Dieser britische Whodunnit-Krimi aus dem Jahr 1937 ist der perfekte Weihnachtsschmöker. Es schneit und schneit und schneit in England an diesem Heiligabend. Und der Zug, der in der Nähe des Dorfes Hemmersby seit geraumer Zeit außerplanmäßig hält, kommt weder vor noch zurück. Einige zufällig zusammengewürfelte Passagiere eines Dritte-Klasse-Abteils nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand und versuchen, den nahe gelegenen Bahnhof zu Fuß zu erreichen.
Doch sie verirren sich heillos im Schneetreiben und sind schließlich froh, in der weißen Einöde ein Haus zu entdecken. Die Tür ist offen, es brennt sogar Feuer im Kamin - aber weit und breit ist kein Mensch zu entdecken. Notgedrungen lassen sie sich in dem heimelig eingerichteten Landhaus nieder. Ein schüchterner Buchhalter, der die kommenden Stunden fieberkrank in einem der Betten verbringen wird (die Beschreibungen von Thomsons skurrilen Fieberträumen haben echte literarische Qualität und machen diesen Krimi zu einem besonderen Juwel), ein Geschwisterpaar, eine Revuetänzerin, ein angeblich weit gereister Aufschneider und Mr. Edward Maltby, Mitglied der Königlich-Parapsychologischen Gesellschaft. Wie aus dem Nichts taucht auch noch ein grobschlächtiger, unsympathischer "Mr. Smith" auf.
An ein Fortkommen ist nicht zu denken. Während der Schnee das Haus immer mehr zudeckt, machen sich die unfreiwilligen Hausgäste daran, über die Rätsel nachzudenken, die sich umgeben. Was hat es mit dem brennenden Feuer und dem heißen Wasser im Teekessel auf sich? Wer ist der geheimnisvolle Mann mit den zynisch leuchtenden Augen auf dem Ölgemälde über dem Kamin? Verbirgt Smith etwas? Und ist der seltsame Schneehügel, den Maltby vor dem Haus entdeckt hat, wirklich eine eingeschneite Leiche? Die Gesellschaft rätselt, und der in übersinnlichen Phänomenen bewanderte Maltby führt dabei die Regie.
Schließlich erhält die illustre Runde in dieser Weihnachtsnacht noch weitere Gesellschaft und kommt, wie könnte es anders sein, mehreren Morden auf die Spur. Nicht alles kann geklärt werden - vieles bleibt ebenso rätselhaft wie Maltbys kühne Gedankengänge. Auch die beiden Polizisten, die sich am nächsten Tag zu dem Haus durchkämpfen, erfahren nur einen kleinen Teil der Wahrheit. Unaufgeregt, vertrackt, hintergründig und absolut unterhaltsam.
Dienstag, 10. Dezember 2019
Mittwoch, 6. November 2019
Albert Maier: Der Antiquitätenhändler
Es geht durch ganz Baden-Württemberg mit dem Experten, der in den einzelnen Kapiteln gesuchte und beliebte Altertümer vorstellt: von gusseisernen Ofenplatten der Schwäbischen Hüttenwerke in Wasseralfingen und exquisitem Silberbesteck der WMF aus Geislingen über Schwarzwaldglas, Stuttgarter Bauhausmöbel, kunstvoll mit Silberfäden aus Gmünd und Keramik aus Lorch ausgestattete Rosenkränze, Gemälde von Sieger Köder, Fayencen aus Schrezheim, Märklin-Blechspielzeug aus Göppingen ... bis zum unverwüstlichen großen Steiff-Bär aus Giengen. Der Leser erfährt, dass Erhard & Söhne in Gmünd – heute als Auto-Zulieferbetrieb Teil des Magna-Konzerns – einst Aschenbecher und luxuriöse Schatullen mit Holz-Messing-Intarsien herstellte.
