Mittwoch, 26. Januar 2022

Franz Grillparzer: Der arme Spielmann

Franz Kafka soll diese 1848 veröffentlichte Erzählung so oft gelesen haben, dass er sie beinahe auswendig kannte. 

Packend porträtiert Grillparzer einen Menschen, der sich die Welt so einrichten möchte, dass er sich dort wohlfühlen kann - wie er sie gerne hätte, sie aber nicht ist. Er würde so gerne nach seinem eigenen Rhythmus und - langsameren - Tempo leben, doch das passt nicht zur Musik, die seine Mitmenschen machen. Er wird ausgenutzt und lächerlich gemacht, seine reine, unschuldige Seele macht ihn kaputt.

Darum geht es: Der Erzähler beobachtet am Rande eines Wiener Volksfestes einen alten Bettelmusikanten. Was der abgerissene Spielmann seiner Geige entlockt,  „schien eine unzusammenhängende Folge von Tönen ohne Zeitmaß und Melodie“. Der von allen Verspottete, offensichtlich Unmusikalische spielt allerdings völlig untypisch mit Notenpult und Notenblatt und  murmelt lateinische Worte vor sich hin - so weckt er die Neugier des Erzählers, der ihn zu Hause besucht. 

Dort lauscht er erneut dem ungeschickten Spiel des Alten, der völlig in seine Musik vertieft ist.  Langsam glaubt er, das System hinter der scheinbaren Kakophonie zu erkennen:

"Der Alte genoß, indem er spielte. Seine Auffassung unterschied hierbei aber schlechthin nur zweierlei, den Wohlklang und den Übelklang, von denen der erstere ihn erfreute, ja entzückte, indes er dem letztern, auch dem harmonisch begründeten, nach Möglichkeit aus dem Wege ging. Statt nun in einem Musikstücke nach Sinn und Rhythmus zu betonen, hob er heraus, verlängerte er die dem Gehör wohltuenden Noten und Intervalle, ja nahm keinen Anstand, sie willkürlich zu wiederholen, wobei sein Gesicht oft geradezu den Ausdruck der Verzückung annahm. Da er nun zugleich die Dissonanzen so kurz als möglich abtat, überdies die für ihn zu schweren Passagen, von denen er aus Gewissenhaftigkeit nicht eine Note fallen ließ, in einem gegen das Ganze viel zu langsamen Zeitmaß vortrug, so kann man sich wohl leicht eine Idee von der Verwirrung machen, die daraus hervorging.

Der Musikant beginnt zu erzählen, von einer unverstandenen Kindheit, lebenslangen Niederlagen, unerwiderter Liebe, schmählichem Betrug und immer tieferer Flucht in die Musik. Definitiv eine Erzählung, die lohnt, sie wieder und wieder zu lesen. 

Samstag, 22. Januar 2022

Leo Tolstoi: Im Schneesturm

Noch eine ordentliche Portion Winter gefällig? Wie wäre es damit: Ein Reisender in der russischen Steppe möchte mit der Pferdekutsche von einer Poststation zur nächsten gelangen. Ein Schneesturm hat die Landschaft fest im Griff, macht Orientierung und Fortkommen immer schwerer. Dann gibt der wortkarge, völlig überforderte Fuhrmann auf. Der Reisende steigt um, fühlt sich zwischen den tanzenden Wänden aus Schnee immer mehr verloren, die Grenzsituation ängstigt, fasziniert ihn aber auch. Langsam wird es Nacht. 

Diese Erzählung kommt ohne unerhörte Begebenheit aus. Zum Meisterwerk macht sie die verwunschene, bedrückende, surreale Atmosphäre, die ein verschneites Zwischenreich - was ist noch Wirklichkeit, was Traum? - heraufbeschwört.

Donnerstag, 13. Januar 2022

Gerhard Jäger: Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod

 

Die Geschichte klingt nicht neu: Ein junger Historiker aus Wien zieht sich über den Winter in ein abgelegenes Tiroler Bergdorf zurück, um an einem Roman zu schreiben. Die Dorfbewohner nehmen ihn mit größtem Misstrauen und Ablehnung auf. Erst nach und nach scheint der Fremde, zaghafte Freundschaften zu schließen, eine stumme Frau, die alleine in ihrem Bauernhof lebt, zieht ihm besonders an. Der Winter entpuppt sich als schlimmster Schnee - und Lawinenwinter seit Menschengedenken, Häuser und Höfe werden verschüttet, Menschen sterben, das Dort ist komplett von der Außenwelt abgeschnitten. Da geschieht ein Mord.

Die Geschichte ist in eine Rahmenhandlung eingebettet, in der ein 80-jähriger US-Amerikaner in Archiven und Originalschauplätzen das Schicksal seines Vetters, des Historikers Max Schreiber, recherchiert.

Der Roman erinnert in vielem an Robert Schneiders Schlafes Bruder von 1992, erreicht mitunter auch dessen sprachliche Wucht. Wie schon bei diesem - allerdings bild- und vor allem klangstärkeren - Vorbild, drängt sich die Frage auf: Wo ist die Grenze zwischen dem Archaisch-Alpinen und dem leeren Pathos, zwischen Märchen und Kitsch, zwischen Mythos und Klischee? Jägers Lawinenepos läuft ständig Gefahr, hier abzugleiten. Dennoch eine interessante, über weite Strecken sehr unterhaltsame Winterlektüre.

Donnerstag, 6. Januar 2022

Valentin Kirschgruber: Das Wunder der Rauhnächte

 

Ein wunderschönes Büchlein, das mich durch diese Rauhnächte begleitet hat. Autor Valentin Kirschgruber stellt jede einzelne der zwölf Rauhnächte unter ein Thema, das der traditionellen Zuordnung entspricht. Etwa „Altes abschließen“, „eine Entscheidung treffen“ oder „dankbar sein“.

Mit kurzen Texten zu Brauchtum und Geschichte, Märchen und Sagen, Vorschlägen zum Räuchern, Traumdeuten und für Meditationenregt  der Allgäuer Kirschgruber vor allem dazu an, sich selbst auf den Weg zu begeben, die Stille und Tiefe dieser Zeit zu erspüren. Das Buch macht eine ganz besondere Periode im Jahr noch wertvoller. Ich werde es sicherlich auch im nächsten Winter wieder zur Hand nehmen.