Samstag, 2. November 2019

Sasha Abramsky: Das Haus der zwanzigtausend Bücher

Bücher, Dokumente, Papierstapel in jedem Raum, jeder Ecke, an jeder Wand bis zur Decke. Das ist Haus der zwanzigtausend Bücher in Hillway 5 in London. Das unscheinbare Reihenhaus, das der jüdische Gelehrte, Antiquar, Sammler, Universitätsprofessor und bibliophile Experte Chimen Abramsky (1916-2010) mit seiner Familie bewohnte. Sein Enkel Sasha hat beide - seinen Großvater und das Bücherhaus - in einer Biographie verewigt. Sie wären ohnehin schwer zu trennen gewesen.

Geboren 1916 als Sohn des berühmten Rabbiners Yehezkel Abramsky in Minsk, emigrierte Chimen Abramsky 1932 mit der Familie nach London. In größtmöglicher Opposition zu seinem frommen Vater wurde Chimen glühender Marxist, das Haus im Hillway 5 avancierte zum lebendigen Treffpunkt für kommunistische Denker. Und es füllte sich mit marxistischen Büchern. Später wandte sich Chimen vom Kommunismus ab. Nun gingen Liberale und Büchersammler im Hillway ein und aus. Und das Haus füllte sich weiter, mit kostbaren Judaica, mit Zeugnissen der riesigen schriftlichen Kultur, die jüdische Gelehrte ab dem frühen Mittelalter geschaffen haben.

Chimen Abramsky trug nicht nur persönlich eine der weltweit bedeutendsten Judaica-Sammlungen zusammen. Er arbeitete auch als Buchexperte für das Auktionshaus Sotheby's und verantwortete maßgeblich mit, dass ein Weltmarkt für seltene Judaica entstand. Auf Vermittlung seines Freundes, des Philosophen Isaiah  Berlin, wurde er Lehrbeauftragter, dann Professor für Hebräisch und Jüdische Studien am Londoner University College.

Viel mehr als heute bedeuteten Bücher in Chimen Abramskys Zeit und Welt Wissen, Erkenntnis, Zugang zu den Geschichten und den Leben anderer Menschen. Und eine Büchersammlung war (und ist zum Teil auch heute noch) viel mehr, denn: Die gesammelten Bücher konstituieren ein Leben, geben Halt, helfen, wie der Enkel schreibt, durch das "Chaos zu navigieren", möblieren die eigene geistige Persönlichkeit.

Eine solche Sammlung geht normalerweise mit dem Sammler unwiederbringlich verloren. Nicht so hier. Denn Sasha Abramsky hat dieses mittlerweile längst ausgeräumte Bücherhaus mit seinen Zimmern und den Büchern darin selbst in einem Buch - und damit einer Zeitkapsel - verewigt. Das Werk ist somit gleichzeitig eine Biographie und eine Bibliographie, ein unvollständiger Bibliothekskatalog in Prosa. Zwar sind besondere Stücke nur vereinzelt beschrieben, wohl aber gibt Abramsky in die Welt der vom Großvater verehrten Denkern wie Moses Mendelssohn oder Baruch Spinoza, stellt Druckerpioniere wie Daniel Bomberg und zahlreiche jüdische - auch marxistische - Gelehrte und Philosophen vor.

Jedes Kapitel ist einem Zimmer und den Büchern darin gewidmet, dem Wohnzimmer, dem Schlafzimmer, der - natürlich mit Bänden vollgestopften - Diele. In der Küche widmet sich Abramsky seiner Großmutter Miriam - Sozialarbeiterin, ebenfalls in jungen Jahren Marxistin - die er aber ausschließlich in ihrer Rolle als Gastgeberin und Köchin preist. Offenbar war sie selbst darauf besonders stolz, und ihre Gastfreundschaft, die dem Haus erst seinen Zauber verliehen habe, wird vom Enkel ja auch über den grünen Klee gelobt.

Es wird klar, dass es Abramsky sehr an Vollständigkeit gelegen ist. Er lässt nichts aus, rekapituliert die Familiengeschichte, nimmt langen Anlauf - der Leser muss deshalb mit vielen Längen leben. Manche Kapitel sind dann wieder wunderbare Perlen: etwa jenes über das obere, mit bibliophilen Kostbarkeiten aus Jahrtausenden jüdischer Geschichte vollgestopfte obere Wohnzimmer.

Ein lesenswertes Essay von Philipp Blom über "Bibliomanie und Emigration" als Nachwort rundet die deutsche Ausgabe ab.

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