineneinband im Blumenmuster - er erinnert an ein edles Tapisserie-Motiv vergangener Jahrhunderte - ein Schmuckstück. Im Inneren finden sich "Neue Geschichten englischer Gartenenthusiasten". Vor einigen Jahren ist bereits ein Vorgängerband in ähnlicher Ausstattung erschienen.

Die 18 versammelten Texte englischer Schriftsteller und Journalisten haben gemeinsam, dass sie die Garten und das Gärtnern als Anlass für tiefere Betrachtungen nehmen. Mal geht es um die Bewahrung alter englischer Landhausgärten, mal um die Haltbarkeit von Sämereien, mal um den Reiz einer Gartenlandschaft im Winter. Der Nature Writer Richard Mabey wird im Interview zu Klimawandel und der Bedeutung der Natur für den Menschen befragt.

David Wheeler selbst steuert einen Text über den Reiz der öffentlichen Parks in Istanbul bei. Illustratorin Diana Everett lässt an ihrer Leidenschaft für seltene Wildtulpen teilhaben, für die sie sich Jahr für Jahr auf abenteuerliche Reisen in Länder wie Usbekistan und Turmkenistan begibt. Und ein Artikel über die denkmalgerechte Restaurierung des Taj-Mahal-Gartens wird zur Nachdenkerei über den Umgang mit Vergangenheit und Zukunft und das Wesen von Zeit.

David Wheeler: Gartenlektüre. Neue Geschichten englischer Gartenenthusiasten. Prestel Verlag, Oktober 2019. 248 Seiten. 20 Euro.


Montag, 13. April 2020

Yann Martel: Die hohen Berge Portugals


Ein trauriger Mann reist im Jahr 1904 mit dem Automobil seines Onkels von Lissabon in die hohen Berge Portugals. Er hofft, dort einen Schatz zu finden, von dem er im Jahrhunderte alten Tagebuch eines Missionars gelesen hat. Eine Witwe aus den hohen Bergen Portugals besucht spät abends einen Pathologen in dessen Institut und hat die Leiche ihres Mannes im Koffer dabei. Ein kanadischer Politiker beschließt, sein Land zu verlassen mit einem adoptierten Schimpansen in die hohen Berge Portugals zu ziehen.

Drei Handlungen auf drei Zeitebenen verweben sich zu einer. Was die Langsamkeit, das gemächliche, detailversessene Erzählen angeht, ist Yann Marteil ein würdiger Erbe Adalbert Stifters. Langatmiger, fließender geht es kaum. Ob es um die technischen Finessen der damals brandneuen Erfindung Automobil geht, ob die Arbeit eines Pathologin beim Sezieren eine Leiche minutiös beschrieben wird, ob die Zustände in einem Primatenforschungszentrum genauestens geschildert sind. Martels Erzählstil ist geradezu fotografisch genau.

Und es lohnt, sich als Leser durch diesen Brei zu fressen. Wie bei Life of Pi erweist sich das scheinbar Redundante am Ende als fabelhaft durchkomponiertes Ganzes.

Nicht nur die Rolle der Tiere erinnert an Martels großen Roman, der auf deutsch  unter dem Titel Schiffbruch mit Tiger erschien. Wie dieser ist Die hohen Berge Portugals eine Hommage an die Macht der Geschichten und des Erzählens. An einer Stelle erklärt eine Frau ihrem Mann den christlichen Glauben: „Jesus erzählte Geschichten und lebte durch Geschichten. Unser Glaube ist der Glaube an seine Geschichte, und das ist, könnte man sagen, das ganze Geheimnis.“

In Kriminalromanen seien die Geschichten der Opfer erzählt, während die Täter bald wieder vergessen seien, sagt die Frau. So auch im Leben. Hier, in dieser größtenteils himmelschreiend traurigen Handlung, sind fast alle Hauptfiguren Opfer. Und immer wieder gehen diese Menschen rückwärts. Und zwar im wörtlichen Sinn.

Es wird Leser geben, die mit diesem Buch wenig bis gar nichts anfangen können. Und solche wie mich, die ein solch faszinierender Roman wieder daran erinnert, dass das Lesen von Büchern und Geschichten zu den grandiosen Dingen im Leben gehört.

