Freitag, 30. Dezember 2011

Warum nicht mal wieder Böll?

Ist Heinrich Bölls Literatur unbrauchbar für die heutige Zeit geworden? Ich würde sagen - bis auf wenige Ausnahmen: Nein. Ein famoses Beispiel ist die satirische Erzählung "Doktor Murkes gesammeltes Schweigen" (1955/1958).

Rundfunkredakteur Murke muss aus dem Vortrag des Star-Wendehals-Autoren Bur-Malottke 27-mal das Wort "Gott" herausschneiden und es auf neuerlichen Wunsch des Schriftstellers durch die Phrase "jenes höhere Wesen, das wir verehren" ersetzen.

Das Ganze ist einerseits eine nostalgische Reise in alte Rundfunkwelten. Man arbeitete "beim Rundfunk" wie in einer Behörde, rauchte immer und überall und schnippelte und klebte am guten alten Tonband herum. Auch dem Paternoster-Aufzug hat Böll hier ein literarisches Denkmal gesetzt.

Vor allem ist die kleine Story eine schöne Hommage an das Schweigen. Wörter werden gedreht und gewendet, ausgetauscht und ausgeschnitten, dem Zeitgeist angepasst, "entnazifiziert", korrigiert, "richtiggestellt". Das gilt heute selbstverständlich auch für Bilder. Wir basteln uns unsere Biografien zurecht - nur, dass das heute eben digital und nicht mehr so augenfällig mit Bandschnipelsn geschieht.

Schweigen ist authentisch. Deshalb sammelt Murke die Schweigesekunden, die er aus verlogenen und inhaltsleeren Radiobeiträgen entfernt hat.

"Bur-Malottkes Bänder geben nicht eine Sekunde Schweigen her." Kein Wunder.

Vielleicht ist Schweigen die eigentlich richtige Entgegnung auf die Fragen, die uns quälen. Murkes Bitte an Freundin Rita: "Beschweige mir wenigstens noch fünf Minuten Band." - "Meinetwegen, aber gib mir wenigstens eine Zigarette."

Schade, das heute nicht mehr so viel geraucht, dafür umso mehr gequasselt wird.

Mittwoch, 28. Dezember 2011

Jonas Jonasson: Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand

Der Roman-Erfolg der Saison: Ein schwedischer Schnapsliebhaber namens Allan Karlsson, der "die dumme Angewohnheit hat, Häuser in die Luft zu jagen", schaut à la Forrest Gump auf allen weltgeschichtlichen Schauplätzen vorbei, trifft Franco, Churchill, Stalin, Mao und de Gaulle, erfindet nebenbei die Atombombe und steigt zu seinem 100. Geburtstag aus dem Fenster. Es folgt eine aberwitzige Tour mit immer mehr gleichgesinnten Lebensverlierern und mehreren Leichen als Kollateralschaden.


Einige Passagen sind göttlich, wenn etwa Nordkoreas Diktator Kim Il Sung seinem weinerlichen Sprössling Kim Jong Il eine scheuert, um ihn endlich zur Räson zu bringen. Oder wenn Karlsson im Anflug auf Bali eine Landeerlaubnis aushandelt. "Mein Name ist Dollar, Hunderttausend Dollar." Die Herren im Tower haben Probleme, den Vornamen zu verstehen, bis Karlsson laut und deutlich funkt: "Zweihunderttausend."

Zitat: "Die unablässig fluchende, rothaarige Frau mit dem üppigen Busen kam ihm vor wie einem Paasilinna-Roman entstiegen! Der Finne hatte zwar noch nicht über Elefanten geschrieben, aber das war sicher nur noch eine Frage der Zeit, glaubte Benny."

Tja, Herr Jonasson, aber leider sind  Sie nicht Paasilinna.

Wo nämlich Vielschreiber Paasilinna und seine Figuren lakonisch und schweigsam sind, ist Jonasson mit seinem Loser-Kabinett etwas sehr geschwätzig.  Bei Paasilinna fällt das Unerhörte vom Himmel, bei Jonasson wirkt es zu oft am Reißbrett entworfen. Alles wird ein bisschen zu breit gewalzt. Damit Allan Karlsson jeweils rechtzeitig in die wichtigen weltgeschichtlichen Schauplätze hineinstolpern kann, sind reichlich Verrenkungen nötig.

