Montag, 16. Mai 2016

Michael Köhlmeier: Das Mädchen mit dem Fingerhut

Ein fantastisches Buch. Keines, das glücklich macht.

Ein elternloses Mädchen streift durch die Stadt. Niemand weiß ihren Namen. Sie versteht die Sprache der anderen nicht. Die anderen verstehen sie nicht. "Yiza" sagt sie, deshalb wird sie so genannt: Yiza.

Yizas letzte Bezugsperson, der "Onkel", der sie Betteln schickte, ist spurlos verschwunden. Yiza kommt ins Heim und flieht mit den beiden Jungen Arian und Schamhan. Sie sind hungrig , schlagen sich durch, brechen in ein Haus ein, die Polizei greift sie auf, Yiza und Arian fliehen, sie übernachten in einem Gewächshaus und Yiza bekommt schweres Fieber. Eine alte Frau findet Yiza, pflegt sie gesund, möchte sie aber besitzen und sperrt sie ein. Arian kommt zu Yizas Rettung. Das böse Märchen endet genauso gewaltsam und hoffnungslos, wie es begonnen hat.

Der Österreicher Köhlmeier erzählt diese dunkelgraue Geschichte ausschließlich aus Sicht der Kinder. Sie, die um Sprache ringen, die die Welt nicht verstehen und von dieser nicht verstanden werden, entfachen eine unfassbare Wortgewalt. Nachts irrt Yiza durch die verschneiten Straßen und endet vor der Kirchentür:

"Weil sie den Kopf hob, war ihr, als beugte sich die schwarze Pforte über sie und wollte sie zudecken."


Hans Christian Andersens "Mädchen mit den Schwefelhölzern" ist als Vorbild überdeutlich in dieser Geschichte, die in unserer Zeit, in der weltweit einsam flüchtende Kinder unterwegs sind, aktueller nicht sein könnte. Wie Andersens Märchen endet "Das Mädchen mit dem Fingerhut" in einer Traumsequenz. Die lässt alle Deutungen zu, der Leser geht aber unweigerlich vom Schlimmsten aus.

Was Köhlmeier mit seinem karg und poetisch erzählten Werk vor allem weckt (und damit thematisiert): Mitleid. Größer könnte das Mitleid nicht sein. Der Leser möchte die Seiten aus dem Buch herausreißen, um diesem gequälten Geschöpf die Ungerechtigkeit zu ersparen. Alle haben Mitleid mit dem Mädchen. Mit den anderen Zerlumpten, die älter und hässlicher sind, hat keiner Mitleid.

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