Samstag, 4. April 2020

Ricarda Huch: Der letzte Sommer

Eine leichte Sommergeschichte, die in Wirklichkeit abgründig und tragisch ist - das hat Hakan Nesser nicht erfunden. Ricarda Huch lieferte in dieser 1910 erschienenen Novelle ein grandioses Vorbild.

Russland kurz nach der Jahrhundertwende: Der Gouverneur von Sankt Petersburg verbringt den Sommer mit seiner Frau und den drei fast erwachsenen Kindern Welja, Katja und Jessika auf dem Land. Aus Angst vor Unruhen hat er die Universität schließen lassen. Einige rebellische Studenten wurden hingerichtet.

Weil der Gouverneur einen Drohbrief erhalten halt, dringt seine Frau darauf, ihm einen Beschützer an die Seite zu stellen. Die Wahl fällt ausgerechnet auf den Studenten Lju. Der Anarchist Lju verfolgt den geheimen Plan, den Gouverneur zu ermorden.

Die Novelle besteht aus Briefen der sechs Hauptpersonen. Die Frau des Gouverneurs plagen unbestimmte Vorahnungen, Jessika und Katja verlieben sich in Lju, während dieser im Briefwechsel  mit seinem Kumpanen in Petersburg die Mordpläne immer weiter konkretisiert. Die Stimmung wird bedrohlicher, gereizter und läuft unaufhaltsam auf den Höhepunkt zu...


Dienstag, 31. März 2020

Ingo Schulze: Die rechtschaffenen Mörder

Norbert Paulini aus Dresden ist der letzte Leser von Büchern aus Papier.

Als Antiquar versammelt er zu DDR-Zeiten wertvolle Erstausgaben, Vergriffenes, schwer erhältliche West-Literatur, Kostbares, Lesenswertes - und den entsprechenden Kunden- und Freundeskreis - um sich.

Dann kommt die Wende, für die sich der unpolitische Bildungsbürger  Paulini erst nicht interessiert. Aber sie krempelt sein Leben um. Bücher sind plötzlich nichts mehr wert, sein Haus fällt an Erben aus dem Westen, seine Ehefrau wird als jahrelanger Stasi-Spitzel enttarnt. Was ihm noch bleibt, die Bücher, nimmt ihm das schlimme Elbe-Hochwasser 2002. Er zieht in die Sächsische Schweiz und wird dort - das allerdings ist im Buch nur mit wenigen Sätzen angedeutet - zum offenbar gewaltbereiten Rechtsextremen. Paulini verunglückt am Ende tödlich, als er und seine Freundin Lisa von einer Felskuppe stürzen.

Was macht diesen Roman spannend? Die schillernde Welt der alten Bücher? Die Wandlung der Hauptfigur vom Kulturmenschen zum Reaktionär? Letztere wird jetzt von den meisten Rezensenten in den Vordergrund gestellt, aber im Roman kaum thematisiert. Mich hat etwas anderes fasziniert. „Die rechtschaffenen Mörder“ ist nämlich ein großartiges literarisches Versteckspiel - es folgt damit Klassikern wie Leo Perutz‘ Der Meister des Jüngsten Tages oder Anton Tschechows Drama auf der Jagd.

Im ersten von drei Teilen ist Paulinis Lebensgeschichte erzählt. Der zweite Teil unterscheidet sich davon. Er ist eine Art Tagebuch, in dem der Autor des ersten Teils, ein gewisser „Schultze“ (!), seine Motivation erklärt, Paulini ein literarisches Denkmal zu setzen. Paulini sei der Held seiner Dresdner Jugend gewesen. Er verstehe Paulini als „den großen Leser (…), der über die Zeiten und Systeme hinweg aufgrund seiner Veranlagung und Leidenschaft zum Bollwerk wird gegen das, was uns Büchermenschen bedroht“, der sich „gegen das stemmt, was uns Jahr für Jahr aushöhlt und wegschwemmt und eines Tages nichts mehr von dem übrig gelassen haben wird, wofür wir zu leben geglaubt haben“.