An den Meister aus Finnland kommt er nicht heran. Dennoch ist Jonassons Buch voller köstlicher Einfälle und bringt eine Menge Lesespaß.

Donnerstag, 15. Dezember 2011

Ich und Kaminski

Von Daniel Kehlmann (2003). Die schöne Geschichte von Sebastian Zöllner, einem Angehörigen der Was-mit-Medien-Söldnergeneration und seiner Begegnung mit einem gealterten Maler namens Manuel Kaminski. Schreiber Zöllner hat die Chance, den zurückgezogenen und erblindeten Maler zu treffen und dessen Biografie zu verfassen. Den Kaminski, bei dem nur noch eine Kleinigkeit fehlt, dass die Illustrierten über ihn schreiben und seine Bilder im Wert steigen: "Er muss natürlich sterben."
Zöllner benimmt sich wie ein Trampel, der mit seiner Dummdreistheit normalerweise alles erreicht bei den Leuten - siehe die Kollegen Popliteraten und Poetry Slammer. Nur bei Kaminski und seiner Entourage beißt Zöllner eben auf Granit. Schön, wenn so einer Figur die dümmstmöglichen Missgeschicke passieren - die gemeinsame Reise zu Kaminskis ehemals großer Liebe wird nämlich zum lustigen Fiasko.

Sympathisch ist dieser Kaminski auch nicht gerade. So wie eben Künstler, die interviewt werden, nie wirklich sympathisch sind. Gerade alternde Künstler sind oft verbiesterte, unausstehliche Lustgreise und dazu spießig bis zum Gehtnichtmehr. Gut getroffen. Während Zöllner das ganze Buch hindurch gedemütigt wird, trifft es den widerlichen Kaminski immer nur ganz kurz. Dann aber heftig. Auf einer Vernissage erkennt ihn keiner. Seine alte Liebe kann partout nichts mit seinem Namen anfangen.

Ich wiederhole mich gerne: Wenn man sich als Leser so über das Verhalten von Romanfiguren aufregt, dann ist dem Autor etwas Großes gelungen. Gute Sprache, kein Wort zuviel, exaktes Timing. Da passt alles.

Sonntag, 4. Dezember 2011

Umberto Eco: Der Friedhof in Prag

Eco hat wieder einen Roman gebastelt und der beginnt stark: Mit einem bitterbösen Feuerwerk von Vorurteilen über alle nur erdenklichen Nationalitäten und Religionen. Hier - und auch an machen späteren Stellen im Buch - ertappe ich mich als Leser beim Gedanken: "Ein wahrer Kern ist doch dran..." Wer den Leser so manipulieren kann, macht ganz viel richtig.

Dann aber, leider: Es plätschert so dahin – wenn auch unterhaltsam und geistreich -, es hat keinen Höhepunkt und keinen Wendepunkt. Alles schon mal gelesen. Der Erinnerungs- und Identitätsverlust bei Königin Loana, die Verschwörungstheorie im Foucaultschen Pendel. Nur, dass es diesmal eben die Protokolle der Weisen von Zion sind, die sich später als die verhängnisvollste aller Verschwörungstheorien der Weltgeschichte entpuppten.

Spannend ist es allemal, was Umberto Eco zusammengetragen hat in den Büchern zu Freimaurerei, Okkultismus, Magie, Magnetismus, Mesmerismus, die er in den Antiquariaten der ganzen Welt aufgestöbert hat. Aber er fügt es eben nicht zu einem dramatischen, packenden Ganzen zusammen.

Ecos Listenhuberei und Aufzählerei grenzt manchmal schon an Belanglosigkeit. Es wurde ja in den Achtzigerjahren vermutet, dass Umberto Eco keine Einzelperson, sondern ein Autorenkollektiv sei – zumindest glaube ich mich an eine enstprechende Fernsehsendung zu erinnern. Nun, so ist es jetzt doch sehr passend, dass Wikipedia Eco Konkurrenz macht und ihn – als wirklich großes Kollektiv – naturgemäß überflügelt. Wikipedia ist umfangreicher und geht mehr in die Tiefe. Dort gilt außerdem der Zwang, sich kurz zu halten und nicht abzuschweifen. Eco hat niemanden, keine Admins, keine Sichter, keine Löschdisk, der ihm diesen Zwang auferlegt.

