Dienstag, 27. Januar 2015

Anthony Horowitz: Der Fall Moriarty

Dies ist der zweite Sherlock-Holmes-Roman von Anthony Horowitz nach Das Geheimnis des weißen Bandes. Mehr als 300 Seiten lang breitet sich die Handlung recht unspektakulär aus, aber der Knalleffekt zum Schluss entschädigt für vieles

Diesem Buch fehlen die durchgängige Spannung und die dichte Atmosphäre des Vorgängers. Dennoch sollte man der naheliegenden Versuchung widerstehen, den Band frühzeitig wegzulegen - in der Annahme, man habe es mit einem schwächeren Krimi zu tun - so wie ja auch Doyle selbst bisweilen schwächere Sherlock-Holmes-Geschichten ablieferte.

Im schweizerischen Meiringen treffen kurz nach dem berühmten Duell zwischen Sherlock Holmes und James Moriarty zwei Ermittler aufeinander: Es handelt sich um Athelney Jones, Inspektor bei Scotland Yard, und Frederick Chase, Detektiv im Dienste der New Yorker Agentur Pinkerton's. Offenbar, so finden die beiden heraus, plante der Superverbrecher Moriarty sich mit dem US-amerikanischen Gangsterboss Clarence Devereux zusammenzutun. Gemeinsam machen sich sich auf die Spur von Devereux und finden den skrupellosen Verbrecher, der inzwischen in London sein Unwesen treibt. Es kommt zum Showdown in den unterirdischen Gewölben des Smithfield-Schlachthofes. 

Und dann besagter Knalleffekt. Bei allen Unterschieden in Genre, philosophischem Tiefgang und sprachlicher Raffinesse ist der Vergleich mit Yann Martels Life of Pi gar nicht so abwegig. Warum, das soll hier nicht verraten werden. Alles in allem reicht Der Fall Moriarty nicht ganz an seinen Vorgänger heran, ist aber sehr unterhaltsam.

Donnerstag, 22. Januar 2015

Lucius Burckhardt: Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft.

Der Schweizer Soziologe Lucius Burckhardt (1925 bis 2003) gilt als Begründer der Spaziergangswissenschaft oder Promenadologie.


Im Mittelpunkt dieser Wissenschaft steht die Frage: Wie nimmt der Spaziergänger Umwelt wahr und konstruiert daraus eine Landschaft? Und wann empfinden wir diese Landschaft als schön? Schon die Fragestellung macht klar: Die Landschaft ist nicht in der Natur der Dinge, sondern in unserem Kopf – wir konstruieren sie aus Umwelteindrücken.


In unserem Kopf ist die Landschaft aber schon vor dem Spaziergang: In Erwartungen und Erinnerungen. Wenn wir eine Landschaft ausmachen, erkennen wir wieder, was Dichter, Maler, Gelehrte, aber auch Erdkundelehrer, Eltern, Großeltern und Kinderbücher uns beigebracht haben. Der Wiesengrund mit Brunnen vor dem Tore, die Heidelandschaft, das schroffe Gebirge, die endlose Wüste.



Räumlich entsteht Landschaft beim Spaziergang während des Weges. Unsere Wahrnehmung schließt heterogene Dinge zu einer Landschaft zusammen und blendet andere aus, sodass wir beim Heimkehren die liebliche Landschaft rühmen, oder aber sagen: Das Ries (der Hunsrück, die Toscana, der Spreewald....) ist auch nicht mehr das, was es einmal war.



Drei Entwicklungen, so führt Burckhardt aus, beeinflussen unsere Landschaftswahrnehmung. Zum einen ist der Unterschied zwischen Stadt und Land aufgehoben: Wir leben heute alle mehr oder weniger in einer Metropole, das Land ist industrialisiert, die Stadt begrünt. Das klassische Landschaftserlebnis aber war immer der Übergang von der Stadt auf das Land. Der Städter sah Landschaft, wenn er zum Spaziergang aus den Mauern heraustrat.



Damit entfällt auch ein zweites Kriterium: Die Interesselosigkeit. „Landschaft (…) ist das Bild, das sich der Städter, der sich die Hände nicht am Boden schmutzig macht, der kein Interesse am Land hat von der landwirtschaftlichen Welt außerhalb der Mauern gemacht hat", so Burckhardt.



Drittens spielt das Verkehrsmittel eine Rolle. Seit der Mensch Gegenden nicht mehr Stück für Stück zu Fuß erwanderte, sondern mit der Eisenbahn ein einzelnes Ziel ansteuerte, musste das komplette Landschaftserlebnis – quasi als Postkartenbild – an diesem einen Zielort vorhanden sein. Diese oft künstlichen Postkartenidyllen inklusive Panoramahotel sind seit der Verbreitung des Autos auch wieder überholt. Die Autoreise unterscheidet sich vom Spaziergang zu Fuß dadurch, dass die Distanzen weiter werden, „viel heterogenere Eindrücke müssen zu viel abstrakteren Ideallandschaften integriert werden“.



