Montag, 31. März 2014

Lucien Deprijck: Die Inseln, auf denen ich strande

„Die Inseln auf denen ich strande" von Lucien Deprijck gehört zu den Büchern, von denen etwas hängen bleibt – die beschriebenen Situationen, die Bilder und Gedankengänge, das Meer. 18 Kurzgeschichten drehen sich vordergründig um das Gleiche: Der Ich-Erzähler strandet auf einer Insel.

Was dann aber für eine Geschichte daraus wird, hängt von winzigen Dingen ab, Parametern, die der Autor in jeder Erzählung neu justiert. Ist die Insel einsam oder bewohnt, jungfräulich oder verlassen, tropisch oder arktisch, paradiesisch oder lebensfeindlich, strandet der Erzähler alleine oder mit anderen?

Fast immer wird schnell klar, dass es mit der ersten Rettung, der auf die Insel, nicht getan ist. Der Gestrandete muss sich auch wieder von dort weg retten – oder gerettet werden. An Grenzsituationen kann der Gestrandete reifen oder scheitern. Manchmal hilft das Anpacken, manchmal bleibt nur das Resignieren. Die Natur oder die anderen Menschen können Rettung oder Verderben sein. Manchmal sind die Situationen tieftraurig, manchmal absurd, manchmal urkomisch. Und welchen Ausgang das Abenteuer schließlich nimmt, ist nie vorhersehbar.

Deprijck - und mit ihm der Leser - erleidet 18-mal meisterhaft Schiffbruch. Jede Insel ist ein faszinierendes Universum. Bildgewaltig erzählt und von Christian Schneider wunderschön illustriert. Ein Lieblingbuch für die einsame Insel.

Dienstag, 4. Februar 2014

Alexander Adrion: Taschendiebe

"Der heimlichen Zunft auf die Finger geschaut" - dieses Buch des 2013 verstorbenen Zauberers Alexander Adrion ist natürlich kein Handbuch "Wie werde ich zum erfolgreichen Taschendieb". Auch zum Thema "Wie schütze ich mich vor Taschendieben" bietet es außer ein paar Binsenweisheiten à la "Immer gut auf die persönlichen Dinge aufpassen" wenig.

Vielmehr ist es eine sehr unterhaltsame Anekdotensammlung. Adrion hat so ziemlich alle Geschichtchen zusammengetragen, die zum Thema Taschendiebe kursieren. Da werden Berüchtigte der heimlichen Zunft wie Mollie Matches, Mimi Lepreuil, Lady Finger, John Dawson, Elizabeth West oder Stanislaus Kransnik genauso vorgestellt, wie berühmte Taschendieb-Opfer: Winston Churchill, Max Brod und Wladimir Majakowski.

Wer selbst vor kurzem bestohlen worden ist, findet vielleicht nicht alles Beschriebene spannend und lustig. Ein bisschen Mitgefühl mit den Opfern hätte Adrion schon zeigen dürfen. Ansonsten: Ein vergnüglicher und spannender Einblick in die Welt der Pickpockets, Tireurs und Langfinger. 

Donnerstag, 30. Januar 2014

Haruki Murakami: Die unheimliche Bibliothek

So einfach und poetisch erzählt wie ein Märchen, so unlogisch, grausam und verstörend wie ein Märchen, aber auch so hoffnungsvoll wie ein Märchen – so ist Haruki Murakamis pechschwarze Erzählung „Die unheimliche Bibliothek“.

Ein Junge möchte mehr über die Steuereintreibung im Osmanischen Reich erfahren. Und wenn er etwas nicht weiß, geht er immer sofort in die Stadtbücherei, um es herauszufinden. Nun weiß jeder Bücherfreund, dass die Hüter von Bibliotheken nicht immer auch die Verbündeten der Leser sind. Oft sind es – oder waren es zumindest früher - strenge Beamte, die Lesehungrige mit allerlei Formalitäten und Verboten traktieren.

In diesem Fall entpuppt sich der Bibliothekar sogar als wahres Monster. Er entführt den wissbegierigen Jungen in ein Labyrinth tief unter der Bibliothek und sperrt ihn in ein Verlies. Eingekerkert muss das Kind mutterseelenallein Bücher zur osmanischen Steuereintreibung studieren und auf den Tag warten, da ihm das Bibliothekars-Scheusal den Kopf absägen und das Hirn aussaugen will. Vor dem Jungen – und dem Leser - türmt sich eine Angstwand von kafkaesken Ausmaßen auf.