Kann ich als Rezensent nun furchtbar überladene Schachtelsätze kritisieren? Oder die altbackene, platte Sprache in Sätzen wie diesem:  „Selbst meine Eltern, die in Sachen Frauen bei mir an Kummer gewöhnt waren, gaben schnell ihre Reserviertheit Lisa gegenüber auf.“ Nein, kann ich nicht. Denn es ist nicht der Dresdner Autor Ingo Schulze, der hier spricht, sondern der fiktive Dresdner Autor „Schultze“ (ja, wie bei Tim und Struppi).

Und dieser Schultze beginnt, mich Leser einzuwickeln. Eigentlich war Paulini schon immer unsympathisch, geht mir nun auf. Eigentlich war er ja bereits in jungen Jahren ein rechthaberischer, andere belehrender, fast autistischer Kulturbürger - was sich im Alter noch verstärkte. Ein begieriger Leser zwar, aber dennoch ein Mensch ohne Neugier. Das aktuelle Bindeglied zwischen Paulini und dem Autor Schultze ist Lisa: Schultzes Freundin hilft Paulini im Haushalt und im Antiquariat in der Sächsischen Schweiz. Oder ist da doch mehr, das sie mit dem Bücherkauz verbindet?

Der dritte Teil des Buches schließlich stellt nochmals alles auf den Kopf. Schultzes Verlagslektorin macht sich auf den Weg in die Sächsische Schweiz, weil sie Zweifel plagen. Wie sind Paulini und Lisa wirklich gestorben? Und mir als Leser stellt sich die Frage: Bin ich Schultze auf den Leim gegangen? Was von all dem Erzählten kann ich ihm überhaupt glauben?

Ein Buch zum Weiterrätseln und Weiterdenken.

Sonntag, 22. März 2020

Martin Mosebach: Der Nebelfürst

In 42 ebenso kurzen wie spannenden Kapiteln schildert Martin Mosebach hier die Abenteuergeschichte des Journalisten Theodor Lerner. Lerner existierte wirklich. Und wie im Roman unternahm er eine Expedition zur Bäreninsel südlich Spitzbergens, die damals als herrenlos galt. Er nahm sie in Besitz, indem er mitgebrachte Grenzpfähle einsteckte.

Rund um diesen historischen "Nebelfürsten" hat Mosebach eine hintersinnig humorvolle Geschichte gewoben. Bei ihm ist Lerner die begeisterungsfähige Marionette der Hochstaplerin Frau Hanhaus, die mit halsbrecherischen Versprechungen das ganz große Geschäft anzetteln will und immer wieder scheitert - aber, wie es solche Menschen an sich haben, den Kopf doch immer wieder aus der Schlinge zieht. Mosebach ist eine Art Don Quijote, der zwar keine Ritterromane liest, aber sich von Zeitungsartikeln und großen Versprechungen mitreißen lässt und deshalb manchmal tumb und hilflos durch die Handlung taumelt. Im Gegensatz zu Frau Hanhaus ist er wirklich ein Verlierer - auch wenn sich zum Schluss noch die eine oder andere Hintertür für ihn öffnet.

Wunderbare Charakterschilderungen machen dieses Buch aus: ein Laune machendes Porträt der Zeit in der deutsche Emporkömmlinge vom Weltreich träumten, während Pfeffersäcke das große Geld witterten. Besonders lesenswert sind die Passagen, in denen ein Maler namens Courbeaux einmal über die Kunst, verschiedene Arten von Schnee zu malen, referiert, um kurz darauf die unzähligen Schattierungen der Farbe Schwarz zu preisen, in der er eine afrikanische Varietétänzerin verewigt.

Montag, 9. März 2020

Volker Kutscher: Goldstein

Volker Kutschers dritter Roman um Gereon Rath, Kriminalkommissar in Berlin zur Zeit der Weimarer Republik (der erste, "Der nasse Fisch", ist Grundlage der Fernsehserie "Babylon Berlin".

