Mittwoch, 5. November 2014

Robert Pleyer: Der Satan schläft nie

Im Traum schlägt Satan mit der Rute zu
Sektenaussteiger Robert Pleyer berichtet Erschütterndes über sein Leben bei den Zwölf Stämmen
 
 „,Es tut mir so leid, dass ich gelacht habe’“, fleht ein kleines Mädchen und schaut mich mit großen Augen an. Meine Gefühle duellieren sich. Ich fühle mich miserabel, aber es muss sein – ich hole die Rute hervor.“ Robert Pleyer liest. Er hält inne, schluckt. Zum ersten Mal hat der Mann, der nach 20 Jahren aus der Sekte Zwölf Stämme ausgestiegen ist, öffentlich sein Buch „Der Satan schläft nie“ vorgestellt. Im Donauwörther Buchhaus Greno berichtet er Erschreckendes aus dem Innenleben der Sekte.
Für seinen Ausstieg vor vier Jahren hat er einen hohen Preis bezahlt: Die Mutter seiner vier Kinder hat ihn verlassen und lebt wieder in Klosterzimmern, dem Gutshof der Zwölf Stämme bei Nördlingen. Pleyer selbst hat mit einer anderen Partnerin und den Kindern ein neues Leben im Bayerischen Wald begonnen. Doch was er bei der Sekte erlebt hat, verfolgt ihn in seine Träume: „Der Satan schläft nie“, das haben sie ihm immer wieder eingebläut. Pleyer hat mit seinen Berichten über die Zwölf Stämme den Skandal ins Rollen gebracht. Galten sie vorher als eher skurrile Gemeinschaft altmodischer, bibeltreuer Sonderlinge, so offenbarten seine Schilderungen die dunkle Seite: Von ärztlichen Eingriffen ohne Betäubung, Kinderarbeit und systematischer Kindesmisshandlung ist nun die Rede.

Im September 2013 besetzte die Polizei Klosterzimmern, nahm alle 24 Kinder mit und brachte sie in Pflegefamilien oder Heimen unter. Die Prozesse am Nördlinger Amtsgericht wegen Misshandlungsverdachts laufen auch jetzt noch. Fünf Kinder ließ das Gericht zwischenzeitlich wieder zu ihren Eltern: Sie sind volljährig oder in einem Alter, in dem sie nicht mehr mit Rutenschlägen rechnen müssen. Zwei Kinder rissen im Frühling aus einem Heim aus. Die Polizei hat sie bis heute nicht gefunden. Noch 16 Kinder leben in Pflegefamilien oder Heimen.
Pleyer selbst beschuldigt sich offen als einer derjenigen, die Kinder mit Weidenruten „züchtigten“. „Ich war schockiert über mich selbst“, sagt der 45-Jährige, der eine Gemeinschaft in Stödtlen-Oberbronnen (Ostalbkreis) mit aufbaute und nach dem Umzug der Sekte 2001 nach Klosterzimmern als Lehrer tätig war. In der Regel schlug er die Kinder mehrfach am Tag im Heizungskeller, oft auf Wunsch der eigenen Eltern: Das verlangten die Sektenregeln. Selbst die eigene Tochter wurde Opfer: „Manchmal züchtige ich sie über Stunden, bis ihr Hintern wund ist.“ Es sei darum gegangen, den Willen der Kinder zu brechen.
Von Gewalt und Unterdrückung war keine Rede, als Pleyer mit Anfang 20 zu den Zwölf Stämmen stieß: Harmonie, Hippie-Geist, echten Sinn und Urchristentum glaubte er in einer Gemeinschaft der Sekte in Südfrankreich gefunden zu haben. Er blieb dabei, nannte sich fortan Yathar und unterwarf sich der streng hierarchischen Lebensweise, in der Zucker, Alkohol, Fernsehen, Romane, Sport und Spielsachen verboten sind. Privateigentum gibt es nicht. Staatliche Leistungen der Mitglieder wie Kindergeld kassiert der „Älteste“.

Der US-amerikanische Sektengründer Elbert Eugene Spriggs, geboren 1937, leitete all diese Regeln aus der Bibel ab. Im Mittelpunkt der kruden Lehre steht die Idee vom nahen Endgericht, in dem alleine die Jünger der Zwölf Stämme vom „ewigen Tod“ verschont bleiben. Frauen seien den Männern untertan, Schwarze den Weißen. Homosexuelle müssten „geheilt“ werden. Vom Bibelvers „Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn“ leiten die Zwölf Stämme das Gebot ab, Kinder zu züchtigen.