Aber es gibt einen Ausweg: ein Mann im Schafskostüm, der Donuts backt, und ein zerbrechliches Mädchen, das einen Teewagen schiebt, kommen dem Jungen in dieser surrealen Alptraumwelt zu Hilfe. Murakamis so düstere wie anmutige Erzählung ist bereits 1982 erschienen, wurde aber erst jetzt aus dem Japanischen ins Deutsche übersetzt. Die Berlinerin Kat Menschik hat sie mit beklemmend-holzschnittartigen, farbig hinterlegten Tuschebildern fabelhaft illustriert.

Haruki Murakami: Die unheimliche Bibliothek. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Dumont Verlag. 63 Seiten mit 20 Abbildungen von Kat Menschik. 14,99 Euro.
 
Erschienen in: Schwäbische Zeitung, 30. Januar 2014

Donnerstag, 2. Januar 2014

Alphonse Daudet: Tartarin von Tarascon

"Der Südländer lügt nicht, er erliegt einer Täuschung. Er sagt nicht immer die Wahrheit, aber er glaubt, sie zu sagen." Das liegt daran, dass die Sonne alles verwandelt und vergrößert.

So wird im südfranzösischen Tarascon, wo die Jäger nur auf Mützen schießen - es gibt nämlich im weiten Umkreis Tarascons kein Wild mehr - aus dem wackeren, kleinen, dicken Rentner Tartarin der unerschrockene, wagemutige und umjubelte Löwentöter Tartarin.

Tartarin marschiert gerne schwer bewaffnet durchs Dorf, das er in seinem Leben noch nie verlassen hat. Im Wirtshaus trumpft er mit fantasiereichen Erzählungen von Abenteuern auf, die er zwar nicht erlebt hat, aber so bildgewaltig darstellt, dass ganz Tarascon eingeschlossen ihm selbst nicht den geringsten Zweifel daran hat, dass sie wirklich passiert sind. "Das ja, das wäre eine Jagd" - seine dahingemurmelten Worte vor dem Käfig eines Zirkuslöwen bringen Tartarin plötzlich in die Bredouille: Das ganze Dorf ist nun fest überzeugt, dass der unerschrockene Tartarin jetzt auf Löwenjagd geht.

Leider wohnt in Tartarins Herz nicht nur ein romantisch-abenteuerlustiger Don Quijote, sondern auch ein bequemer und genussfreudiger Sancho Pansa. Und Tartarin-Sancho behält die Oberhand - so lange bis das Drängen der anderen Dorfbewohner gar zu stark wird: Wann geht der Herr denn nun auf Löwenjagd? Oder ist er gar ein Großmaul und Aufschneider?

Beherzt und schwer bewaffnet stürzt sich Tarascon ins Abenteuer, setzt nach Französisch-Algerien über und trifft dort einen überaus hilfsbereiten und uneigennützigen Prinzen aus Montenegro, der dank seiner überdimensionalen Fantasie-Uniformmütze den höchsten Respekt der Einheimischen genießt (und sich am Ende mit Tartarins prall gefüllter Brieftasche davon macht). Er verliebt sich unsterblich in eine Bilderbuch-Maurin, trifft einen hinterhältigen Muezzin und erwirbt ein altersschwaches Kamel, das sein treuester Begleiter werden soll. Schließlich steht er tatsächlich einem Löwen Auge in Auge gegenüber...
 
Eine der besten Figuren in Daudets erstem Tartarin-Roman ist der Erzähler selbst: Ebenso fabulierlustig wie der Titelheld, scheint er manchmal mit der gleichen zuträglichen Naivität wie Tartarin gesegnet zu sein. Mal rühmt er den Helden über den grünen Klee, manchmal scheint er ihm wissend auf die Schliche gekommen, um dann wieder umfassendes menschliches Verständnis für den liebenswerten Prahlhans aufzubringen. Und mitunter übt er offene Kritik am französischen Kolonialismus und all seinen Auswüchsen.

Ein Roman, bei dem sich auch das x-te Lesen lohnt.