Der Chicagoer Auftragskiller Abraham Goldstein ist in der Stadt: Rath erhält den Auftrag, ihn zu bewachen. Währenddessen misslingt der Einbruch eines jugendlichen Diebespaars, Benny und Alex, im Luxuskaufhaus KaDeWe, und Benny wird dabei tödliches Opfer brutaler Polizeigewalt. Dann stirbt ein Hehler, weitere Tote folgen, darunter ein SA-Mann. Ist das ein Werk des - natürlich entwischten -  Gangsters Goldstein?

In weiteren Rollen: Unterweltboss Johann Marlow, rivalisierende Ringvereine, eine verschwiegene Polizistenclique, die Selbstjustiz übt. Das Berlin Anfang der Dreißigerjahre hat Kutscher atmosphärisch gut eingefangen. Und er verwendet einen Kunstgriff, den ich sehr mag: Er erzählt die Handlung nicht in aller Breite aus, sondern überspringt Geschehenes, lässt Kapitel lässt Kapitel erst später einsetzen und den Leser das zwischenzeitlich Geschehene selbst rekonstruieren. Viele Autoren machen genau das Gegenteil, und das ist das Nervtötendendste, was es gibt: alles zehnmal erzählen, weil eine Figur es ja noch nicht weiß in (der Leser aber schon).

Aber gleichzeitig ist das auch das Problem dieses Krimis. Es gibt zu viele Handlungsstränge, die nicht zusammenkommen. Das hat mich am Schluss verwirrt zurückgelassen.

Dienstag, 11. Februar 2020

Raphaela Edelbauer: Das flüssige Land

Raphaela Edelbauer macht weiter, wo Rosendorfer, Doderer und Herzmanovsky-Orlando aufgehört haben. Magischer Realismus vom Feinsten. Ein wirklich starkes Buch.

Die Handlung: Die Wiener Physikerin Ruth Schwarz ist schockiert vom Unfalltod ihrer Eltern. Laut Testament möchten die beiden in Groß-Einland, dem Ort ihrer Kindheit, beerdigt werden. Aber wo ist dieses Groß-Einland, von dem Ruth bislang nichts ahnte? Es ist in keiner Karte verzeichnet. Wie benebelt macht sich Ruth auf den Weg und findet schließlich hinter einem großen Wald den grotesk idyllischen Ort.

Die Idylle hat Risse, das wird auf surreale Weise augenfällig. Denn unter dem Ort befindet sich ein riesiger Hohlraum in der Erde - ein ehemaliges Bergwerk - , der nicht nur an verschiedenen Stellen den Untergrund einbrechen lässt und für Risse in den Bauwerken sorgt, sondern auch die gesamte Statik aus den Fugen bringt. Der ganze Raum - und mit ihm die Zeit - scheint flüssig.

"Der Mensch ist ja mit der Heimat verheiratet, mit dem Untergrund, aus dem wir alle kommen", sagt einer beim Skatspielen.

"In Wochen, in denen die Einbrüche rasch vor sich gingen, schien die Zeit  zu rasen und man hatte kam Gelegenheit, die vielen Veränderungen im Ortsbild zu bemerken, sodass sich in wenigen Momenten die Verwitterung von Jahren zu ereignen schien. Blieb aber alles konstant, so nahm der Fluss der Dinge fast eine gewisse Zähigkeit an, und die Monate rollten in belangloser Indolenz über mich."

Ruth stemmt sich nicht gegen die surreale Welt, sondern - hier lässt das Ganze an Franz Kafka denken - richtet sich auf eine schlafwandlerische Art über Jahre in ihr ein. Sie tritt eine Stelle bei der dominanten Gräfin an, die fast operettenhaft über den Ort herrscht und seine Bewohner wie Marionetten lenkt.

Die Gräfin sagt: "Da ist die alte Ordnung, wie wir sie hier praktizieren, und dann die neue, die an einem gewissen Stichpunkt einfach über die erste gebreitet wurde, ohne auf die gewachsenen, organischen Strukturen Rücksicht zu nehmen."

Ruth entdeckt aber auch: Das riesige Loch, das die Gräfin erst im Rahmen einer Kunstaktion zum Touristenmagnet machen und dann verfüllen lassen will, weist auf ein großes Verbrechen im Nationalsozialismus hin. Wohin sind 750 Zwangsarbeiter quasi über Nacht verschwunden? Möchte Ruth dieses Rätsel lösen? Alles fließt.

