Sonntag, 17. März 2019

Iso Camartin: Die Bibliothek von Pila

Die Grundidee dieses 1994 veröffentlichten Buches könnte von mir sein. Der Schweizer Publizist Iso Camartin hat sich in ein Bauernhaus in Pila zurückgezogen. Das Dorf liegt im Oberengadin auf 1800 Metern Höhe. Im Rucksack trägt er seine Lieblingsbücher, über die er hier  in zwölf Essays die Gedanken frei schweifen lässt: Er schaut ihren Hauptfiguren über die Schulter, dringt in die Gedanken der Autoren ein und stellt eigene Überlegungen an.

Es sind allesamt Klassiker. Die Bibel ("das große Wunderbuch der schönen und fesselnden Ungereimtheiten") Dante, Petrarca, Theodor Fontane, Franz Kafka und viele mehr. Der Autor führt durch die Bücher - so wie Vergil den Dichter in der Göttlichen Komödie durch die Bezirke der Hölle führt.

Als Leser des Lesers Camartin ist dieses Vorgehen spannend und unterhaltsam, wenn man die Werke selbst kennt oder vor Jahren gelesen hat und die Lektüre hier nun quasi wiederholt, auffrischt, vertieft. Sehr gut gefiel mir das bei Gogols Die Toten Seelen, dessen unvergleichlich intensive Charaktere Camartin auferstehen lässt - und ihre Doppelgänger in Graubünden aufmarschieren lässt. Anhand der faszinierenden "Augenlehre der Madame Chauchat" aus Thomas Manns Zauberberg lotet Camartin die Untiefen menschlicher Anziehung aus.

Bei Werken, die ich nicht gelesen habe  wie etwa  Denis Diderots Rameaus Neffe oder Virginia Woolfs Orlando diese Art ist diese Art von Sekundärliteratur schwierig. Wer die zugrundeliegenden Werke nicht kennt, hat Schwierigkeiten, Camartins mitunter frei drehenden Gedanken zu folgen, die sich immer wieder in Verästelungen verlieren und  die Geschichten manchmal auch weinterspinnen - und sie schließlich auch noch zur Dorf- und Bergwelt in Pila in Beziehung setzen.

Die Betrachtungen zu Carlo Levis Christus kam nur bis Eboli sind einer der wenigen Fälle, in denen Camartin die Handlung so ausführliche erzählt, dass sie der unkundige Leser nachvollziehen - und sich an den weiterführenden Gedanken  erfreuen - kann.

Von jüdischen Gelehrten hat Camartin gelernt: "Wer das Buch liebt, lieb das Leben." Schön ist, was über Das Wunder des Lesens und seine Beziehung zum Leben gesagt wird. Schon eine winzige Bibliothek, die in einen Rucksack passt, ist eine ganze Welt.

"Der Ort, an dem du dich befindest, ist nicht mehr das Bauernhaus mit den zu niedrigen Querbalken (…) Lesend verlierst du deine unmittelbare Lebenswelt, um in eine ganz andere einzudringen. Vom fliegenden Teppich der Erzählung fortgetragen, bist du auf einmal mitten in Paris."

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