Montag, 30. Dezember 2013

Robert Seethaler: Der Trafikant

Der 17-jährige Franz Huchel kommt Ende der Dreißigerjahre vom Salzkammergut, wo er mit seiner Mutter gelebt hat, nach Wien. Er wird Gehilfe in Otto Trsnjeks Trafik. Mit der Tür zu dem Zeitungs- und Tabakladen öffnet sich für den Unbefangenen der Eingang zu einer ungekannten Welt. Er erfährt und erlebt die politischen Umwälzungen in der Großstadt, schließt eine schüchterne Freundschaft mit dem "Deppendoktor" Sigmund Freud und schlittert kopfüber in eine Liebesbeziehung mit Anezka, die Tänzerin in einem schmuddeligen Varieté ist. Aber die Zeiten sind schlecht und feindlich für einen Träumer wie Franz. Selbst seine Träume, die er auf Zettel schreibt und täglich ans Schaufenster der Trafik klebt, werden immer bedrückender.

Manche Autoren lassen eine Maschine kommen, mit der sie plötzlich das absolute, uneingeschränkt Böse in die Welt setzen können: die Nazi-Maschine. Bei Seethaler ist das anders: Diese Nazis brechen nicht von außen in eine heile Welt hinein, sie sind von nebenan, waren immer innen drin in dieser Stadt, die Franz so rätselhaft bleibt: "Bin ich verrückt geworden?", fragt er sich: "Oder ist die ganze Welt verrückt geworden?" Was gegen das Verrücktwerden helfen könnte, hat sich Franz beim Professor Freud abgeschaut, der die Menschen "von ihren ausgelatschten, aber gemütlichen Wegen" abdrängt, damit sie ihren steinigen Weg selbst suchen müssen.

In der Gestapo-Leitzentrale am Morzinplatz geht alles zu Ende. Dennoch dominiert in dieser Geschichte, die so leicht, poetisch und klar erzählt ist, nicht die bittere Anklage. Es sind die kleinen großen Momente, weise und humorvoll, die hängen bleiben. In einem ihrer Briefe schreibt die einsame Mutter an Franz: "Die Liebe kommt und geht, man kenn sich vorher nicht aus, und man kennt sich nachher nicht aus, und am allerwenigsten kennt man sich aus, wenn sie da ist. Und deswegen lass Dir eines sagen: Niemand taugt für die Liebe, und trotzdem oder gerade deswegen erwischt sie fast jeden von uns irgendwann einmal."

Sonntag, 27. Oktober 2013

Franz Hohler: Gleis 4

Auf einmal bricht der fremde ältere Herr, der Isabelles Koffer eben noch höflich die Treppe hochgetragen hat, zusammen. „Bitte...“, bringt er noch heraus, dann stirbt er auf dem Bahnsteig in Zürich-Oerlikon. Für Isabelle ändert sich schlagartig alles. Wer war der ältere Herr, worum wollte er sie bitten? Die Altenpflegerin bricht ihre Italienreise ab und sucht Zugang zu dem Mann, der offenbar Kanadier ist, aber eine rätselhafte Schweizer Vergangenheit hat. Gemeinsam mit ihrer erwachsenen Tochter Sarah und Véronique, der Witwe des Mannes, macht sie sich auf kriminalistische Spurensuche, die immer Unerhörteres und Haarsträubenderes zu Tage bringt. Was Jahrzehnte lang vertuscht und verschwiegen wurde, legen die drei Frauen Schicht für Schicht frei.



Sie erleben noch einmal, wie die Schweizer „Armenbehörde“ den unehelich geborenen Jungen der Mutter wegnimmt und ihn als „Verdingbub“ auf einen Bauernhof zu sadistischen Pflegeeltern bringt. Wie sie ihn eines Verbrechens beschuldigen und in ein unmenschliches Erziehungsheim abschieben. Wie ihm schließlich die Flucht in ein fernes Land und eine neue Identität gelingt. Hinter dem idyllischen Alpenpanorama lauern im Roman „Gleis 4“ des 70-jährigen Schweizers Franz Hohler Engstirnigkeit, Verstocktheit und Brutalität. Alles Böse prasselt auf den allein gelassenen Jungen ein. Verbündete findet er erst jetzt, nach dem Tod.



Die distanzierte Erzählweise, die überstrapazierte indirekte Rede, die Behäbigkeit und die Exkurse in eine eiskalte Behördensprache verstärken im Leser den Drang aufzubegehren, sich gegen diese himmelschreiende Ungerechtigkeit zur Wehr zu setzen. Ein hochemotionaler, spannender Sozialkrimi.



Franz Hohler: Gleis 4. Verlag Luchterhand. 220 Seiten. 17,99 Euro.



Erschienen in Schwäbische Zeitung, 23./24. Oktober 2013