Raphaela Edelbauer spielt gekonnt mit Sprache, Raum, Zeit, Erwartung und Angst.

Sonntag, 19. Januar 2020

Hernán Rivera Letelier: Die Filmerzählerin



Dieses wunderschöne Büchlein ist so berührend,  so poetisch und in seinem Realismus so tieftraurig wie Federico Fellinis Film La Strada. Überhaupt hat mich dieses kleine Meisterwerk in vielem an den Leinwandklassiker  erinnert.

Das Leben ist trostlos und öde in der Salpeterminensiedlung mitten in der chilenischen Atacama-Wüste. Die einzige Abwechslung ist das schäbige Kino, in dem Filme mit Marylin Monroe oder John Wayne laufen. Der nach einem Arbeitsunfall halbgelähmte Vater (die junge Mutter hat die Familie verlassen), seine vier Söhne und die zehnjährige Tochter María Margarita können sich den Eintritt für alle nicht leisten. Also wird die Zehnjährige in einem Wettbewerb dazu auserkoren, ins Kino zu gehen und den anderen zu Hause die Filme nachzuerzählen.

So wird María Margarita zur begeisterten Cineastin und zur fantasievollen, wortgewandten darstellerisch begabten Filmerzählerin. Bald kommen Verwandte, um ihren Filmerzählungen und Darbietungen zu lauschen, Nachbarn bezahlen Eintritt, Bewohner der Siedlung laden das Mädchen in ihre Wellblechhütten ein, um sich von ihr einen Film erzählen zu lassen.

Sie ist dem Zauber des Kinos erlegen. Ich "betrachtete verzückt die staubglitzernde Lichtgarbe über mir". Und sie gibt diese Faszination an ihre Zuhörer weiter. Es ist eine märchenhafte, grenzenlose Welt, in der alles gut sein könnte. Wären da nicht bittere Armut, Unterdrückung, sexuelle Gewalt, Ausbeutung, Neid, zerronnene Hoffnungen und ein neues Medium, das nicht nur den schönen Traum der Filmerzählerin brutal zerstört: das Fernsehen. Wenn eine derart traurige Geschichte alleine durch ihre Poesie so glücklich machen kann, dann ist das große Literatur.

Freitag, 17. Januar 2020

Natalio Grueso: Der Wörterschmuggler

Die geheimnisvolle junge Japanerin Keiko "mit dem scheuen Blick und den honigfarbenen Augen"  lebt in Venedig. Sie empfängt jede Nacht einen Liebhaber. Aber stets nur für eine Nacht, und nur als Gegenleistung für mitgebrachte Geschichten und Verse.

Bruno Labastite möchte unbedingt dieser Auserwählte sein. Gut, dass Bruno nicht nur ein weitgereister Abenteurer und Verführer ist, sondern auch ein erprobter Geschichtenerzähler. Jedes Kapitel dieses Buches ist eine abgeschlossene Episode aus Brunos Leben. Diese verweben sie sich zu einem großen Ganzen. Es geht um einen Jugendlichen, der Wörter schmuggelt, einen traurigen Mann, der sich die Nutzungsrechte an allen geschriebenen und gesprochenen Wörtern gekauft hat, einen unsichtbarer Verehrer in der Oper, ein trauriges Fußballtalent, eine zwergenhafte alte Hehlerin mit Monokel, einen Traumjäger. Die Reise führt nach Buenos Aires, Shanghai, Paris, Genf, Moskau und an viele weitere Orte.

Das hört sich alles wunderbar an. Ist es aber nicht. Denn gut erzählte Geschichten leben von Beispielen. Das erst macht einen Cuentacuentos, einen Fabulierer aus: Er lässt Szenen lebendig vor Augen treten. So entsteht Kino im Kopf. Natalio Grueso aber macht es sich leicht. Er formuliert so vage wie möglich. Und genau deshalb reißen seine Geschichten nicht mit. Da gibt die Hauptperson dem Taxifahrer "ein großzügiges Trinkgeld". Schlecht. Ich will die Münzen klimpern hören, den Schein knistern, will wissen, wie viel Geld in welcher Währung sie dem Fahrer zusteckt und mit welchem Blick dieser reagiert. Jemand gießt sich "einen großzügigen Whisky ein". Dasselbe!