Die Reise durchs Antiquitätenländle wäre nur halb so unterhaltsam, würde Albert Maier dabei nicht munter aus dem Nähkästchen plaudern. Er erzählt, wie er Zeuge eines fast handgreiflichen Streit unter Gemälde-Erben wurde. Wie bei einer Nachlass-Auflösung ein Sparbuch auftauchte. Wie Kunden in seinem Laden zornig wurden, weil sie nicht glauben wollten, dass das mitgebrachte, naives Nachkriegsgemälde wertlos ist. Oder wie er einen besonderen Fund – einen geschliffenen Deckelpokal aus dem 17. Jahrhundert – stolz seiner Frau präsentieren wollte und dabei das 1000-Mark-Stück fallen ließ. Und er bedauert, dass er heutzutage auf Flohmärkten schnell als Antiquitätenexperte erkannt und daher ordentlich zur Kasse gebeten wird.
Aufgezeichnet hat Maiers Schilderungen der Fernsehjournalist Bernhard Foos. Er hat die Sprache nicht geschliffen, sondern lässt Maier so erzählen, wie man eben redet: einfach, ungekünstelt, lebensecht. Und ohne falsche Romantik: Bibeln sind wertlos, weiß Maier, selbst wenn sie 300 Jahre alt sind. Alter Schmuck wird fast immer nur zum Materialpreis angekaut. Porzellan, Zinn, Tiergemälde, Ofenplatten, Schwarzwälder Uhren – früher teuer, heute Ladenhüter.
Nebenbei schildert Maier auch seine Kindheit in Ellwangen, berichtet von der geliebten Oma, die der zum ungeliebten Rosenkranzgebet begleiten musste, von seinem Opa, dem weit gereisten „China-Michel, vom Kolonialwarenladen der Eltern und vom Palais Adelmann, wo der kleine Albert bei den Großeltern eine Klassenkameraden erstmals Barockmöbel, Gobelins, Porträtgemälden bestaunte.
Anfang der 1970-er, erinnert sich Maier, habe er in Aalen ausgemusterte Gefängnistüren kaufen können. Diese bot er in München zum Verkauf an: Sie fanden reißenden Absatz und sorgten sogar für einer Magazinstory im „Spiegel“. Beflügelt von dem Deal gab der junge Mann sein Jurastudium auf und klapperte fortan im VW-Bus die Flohmärkte ab.
Maiers Faszination steckt an. Sie macht Lust, über Flohmärkte zu streifen, in Antiquitätenläden nach Schätzen zu stöbern oder Museen in vergangene Zeiten zu reisen. Ein tolle Buch für alle Fans von Antiquitäten und Kunst, aber auch ein informatives Kompendium für alle, die an Regional- und Wirtschaftsgeschichte interessiert sind.
Albert Maier: Der Antiquitätenhändler. Auf der Suche nach verborgenen Schätzen. Aufgezeichnet von Bernhard Foos. Silberburg-Verlag. 173 Seiten. 19,99 Euro.
Erschienen in: Wirtschaft Regional, 24. Oktober 2019
Samstag, 2. November 2019
Sasha Abramsky: Das Haus der zwanzigtausend Bücher
Bücher, Dokumente, Papierstapel in jedem Raum, jeder Ecke, an jeder Wand bis zur Decke. Das ist Haus der zwanzigtausend Bücher in Hillway 5 in London. Das unscheinbare Reihenhaus, das der jüdische Gelehrte, Antiquar, Sammler, Universitätsprofessor und bibliophile Experte Chimen Abramsky (1916-2010) mit seiner Familie bewohnte. Sein Enkel Sasha hat beide - seinen Großvater und das Bücherhaus - in einer Biographie verewigt. Sie wären ohnehin schwer zu trennen gewesen.
Geboren 1916 als Sohn des berühmten Rabbiners Yehezkel Abramsky in Minsk, emigrierte Chimen Abramsky 1932 mit der Familie nach London. In größtmöglicher Opposition zu seinem frommen Vater wurde Chimen glühender Marxist, das Haus im Hillway 5 avancierte zum lebendigen Treffpunkt für kommunistische Denker. Und es füllte sich mit marxistischen Büchern. Später wandte sich Chimen vom Kommunismus ab. Nun gingen Liberale und Büchersammler im Hillway ein und aus. Und das Haus füllte sich weiter, mit kostbaren Judaica, mit Zeugnissen der riesigen schriftlichen Kultur, die jüdische Gelehrte ab dem frühen Mittelalter geschaffen haben.
