Sonntag, 30. Dezember 2018

Sasa Stanisic: Vor dem Fest


"Dass etwas existiert und funktioniert, aber für niemanden einen Nutzen hat. Gegenstände, Geräte, ein ganzer Ort. Die Glocken. Dass die einfach nur noch da sind."

Das ist das Nichts im fiktiven Ort Fürstenfelde in der Uckermark. Eigentlich sollte hier nichts mehr sein, das noch einen Nutzen hat. Die Biertrinker in der Garage (eine Kneipe gibt es nicht mehr). Die schwermütige Dorfhistorikerin, ihr Sohn, der mit Inbrunst die längst überflüssigen Kirchenglocken läutet, der Hühnerzüchter, der einmal Briefträger war, ein ehemaliger NVA-Oberst, der sich zwar nicht ermordet, aber auf den widerspenstigen Zigarettenautomat schießt, ein Junkie, der auf abstrusen Wegen zum Glauben findet, ein aphoristischer Fährmann, dessen Tod eine schmerzliche Lücke hinterlässt. Trotz allem gelingt es diesem Dorf,  ein wunderschönes, federleichtes Dorffest zu feiern. Es ist hier nämlich keineswegs nichts.

 All die skurrilen Ereignisse, die sich vor und während des Festes abspielen, verwebt Stanisic poetisch zu einem ironischen, sprachgewaltigen Ganzen. Immer wieder streut er farbenfroh alte Sagen, Mythen und Märchen ein.

Das erinnert ein bisschen an Günter Grass, nur das der in Bosnien geborene Stanisic die deutsche Sprache weitaus besser beherrscht, als der ungelenke Grass es jemals konnte. Viel eher ist da ein Gabriel García Márquez in deutscher Sprache auf den Plan getreten. Magischer Realismus aus der Uckermark.

"Herr Schramm glaubt, dass es ganz egal ist, ob du Chinese bis oder Fürstenfelder, Fährmann oder Schiffbrüchiger in der Vergangenheit oder jetzt - eine Zeitlang leuchtest du."

Mittwoch, 19. Dezember 2018

Martin Suter: Die Zeit, die Zeit


Peter Taler kann den Tod seiner Frau Laura vor einem Jahr einfach nicht fassen. Scheinbar grundlos wurde sie vor der eigenen Haustür niedergeschossen. Taler will nicht ruhen, bis er den Mörder gestellt hat.

Bei seinen Ermittlungen kommt er mit dem verschrobenen Nachbar Knupp in Kontakt, der seine ganz eigene Theorie zum Thema Zeit verfolgt: Er ist nämlich überzeugt, dass jene gar nicht existiert.

Menschen altern nicht wegen der Zeit, so glaubt Knupp, sondern wegen der Zellteilung. Bäume wachsen, Menschen verändern Dinge. Nicht die Zeit vergeht, nur Veränderungen sind spürbar. Macht man diese Veränderungen rückgängig, dann kann man quasi in der Zeit reisen, und zwar zu jedem beliebigen Punkt - auch zu jenem, an dem Laura noch lebt. Das hat einen gewissen Charme für Taler. Er möchte Knupp gerne glauben und unterstützt ihn bei seinem wahnwitzigen Vorhaben: Dieser möchte nämlich einen Tag vor mehr als 20 Jahren wieder zurückholen: Alles muss exakt so sein wie damals.

Auch Knupp will nämlich seine Frau zurück, die damals an Malaria gestorben ist. So machen sich beide daran, gealterte Bäume in den umliegenden Gärten gegen jüngere auszutauschen, Knupps Wohnung umzugestalten und die Autos zu besorgen, die damals in der Straße standen. Dafür beauftragen sie eine Filmdekorationsfirma und eine Gärtnerei, betreiben einen unfassbaren Aufwand und geben horrende Summen aus. Als der Tag x immer näher rückt, kommt Taler gleichzeitig - quasi als Nebenprodukt - dem Mörder seiner Frau immer mehr auf die Spur.