"Dieses überwältigende Gefühl", wenn das Kind an der Hand seiner Großvaters ins Bombonera-Fußballstadion von Buenos Aires geführt wird. Wie einfach wäre es  doch, dieses Gefühl mit plastischen Szenen - und ohne Klischees - heraufzubeschwören.

Es gibt einen Mann, der Menschen Bücher verschreibt, ihnen mit seinen Empfehlungen hilft. Und was empfiehlt er dem bezaubernden Mädchen, das er vor der Apotheke trifft? "Ich würde dir einen Liebesroman verschreiben." Der Mathestudent, der "mit Drogen liebäugelt" bekommt "eines von Thomas de Quincey" verschrieben. Die reife Dame, die sich am untreuen Ehemann rächt, "eines von Choderlos de Laclos". Lauter vertane Chancen.

Die Dame zieht vor dem rätselhaften Opernbesuch "das schwarze Kleid" an, darunter trägt sie "edle Dessous" und sie gibt "zwei Tropfen Parfum auf den Hals und die Handgelenke". Parfum? Wie hölzern, wie blutleer kann man erzählen? Wenn der Erzähler schon keine Fantasie hat, dürfte es dem Leser umso schwerer fallen.

Zum Frühstück gibt es "Gebäck" und "Cerealien", im spanischen Original also wahrscheinlich bollería oder repostería und céréales - auch nicht besser. Ich könnte noch unendlich viele Beispiele nennen, denn es gibt sie auf jeder Seite.

 Ich muss es einfach so drastisch formulieren: Natalio Grueso ist ein sehr, sehr schlechter Erzähler. Er hätte keine Chance bei Keiko.

Mittwoch, 1. Januar 2020

Jan Peter Bremer: Der amerikanische Investor

Nichts. Das passiert in diesem Buch von Jan Peter Bremer. Buchstäblich nichts. Bremer ist seit vielen Jahren einer der besten deutschsprachigen Schriftsteller. Und der einzige, der so grandios über nichts, nichts und wieder nichts schreiben kann.

Der Erzähler, ein Schriftsteller, liegt in seinem Bett und lässt die Gedanken schweifen. Besser gesagt haben ihn seine Gedanken fest im Griff. Er sinniert über das Kreuzberger Mietshaus, in dem er mit Frau und zwei Kindern wohnt, und das von einem amerikanischen Investor gekauft wurde, der es nun sanieren lässt. Die Böden senken sich ab und Wände bekommen Risse. Von der Mieterberatung hat der Erzähler widersprüchliche Signale erhalten. Er sorgt sich um die Zukunft und denkt darüber nach, dem amerikanischen Investor einen Brief zu schreiben. Diesem schwer zu fassenden Unbekannter, von dem er gelesen hat, dass er an Bord eines Flugzeuges lebt. Aber das ist gar nicht so leicht, wenn man obendrein so müde ist.

Die Sorge um die Wohnung, die Unfähigkeit zu reagieren, die Trägheit, die davon abhält, den ersten Satz zu schreiben, lässt einen inneren Monolog entstehen. Die Worte spinnen sich weiter, die Gedanken malen sich aus was wäre, wenn.... wortreich und in plastischer Sprache hadert der Erzähler mit seiner vermeintlichen Sprachlosigkeit. Die Frau, die Kinder, der Hund, der frühere Hausmeister, der kleine Ali - alle, die seinen Weg kreuzen, leben intensiv wie in einem Fiebertraum auf. Anders als die unnahbar-bedrohlichen Figuren in den Romanen und Erzählungen Franz Kafkas haben diese Fremden Gefühle, hegen Zorn oder Hinterlist, handeln überlegt oder impulsiv. Der Erzähler steigert sich hinein, überschlägt sich, seine Einfälle verselbstständigen sich, er gibt sich larmoyant, selbstzufrieden, eitel, faul, hysterisch. Das ist mitunter zum Schreien komisch.