Freitag, 17. Januar 2020

Natalio Grueso: Der Wörterschmuggler

Die geheimnisvolle junge Japanerin Keiko "mit dem scheuen Blick und den honigfarbenen Augen"  lebt in Venedig. Sie empfängt jede Nacht einen Liebhaber. Aber stets nur für eine Nacht, und nur als Gegenleistung für mitgebrachte Geschichten und Verse.

Bruno Labastite möchte unbedingt dieser Auserwählte sein. Gut, dass Bruno nicht nur ein weitgereister Abenteurer und Verführer ist, sondern auch ein erprobter Geschichtenerzähler. Jedes Kapitel dieses Buches ist eine abgeschlossene Episode aus Brunos Leben. Diese verweben sie sich zu einem großen Ganzen. Es geht um einen Jugendlichen, der Wörter schmuggelt, einen traurigen Mann, der sich die Nutzungsrechte an allen geschriebenen und gesprochenen Wörtern gekauft hat, einen unsichtbarer Verehrer in der Oper, ein trauriges Fußballtalent, eine zwergenhafte alte Hehlerin mit Monokel, einen Traumjäger. Die Reise führt nach Buenos Aires, Shanghai, Paris, Genf, Moskau und an viele weitere Orte.

Das hört sich alles wunderbar an. Ist es aber nicht. Denn gut erzählte Geschichten leben von Beispielen. Das erst macht einen Cuentacuentos, einen Fabulierer aus: Er lässt Szenen lebendig vor Augen treten. So entsteht Kino im Kopf. Natalio Grueso aber macht es sich leicht. Er formuliert so vage wie möglich. Und genau deshalb reißen seine Geschichten nicht mit. Da gibt die Hauptperson dem Taxifahrer "ein großzügiges Trinkgeld". Schlecht. Ich will die Münzen klimpern hören, den Schein knistern, will wissen, wie viel Geld in welcher Währung sie dem Fahrer zusteckt und mit welchem Blick dieser reagiert. Jemand gießt sich "einen großzügigen Whisky ein". Dasselbe!

"Dieses überwältigende Gefühl", wenn das Kind an der Hand seiner Großvaters ins Bombonera-Fußballstadion von Buenos Aires geführt wird. Wie einfach wäre es  doch, dieses Gefühl mit plastischen Szenen - und ohne Klischees - heraufzubeschwören.

Es gibt einen Mann, der Menschen Bücher verschreibt, ihnen mit seinen Empfehlungen hilft. Und was empfiehlt er dem bezaubernden Mädchen, das er vor der Apotheke trifft? "Ich würde dir einen Liebesroman verschreiben." Der Mathestudent, der "mit Drogen liebäugelt" bekommt "eines von Thomas de Quincey" verschrieben. Die reife Dame, die sich am untreuen Ehemann rächt, "eines von Choderlos de Laclos". Lauter vertane Chancen.

Die Dame zieht vor dem rätselhaften Opernbesuch "das schwarze Kleid" an, darunter trägt sie "edle Dessous" und sie gibt "zwei Tropfen Parfum auf den Hals und die Handgelenke". Parfum? Wie hölzern, wie blutleer kann man erzählen? Wenn der Erzähler schon keine Fantasie hat, dürfte es dem Leser umso schwerer fallen.

Zum Frühstück gibt es "Gebäck" und "Cerealien", im spanischen Original also wahrscheinlich bollería oder repostería und céréales - auch nicht besser. Ich könnte noch unendlich viele Beispiele nennen, denn es gibt sie auf jeder Seite.

 Ich muss es einfach so drastisch formulieren: Natalio Grueso ist ein sehr, sehr schlechter Erzähler. Er hätte keine Chance bei Keiko.

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