Sonntag, 27. Oktober 2013

Franz Hohler: Gleis 4

Auf einmal bricht der fremde ältere Herr, der Isabelles Koffer eben noch höflich die Treppe hochgetragen hat, zusammen. „Bitte...“, bringt er noch heraus, dann stirbt er auf dem Bahnsteig in Zürich-Oerlikon. Für Isabelle ändert sich schlagartig alles. Wer war der ältere Herr, worum wollte er sie bitten? Die Altenpflegerin bricht ihre Italienreise ab und sucht Zugang zu dem Mann, der offenbar Kanadier ist, aber eine rätselhafte Schweizer Vergangenheit hat. Gemeinsam mit ihrer erwachsenen Tochter Sarah und Véronique, der Witwe des Mannes, macht sie sich auf kriminalistische Spurensuche, die immer Unerhörteres und Haarsträubenderes zu Tage bringt. Was Jahrzehnte lang vertuscht und verschwiegen wurde, legen die drei Frauen Schicht für Schicht frei.



Sie erleben noch einmal, wie die Schweizer „Armenbehörde“ den unehelich geborenen Jungen der Mutter wegnimmt und ihn als „Verdingbub“ auf einen Bauernhof zu sadistischen Pflegeeltern bringt. Wie sie ihn eines Verbrechens beschuldigen und in ein unmenschliches Erziehungsheim abschieben. Wie ihm schließlich die Flucht in ein fernes Land und eine neue Identität gelingt. Hinter dem idyllischen Alpenpanorama lauern im Roman „Gleis 4“ des 70-jährigen Schweizers Franz Hohler Engstirnigkeit, Verstocktheit und Brutalität. Alles Böse prasselt auf den allein gelassenen Jungen ein. Verbündete findet er erst jetzt, nach dem Tod.



Die distanzierte Erzählweise, die überstrapazierte indirekte Rede, die Behäbigkeit und die Exkurse in eine eiskalte Behördensprache verstärken im Leser den Drang aufzubegehren, sich gegen diese himmelschreiende Ungerechtigkeit zur Wehr zu setzen. Ein hochemotionaler, spannender Sozialkrimi.



Franz Hohler: Gleis 4. Verlag Luchterhand. 220 Seiten. 17,99 Euro.



Erschienen in Schwäbische Zeitung, 23./24. Oktober 2013

Mittwoch, 2. Oktober 2013

Anthony Horowitz: Das Geheimnis des weißen Bandes

Die mustergültigsten und besten Vertreter einer Gattung sind vielfach dann entstanden, als deren große Zeit schon längst vorbei war. Die beste Doo-Wop-Band waren „Rocky Sharpe and the Replays” in den Siebzigerjahren, das beste Kino-Piratenabenteuer ist „Fluch der Karibik“ von 2003. Rennaissancen, Neo-Baustile, Revivals übertreffen oft ihre Ahnen. 

 Das liegt natürlich auch daran, dass es die Nachahmer leichter haben. Aus der zeitlichen Distanz können sie beurteilen: Was hat die Jahrzehnte überdauert, was macht den Charme eines Genres aus?  

Gleiches gilt für „Das Geheimnis des weißen Bandes“, einen Sherlock-Holmes-Krimi von Anthony Horowitz aus dem Jahr 2011. An einem eiskalten Wintertag betritt ein Mann die Wohnung in der Baker Street 221B. Ein Londoner Kunsthändler, der die Rache einer irisch-amerikanischen Verbrecherbande fürchtet, wendet sich Hilfe suchend an Sherlock Holmes. Im Lauf der Ermittlungen stößt dieser auf dunkle Machenschaften, kann zwei Morde nicht verhindern und wird sogar selbst zum Verdächtigen. 

Horowitz hat seinen Doyle gründlich studiert. Alles ist stimmig, der Stil, die Atmosphäre, der Nebel, die Droschkenfahrten, die Londoner Elendsgestalten, der unbedarfte Dr. Watson. Und natürlich Holmes und seine Methoden, die Beobachtung noch so kleinster Details, die waghalsig erscheinenden Schlussfolgerungen, die zuweilen arrogante Auftritte. Horowitz trifft es und übertrifft sein Vorbild dabei, ohne dass das Ganze prätentiös oder überfrachtet wirkt. Er geht noch weiter als Doyle, verpackt mehrere Fälle in einen, lässt seine Helden in noch viel tiefere Abgründe blicken als es sein Vorgänger es mehr als ein Jahrhundert zuvor getan hat.