Burckhardt führte den Spaziergang auch als Methode ein, um diese Mechanismen zu ergründen. Unter anderem ließ es er eine Gruppe Studenten mit Windschutzscheiben vor den Gesicht durch die Straßen der Stadt gehen, um eine besondere Wahrnehmung zu simulieren.



Viele weitere Gedanken sind in diesem Kompendium angerissen: Über die Entwicklung der Gartenkunst, über die „totale Begärtnerung“, „Funktionalisierung und Hygienisierung“ der Städte, der Burckhardt die Brache und das Prinzip des „kleinsten Eingriffs“ als nutzerfreundliche Alternative entgegenstellt.


Weil „Warum ist Landschaft schön" kein wissenschaftliches Fachbuch, sondern eine Sammlung von Aufsätzen, Vorträgen und Artikeln aus Fachzeitschriften und Sammelbänden ist, gibt es zahllose Doppelungen, die aber auch dafür sorgen, dass sich die Grundgedanken einprägen.


Als Einstieg und Überblick gut geeignet ist der Beitrag „Bergsteigen auf Sylt“  auf den Seiten 306 bis 319. Nikolaus Wyss interviewte Burckhardt darin für das Magazin des Zürcher Tages-Anzeigers im März 1989.

Freitag, 2. Januar 2015

Jostein Gaarder: Der Geschichtenverkäufer


Jostein Gaarder erzählt in diesem Roman aus dem Jahr 2002 von Petter, der Geschichten verkauft. Er verkauft sie, weil er viel zu viele davon hat. „Ich blutete Geschichten und Erzählungen aus", schreibt der Ich-Erzähler. Das hat er schon als Kind getan. Die Eltern getrennt, wächst er bei der Mutter auf und spielt nicht gerne mit anderen Kindern, sondern beobachtet sie lieber. Er ist ein nüchterner Beobachter. Wenn er alleine ist, unternimmt Petter Seelenreisen, fliegt in seiner Fantasie über die Stadt und auf den Mond und sieht sich alles genau an.
 
Er lernt, dass auf dem Schulhof (und im Leben) Prügeln unter Kindern eher akzeptiert und entschuldigt wird, als andere mit Worten zu verletzen, wie er es mitunter tut. Doch er kauft sich frei, indem er anderen Kindern gegen kleine Bezahlung die Hausaufgaben erledigt. Auf die gleiche Weise verdient er später, als Erwachsener, seinen Lebensunterhalt: Er verkauft Autoren seine Ideen, vor denen er übersprudelt. Er ist wie ein Jäger, der Geschichten jagt und erlegt. Das Ausnehmen und Zubereiten überlässt er anderen. „Ich hätte es niemals geschafft, einen Roman zu schreiben, dazu hatte ich viel zu viele Ideen", schreibt er. Sich einer Idee zu widmen, viel Zeit in sie zu investieren, das ist seine Sache nicht.

Petter lässt seine Kunden, die einfallslosen Schriftsteller, die zwar schreiben können, aber keine Fantasie haben, wie Marionetten tanzen. Wie eine Spinne webt er ein feines Netz aus Abhängigkeiten.  Er verkauft die Fantasie, mit der sich die anderen schmücken, Ehre erlangen, bewundert und geliebt werden. Weil er selbst kein Schriftsteller ist und nicht in deren Zwängen, Eitelkeiten und Verletzbarkeiten gefangen ist, kann er einen nüchternen - und für die Leser sehr interessanten - Blick auf das Schriftstellertum werfen.

Er schreibt: „Vielen angehenden Autoren fehlt es an so etwas Grundlegendem wie Lebenserfahrung.... Zuerst lebt man, dann kann man sich überlegen, ob man etwas zu erzählen hat.“ Was Petter übersieht: Er selbst hat nie gelebt. Von Freunden ist keine Rede. Er hat viele Frauen mit der Macht seiner Worte ins Bett bekommen, aber es ist nichts zwischen ihm und diesen Frauen. Auch hier: ein sehr nüchterner, illusionsloser Blick auf das, was sich zwischen Männern und Frauen abspielt.

Nur einmal liebt Petter selbst. Und die ganze Geschichte läuft so unglücklich wie alles in Petters Leben. Er trifft die falschen Entscheidungen, hat das Glück nicht im richtigen Moment auf seiner Seite. Auch das feinmaschige, immer größere und verzweigtere Netz reißt irgendwann, die Autoren rebellieren, der Hass schlägt über Petter zusammen. Und auch seine persönliche Tragödie bricht über ihn hinein, am Schluss, wenn die Handlung dann sehr an Max Frischs "Homo faber" erinnert. Der Ende immerhin ist offen und nicht komplett ausweglos.

Ein Buch über die Macht der Worte, die mehr verletzen können als andere Formen der Gewalt. Psychologisch raffiniert, doppelbödig und höchst anregend für die Fantasie.