Dienstag, 21. Juni 2022

Ilja Leonard Pfeijffer: Grand Hotel Europa

Ich gebe zu, ich bin ein langsamer - oder sagen wir: gründlicher - Leser. Aber, dass ich anderthalb Jahre für diese 554 starke Essay-Sammlung (das ist es nämlich eher als ein Roman) gebraucht habe, ist dann doch außergewöhnlich. Trotzdem bin ich immer wieder eingestiegen und bis zum Schluss dabeigeblieben. Lohnt sich meiner Meinung nach durchaus.

Worum es geht, sagt Schriftsteller Pfeijffer, der hier selbst als Ich-Erzähler auftritt, an einer Stelle seinem Verleger:

"Es soll von Europa handeln, von der europäischen Identität, die eng verknüpft ist mit der Vergangenheit, und davon, dass diese Vergangenheit aus Mangel einer besseren Alternative auf dem globalen Markt verhökert wird. Das Buch soll eine Liebeserklärung an Europa werden und an das, was es früher einmal war....Damit wird es auch ein trauriges Buch über das Ende unserer Kultur."

Und der Verleger antwortet:

"Eine Art Zauberberg des einundzwanzigsten Jahrhunderts."

…und vielleicht greift er damit ein bisschen hoch, aber auch nicht ganz daneben.

Niedergeworfen von der Trennung von seiner Geliebten Clio, einer italienischen Kunsthistorikerin, die Europa verlässt, um in Abu Dhabi die Louvre-Dependance aufzubauen, checkt Pfeijffer im Grand Hotel Europa ein. Diese aus der Zeit gefallenen Nobelherberge, die neuerdings einen chinesischen Besitzer hat, beheimatet Figuren wie den Pagen Abdul - aus der Wüste geflüchtet, sieht er in Europa eine Verheißung -, den altmodisch-korrekten Majordomus Montebello oder die mysteriöse, betagte Ex-Hotelbesitzerin, die im versteckten Zimmer Eins logiert und dieses niemals verlässt. Eingeflochten ist Pfeijffers und Clios Suche nach Caravaggios verschollenen letztem Gemälde. 

Aber das ist nur der lose Rahmen für zig feuilletonistische Betrachtungen über den Zustand Europas: An einer Stelle heißt es, „wenn ein signifikanter und stets wachsender Teil seiner Bevölkerung bereit ist zu glauben, dass früher alles besser war, dann darf man unseren Kontinent zu Recht als müde und alt bezeichnen, als hohläugigen Mummelgreis, der von der Zukunft nichts mehr erwartet (…)“

Stattdessen verkauft man sich an die Touristen. Der Erzähler hasst sie, ergeht sich in Fantasien (das ist ziemlich unterhaltsam) wie Urlauber mit mittelalterlichen Folterwerkzeugen langsam zu Tode gequält werden. Aber er beneidet sie auch.

"Der Unterschied ist, dass Touristen kurze Hosen und Flipflops tragen, und wir nicht. Das würden wir nur, wenn das eine Gepflogenheit der Einheimischen wäre. Touristen liegen am Strand und hängen in Cocktailbars herum, wir dagegen besichtigen die kleine Kirche im Ort und trinken etwas in der schmierigen Bar hinter der Tankstelle mit den versifften Stühlen und den verdreckten Tischtüchern, weil dort keine Touristen sitzen, sondern drei pensionierte Alkoholiker aus dem Ort."

Während er das Thema immer weiter variiert, präsentiert sich Pfeijffer selbst als Karikatur dieses Versiffte-Bar-Sitzers. Stets (über)korrekt gekleidet, halten ihn anderen Touristen in einem Urlaubshotel auf Malta für einen Bediensteten. Das Förmliche, einst ein Zeichen von stilvoller Überlegenheit, wird nur mehr als Maskerade für diejenigen empfunden, die sich den Auftritt in Freizeitkleidung und kurzen Hosen leisten können - und damit ihre Überlegenheit zeigen. Die Maskierten bespaßen sie gegen Geld mit ihrem überholten, nostalgischen Kulturkram.

Witzfigur Pfeijffer lässt sich (das erzählt er im Rückblick) ausgerechnet in Venedig nieder und setzt alles daran, dort als als Einheimischer (gibt es die überhaupt noch?) aufzutreten. Unbeirrt schreitet er im Anzug einher, auch wenn keiner Wert darauf legt. Die Touristen dagegen sind, selbst wenn sich belächelt, beschimpft, verwunschen werden, im Venedig und dem Rest Europas höchst willkommen. Pfeijffer weiß das selbst. Trotzdem hält er am alten, überholten Europa fest.

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