"Man bringt es einfach nicht aus dem Kopf, dieses Zeit-Ding", sagt Angela, eine junge Anhängerin von Knupps Theorie, die die beiden zufällig kennenlernen. Zeit ist ein Konstrukt. Wir räumen ihr zu viel Macht ein und machen sie zur Herrin darüber, wie wir Geschichten erzählen. Genau damit ist hier gespielt. 

Der Schluss kommt unverhofft und zeigt, dass Schriftsteller, wenn sie gut sind, sehr mächtige Wesen sind. Könnte auch von Herbert Rosendorfer sein, das Ganze - auch wenn im Vergleich dazu der Schuss Phantastik fehlt. Suter setzt dagegen seinen typischen Wirtschaftsrealismus: Probleme und kleine Ungereimtheiten in der Handlung werden mit Geld gelöst, große Probleme mit viel Geld.

Samstag, 8. Dezember 2018

Anna Maria Schenkel: Tannöd

Es folgt eine uneingeschränkte Empfehlung. Es gibt so viele Krimis, Heimatkrimis zumal - die meisten sind schauder-, weil klischeehaft, platt, unlogisch, nicht zwingend, voller Adjektive, ohne Verben. Dabei könnte sich die Autoren an dieser Novelle von 2006 sehr viel abschauen. Allerdings wäre dazu ein  gekonnter Umgang mit Sprache notwendig.

Andrea Maria Schenkel - die heute renommierte Autorin war damals noch eine 45-jährige Hausfrau ohne literarische Erfahrung - griff in ihrem Erstlingskrimi einen wahren Fall auf. 1922 ereignete sich auf dem oberbayerischen Einödhof Hinterkaifeck ein Sechsfachmord, der bis heute nicht geklärt ist. Schenkel verlegte die Handlung in die 1950er-Jahre und ins oberpfälzische Tannöd.

Abwechselnd schildert die Erzählerin Geschehen auf dem Hof der Familie Danner vor, während und nach dem Mord an vier Erwachsenen und zwei Kindern und das, was ihr die Dorfbewohner erzählen, die „von dem Verbrechen berichten wollen“.

Auf dem Aussiedlerhof haust das despotische Bauernmonster Danner, der nicht nur seine Frau sondern, auch die Tochter Barbara missbraucht - aus dem inzestuösen Verhältnis gehen die zwei Kinder hervor, die zu Mordopfern werden. Ein nichtsnutziger Knecht verdingt sich hier nur deshalb für kleines Geld, um den Bauern bei Gelegenheit auszurauben. Nachbar Georg Hauer geht nach dem Tod seiner Frau eine Beziehung mit Barbara ein - bis diese ein weiteres Kind bekommt.

Von den Dorfbewohnern sprechen viele, so die achtjährige Schülerin, die vergeblich auf ihre Schulkameradin Marianne gewartet hat, der Postschaffner, dem am Haus, das tagelang voller Leichen liegt, nichts aufgefallen ist, der Monteur, seinen stur seinen Reparaturauftrag auf dem Hof erledigt hat, obwohl keine Menschenseele zu sehen war, der arrogante Bürgermeister, der Pfarrer, der gelernt hat, wegzuschauen.

2006 hat dieses Erstlingswerk der damals 45-jährigen Hausfrau - heute eine renommierte Autorin - für Aufsehen gesorgt. Nicht, weil diese Interviews (oder Gespräche oder Verhöre) so authentisch wären - so kohärent, so zusammenhängend und so auf eine Handlung hin ausgerichtet antwortet eigentlich niemand. Aber, weil hier alle Akteure ihre eigene Sprache besitzen, die sich immer unterscheidet, und immer - wie auch in den Erzählkapiteln - ein schöne, einfache, knappe, dichte Sprache ist. Vieles aus hat Schenkel aus den alten Akten des realen Falles genommen, auf anderes hat sie sich einen eigenen Reim gemacht.

Am Ende klärt sie den Mordfall auf (und lässt ihn ungesühnt). Sie erreicht damit, etwas was in Wirklichkeit in fast 100 Jahren nicht gelungen ist.