In Klosterzimmern hatte die Gemeinschaft 2006 vom Freistaat Bayern das Recht erhalten, die eigenen Kinder in einer „privaten Ergänzungsschule“ selbst zu unterrichten. „Der Staat wollte wegen der anstehenden Landtagswahlen keinen Aufruhr und hat das durchgewunken“, glaubt Pleyer. „Als Lehrer ist es ein Traumjob“, sagt der Aussteiger, der einst Sozialarbeit studierte. „Diese Kinder sitzen still und hören zu.“ Allerdings waren die Lehrinhalte ungewöhnlich: „Wörter wie Liebe, Gemeinschaft, Partnerschaft, Ehe und Freundschaft besitzen bei den Zwölf Stämmen eine andere Bedeutung. Selbstständigkeit, Kreativität und Gerechtigkeit sind nicht mehr wichtig.“ Während die Erwachsenen für ein Bopfinger Möbelhaus Küchen montierten und später mit ihrer eigenen Firma Solarpanels installierten, arbeiteten die Kinder auf dem Feld und in der Küche.
Obwohl Pleyer selbst in den Leitungszirkel aufstieg, disziplinierten ihn die rigiden „Ältesten“ immer wieder: Weil er vor der Hochzeit seiner Braut über den Rücken streichelte, durfte er sie sechs Wochen nicht sehen. Das ausgemachte Ziel, „die totale Kapitulation meiner selbst“, habe er nie erreicht. Deshalb kehrte er der Sekte nach einigen Jahren den Rücken – und kehrte bald darauf zurück. Das Leben draußen erschien ihm leer, er hatte kein Geld, keine Ausbildung, wenig soziale Kontakte, keine Hilfestellungen: „Ich hätte damals so ein Buch wie meines gebraucht“, sagt er.
Er ging zurück nach Klosterzimmern, heiratete. Als es ihm unmöglich wurde, die eigenen Kinder immer wieder zu prügeln, überredete er seine Frau – Tochter eines der „Ältesten“ –, nach Berlin zu fliehen. Die Frau ging zurück, Pleyer mit den Kindern später auch. Zur Strafe musste die Familie nun getrennt leben. „Ich war wie ein Aussätziger“, sagt Pleyer.

Vor vier Jahren schließlich die erneute Flucht: Wieder lief die Frau nach kurzer Zeit davon in den Schoß der Sekte, diesmal gab Pleyer auf. Er blieb alleine mit den nun vier Kindern.

Mitglieder der Zwölf Stämme beschreiben Pleyers Darstellungen als „unzutreffend“. In einem Internetblog bezeichnen sie ihn als „Karriereaussteiger“, der die Gemeinschaft seit Jahren „anzuschwärzen und sich zu rächen“ versuche. Wie auch Christian Reip (siehe Interview) mache Pleyer die Gemeinschaft für seine Familientragödie verantwortlich. Mehrfach sind Mitglieder der Zwölf Stämme seit der Razzia öffentlich aufgetreten. Dabei bestritten sie die „Züchtigungen“ nicht, wollen aber von „Schlagen“ nichts wissen. Auch „Misshandlung“ gebe es nicht.

„Sie glauben, als einzige richtig zu handeln“, erklärt Pleyer diesen Widerspruch. Für die „Heiden“ außerhalb der Gemeinschaft werde eine Show abgeliefert. „Wenn man nicht die Wahrheit sagt, heißt das nicht, dass man lügt“, habe sein Schwiegervater ihm einmal gesagt. „Der Druck von außen schweißt sie zusammen.“

Derzeit halte wohl die Tatsache, dass sie nicht über ihre Kinder verfügen können, die Sektenmitglieder davon ab, etwa nach Tschechien auszuwandern. Dort müssten sie mit weniger Kontrolle rechnen. Pleyer hat mittlerweile das alleinige Sorgerecht für die Kinder. Er möchte sich von seiner Frau scheiden lassen. Er ist ihr nicht böse: „Sie denkt, das sei die wahre Liebe: Wenn sie Gott treu ist, wird Gott die Kinder erretten.“ Ab und zu schreibe sie noch Briefe. Von der „babylonischen Gefangenschaft“ sei darin die Rede.

Sein Geld verdient Pleyer mit einem kleinen Imbiss an der Bundesstraße. Er träumt davon, in einer Beratungsstelle Sektenaussteigern zu helfen – und damit auch die eigenen Alpträume zu therapieren. Eine Angst bleibt: „Dass sie meine Kinder entführen.“


Erschienen in Schwäbische Zeitung, 5. November 2014

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