Mittwoch, 24. Juni 2015

Thomas Glavinic: Das größere Wunder

Dieses Buch ist nicht schlecht, hat aber nervige Stellen. Vielleicht erst mal anlesen und dann selbst entscheiden.
 
In abwechselnden Kapiteln erzählt Glavinic die Everest-Besteigung seines Titelhelden Jonas und in Rückblenden dessen lebenslange Suche nach einem Sinn, auf der er letztlich die Liebe findet. Die Everest-Kapitel fesseln. Jonas ist in einer schmerzhaften Extremsituation auf sich selbst zurückgeworfen. Das ist besonders zum Ende hin extrem dicht und bildgewaltig.
 
Woran das erinnert: An Antoine de Saint-Exupéry und seine mitreißenden Erlebnisberichte.
 
Jonas' Leben wiederum ist alles andere als gewöhnlich. Einerseits spielt ihm das Schicksal hart mit. Die Mutter ist Alkoholikerin, ihr Freund  misshandelt ihn schwer. Der geistig behinderte Bruder wird von einem dumpfen Dorfnazi mit dem Luftgewehr zu Tode gequält. Dann sterben auch sein bester Freund Werner bei einer dämlichen Mutprobe und sein Zieh-Großvater Picco an Krebs. Warum haben mich diese Wendungen beim Lesen nicht mitgerissen? Vielleicht ist diese Achterbahnhandlung zu sehr auf Effekte aus?
 
Gleichzeitig ist Jonas mit unermesslichen, ja märchenhaften Mitteln ausgestattet, hat unbegrenzt Geld, ist augenscheinlich attraktiv, stark, sportlich, hat Beziehungen und Macht, kann Dreckhunde diskret „bestrafen" lassen. Er trifft keine einzige falsche Entscheidung und ist niemals peinlich. Dafür tut er, was ihm in den Sinn kommt, jettet lustig um die Welt, nimmt alles mit.

Er lässt sich von einer hübschen Norwegerin ein fünfstöckiges Baumhaus bauen, kauft sich eine Insel in der Südsee samt Segelschiff, entdeckt im Zentrum Roms den Laden, der die besten Weine und Antipasti führt - und gewinnt in dessen Besitzer Salvo einen Freund fürs Leben-, raucht im Jemen Kat, wandert über den Inka-Pfad nach Machu Picchu, bouldert im Yosemite, gründet Stiftungen gegen Tierversuche, arbeitet im Behindertenheim, lebt mit orthodoxen Juden Shimon und Abigajil in Jerusalem zusammen, surft auf den weltgrößten Wellen, rettet aus einem brennenden Krakauer Wohnhaus eine alte Frau, wohnt einen Monat im verlassenen Prypjat bei Tschernobyl, wandert auf dem Kilimandscharo „allein und ohne Karte, und nachts hörte er Löwen brüllen.":   Manches davon ist witzig beschrieben, anderes recht schablonenhaft aufgezählt.
 
Woran das erinnert: An die überflüssigen Schlusskapitel von Chamissos „Peter Schlemihls wundersamer Geschichte“, als Schlemihl durch Zufall auf einer Kirmes Siebenmeilenstiefel gekauft hat und nun schnellen Schrittes die Kontinente durchmisst.
 
Was aber nervt, ist, dass Glavinic' Jonas schon als Kind extrem altklug daherredet (und auch denkt) und dieses Getue bis zuletzt nicht ablegt. Dieser Mann denkt in Kalenderweisheiten à la:
 
„Sinn, danach suchten alle, mehr als Sinn konnte man nicht finden."
„Liebe ist: den leuchtenden Punkt der Seele des anderen zu erkennen und anzunehmen und in die Arme zu schließen, vielleicht gar über sich selbst hinaus.“
„Nimm dich nicht so wichtig. Milliarden Menschen haben vor dir geliebt. Die meisten davon hatten Pech.“
„Jemand hat die Kuh gemolken, die die Milch gab, aus der die Sahne wurde, die der Koch beigefügt hat. (...) Ich bin der Endpunkt vieler Menschen Arbeit. Keinen davon kenne ich.“
 
Woran das erinnert: Leider – an Paulo Coelho.