Dienstag, 19. April 2016

Hermann Hesse: Im Presselschen Gartenhaus

Eine hinreißende Tübingen-Miniatur aus dem Jahr 1913. Hesse hatte in der Unistadt  bei Heckenhauer von 1895 bis 1899 eine Buchhändlerlehre absolviert. In dieser Momentaufnahme gelingt ihm eine fantastische Charakteristik seiner verflossenen Tübinger Dichterbrüder ein Jahrhundert zuvor.

Eduard Mörike und Wilhelm Waiblinger, beide Theologiestudenten am evangelischen Stift, holen den damals 53-jährigen, geistig umnachteten Friedrich Hölderlin in seinem Turm ab, wo ihn die Familie des Schreiners Zimmer pflegt. Gemeinsam ziehen sie ins Sommergartenhaus auf dem Österberg. Als Hölderlin wieder abgeholt wurde, erzählt Mörike die lustig-fantastische Geschichte von seiner Begegnung mit dem Museumsdirektor Joachim Andreas Vogeldunst aus Samarkand, der für seine Kuriositätensammlung noch einen schwäbischen Dichter benötigt.

Höderlin ist nur noch ein Schatten seiner selbst, traurig und verängstigt wie ein gefangener großer Vogel. Spricht er, so verschanzt sich hinter einem feierlichen Hofzeremoniell, redet die Studenten mit "Majestät" an, brabbelt Unverständliches vor sich hin. In seiner Krankheit erkennen die Studenten weniger einen Wahnsinn "als eine tiefe Ermüdung und hoffnungslose Resignation des verbrauchten Geistes und Herzens". Immer wieder flackert in Hölderlin eine Ahnung des Großen auf, etwa bei dem abendlichen Gedanken, Jugend und Schönheit, vergessene geistige Gedankenwelten hätten an diesem Tag in der Laube zu ihm gesprochen. Doch: "Er vermochte nur noch die dünne, vereinzelte Melodie seiner eigenen Vergangenheit zu hören, und die war nichts als unendliche Sehnsucht ohne Erfüllung gewesen. Er war alt, er war alt und müde."

Waiblinger ist ein Fantast, reizbar, impulsiv und vom absoluten Willen durchdrungen, Schönes und Wahres zu schaffen - zur Not mit Gewalt. Mörike fürchtet seine "Mischung von brutaler Offenheit und pathetischer Schauspielerei". Waiblinger weiß, dass seine Lebenszeit schneller verbraucht ist als bei anderen: "Ich bin gezeichnet wie ein Baum, der gefällt werden soll." Ganz anders Waiblingers Gesicht, wenn er sich rührend und liebevoll um seinen geistigen Bruder Hölderlin kümmert.

In keinen der drei blickt Hesse so tief hinein wie in Mörike. Äußerlich wegen seiner guten Laune geliebt, ein "stiller und guter Stern", der Verzicht predigt. "Du stehst überall nur wie ein Wächter dabei und hast überall nur teil am Schönen und Zarten und nicht am Giftigen und Hässlichen", wirft ihm Waiblinger vor. Und innerlich? Da schaudert Mörike vor sich selbst, wie ihm in manchen schönen Augenblicken "plötzlich die ganze Umgebung zu einem verzauberten Bilde erstarrte, in dem er mit staunenden Augen stand und die rätselhafte Schönheit der Welt wie eine Mahnung und beinahe wie einen feinen, heimlichen Schmerz empfand." Wie er in Abgründe und Schwermut hinabgleitet. "War es wirklich das Schicksal der Dichter, dass ihnen keine Sonne scheinen konnte, deren Schatten sie nicht in der eigenen Seele sammeln mussten?" fragt sich Mörike selbst

Hesse schließlich gelingt es, sich unter die anderen schwäbischen Dichter einzureihen. Der abgründige Menschenkenner leidet mit, fühlt sich verwandt, setzt Tübingen und der Zeit ein unfassbar poetisches Denkmal. Und auf Hessesche Schrulligkeiten wie die "frohen, ernsten, heiteren oder träumerischen Jünglingsgesichter", bei denen "knabenhafter Stirn" strahlt, muss der Leser auch nicht verzichten. Also alles drin.

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