Würde er stattdessen doch nur erzählen! Er kann es ja! Aber so verzettelt er sich. Schade.

Mittwoch, 30. November 2011

Fernando Trujillo: El secreto del tío Óscar

Das ist eine nette kleine Geschichte um einen VW Käfer mit Eigenleben, der Botschaften aus dem Jenseits übermittelt. Liest sich gut, auch wenn das Ganze in eine etwas nervige Campusroman-Rahmenhandlung um spanische Studenten und ihre unbedarften Annäherungsversuche verpackt ist. Das tritt aber glücklicherweise nicht so in den Vordergrund, dass es die ideenreiche Story beeinträchtigen würde. Lesenswert.

Freitag, 28. Oktober 2011

Hugo Bettauer: Der Frauenmörder

Ein Kriminalroman aus den Zwanzigerjahren. Ein erfolgloser Schriftsteller täuscht einen Fünffachmord vor, um Publicity zu erhalten. Es wäre eine nette Geschichte, ist aber keine, weil dieses allzu lehrreiche Lehrstück über die Mechanismen der Öffentlichkeit und des Literaturbetriebs zu durchschaubar und plump konstruiert ist.

 Ein zu Recht vergessenes Buch. Da hätte auch ein fünffacher Mord nichts geholfen.

Montag, 17. Oktober 2011

Tschechow kann was

...bzw. konnte er was und sicher hat der gute Mann sein Leben lang auf dieses Lob von mir an dieser Stelle gewartet.... Bitteschön. Diese Buchkritik nun wird ein einziger Spoiler, denn Tschechows Krimi “Drama auf der Jagd” ist ja ebenfalls ein solcher.

Der Erzähler, der Untersuchungsrichter Sergej, kostet es nämlich aus, Leser zu haben, die er auf die Folter spannen kann - auch wenn er es (bewusst?) ungeschickt anstellt. Auf Seite 91, die Hälfte des Buches ist schon vorbei und bisher war vor allem von echt russischen Wodkagelagen im Hause eines Grafen die Rede, schreibt er: Der Prolog ist zu Ende, das Drama beginnt.

In dieser dramatischen Welt wimmelt es von wunderbar skurrilen Figuren wie dem herrischen Diener Polykarp. “Dass mir das nicht noch einmal vorkommt, Sergej Petrowitsch“, raunzt er seinen Herrn nach einem Damenbesuch an, “ich wünsche das nicht.”

Durch und durch verdorben ist der Graf, der nach und nach alles ausspricht, was Sergej wünscht und denkt, der schamlos jeder Frau nachstellt. “Niemand aber hätte geglaubt, dass der knabenhafte Eroberungsversuch einige der beteiligten Personen in den sittlichen Niedergang, in den Tod und gar ins Verbrechen treiben sollte.” Einer von den zahllosen epischen Vorverweisen, mit denen der Erzähler Sergej seine Leser bei der Stange halten will.

Jeder begreift sehr schnell, wo der Hase läuft, der “Herausgeber” (“Sag ihm, der Herr Redakteur empfängt nur sonnabends”, herrlich!) steht zwar lange auf dem Schlauch, meldet sich aber im letzten Buchviertel lautstark mit zahlreichen Fußnoten zu Wort. Kostprobe:

“Wozu das?” “Wäre es nicht besser gewesen, solche groben Fehler vor dem Leser zu verbergen?”

Schließlich kommt es zum Showdown zwischen Erzähler und Herausgeber, wobei letzterer den Untersuchungsrichter als Mörder überführt. Der lacht nur, hat er die ganze Schau doch absichtlich abgezogen, in der Gewissheit, dass ihm niemand mehr etwas anhaben kann. Tschechow lässt den bösen Sergej mit seinen Opfern spielen und den Leser sich ärgern. Das ist ganz große Kunst.