Chimen Abramsky trug nicht nur persönlich eine der weltweit bedeutendsten Judaica-Sammlungen zusammen. Er arbeitete auch als Buchexperte für das Auktionshaus Sotheby's und verantwortete maßgeblich mit, dass ein Weltmarkt für seltene Judaica entstand. Auf Vermittlung seines Freundes, des Philosophen Isaiah Berlin, wurde er Lehrbeauftragter, dann Professor für Hebräisch und Jüdische Studien am Londoner University College.
Viel mehr als heute bedeuteten Bücher in Chimen Abramskys Zeit und Welt Wissen, Erkenntnis, Zugang zu den Geschichten und den Leben anderer Menschen. Und eine Büchersammlung war (und ist zum Teil auch heute noch) viel mehr, denn: Die gesammelten Bücher konstituieren ein Leben, geben Halt, helfen, wie der Enkel schreibt, durch das "Chaos zu navigieren", möblieren die eigene geistige Persönlichkeit.
Eine solche Sammlung geht normalerweise mit dem Sammler unwiederbringlich verloren. Nicht so hier. Denn Sasha Abramsky hat dieses mittlerweile längst ausgeräumte Bücherhaus mit seinen Zimmern und den Büchern darin selbst in einem Buch - und damit einer Zeitkapsel - verewigt. Das Werk ist somit gleichzeitig eine Biographie und eine Bibliographie, ein unvollständiger Bibliothekskatalog in Prosa. Zwar sind besondere Stücke nur vereinzelt beschrieben, wohl aber gibt Abramsky in die Welt der vom Großvater verehrten Denkern wie Moses Mendelssohn oder Baruch Spinoza, stellt Druckerpioniere wie Daniel Bomberg und zahlreiche jüdische - auch marxistische - Gelehrte und Philosophen vor.
Jedes Kapitel ist einem Zimmer und den Büchern darin gewidmet, dem Wohnzimmer, dem Schlafzimmer, der - natürlich mit Bänden vollgestopften - Diele. In der Küche widmet sich Abramsky seiner Großmutter Miriam - Sozialarbeiterin, ebenfalls in jungen Jahren Marxistin - die er aber ausschließlich in ihrer Rolle als Gastgeberin und Köchin preist. Offenbar war sie selbst darauf besonders stolz, und ihre Gastfreundschaft, die dem Haus erst seinen Zauber verliehen habe, wird vom Enkel ja auch über den grünen Klee gelobt.
Es wird klar, dass es Abramsky sehr an Vollständigkeit gelegen ist. Er lässt nichts aus, rekapituliert die Familiengeschichte, nimmt langen Anlauf - der Leser muss deshalb mit vielen Längen leben. Manche Kapitel sind dann wieder wunderbare Perlen: etwa jenes über das obere, mit bibliophilen Kostbarkeiten aus Jahrtausenden jüdischer Geschichte vollgestopfte obere Wohnzimmer.
Ein lesenswertes Essay von Philipp Blom über "Bibliomanie und Emigration" als Nachwort rundet die deutsche Ausgabe ab.
Geboren 1916 als Sohn des berühmten Rabbiners Yehezkel Abramsky in Minsk, emigrierte Chimen Abramsky 1932 mit der Familie nach London. In größtmöglicher Opposition zu seinem frommen Vater wurde Chimen glühender Marxist, das Haus im Hillway 5 avancierte zum lebendigen Treffpunkt für kommunistische Denker. Und es füllte sich mit marxistischen Büchern. Später wandte sich Chimen vom Kommunismus ab. Nun gingen Liberale und Büchersammler im Hillway ein und aus. Und das Haus füllte sich weiter, mit kostbaren Judaica, mit Zeugnissen der riesigen schriftlichen Kultur, die jüdische Gelehrte ab dem frühen Mittelalter geschaffen haben.
Chimen Abramsky trug nicht nur persönlich eine der weltweit bedeutendsten Judaica-Sammlungen zusammen. Er arbeitete auch als Buchexperte für das Auktionshaus Sotheby's und verantwortete maßgeblich mit, dass ein Weltmarkt für seltene Judaica entstand. Auf Vermittlung seines Freundes, des Philosophen Isaiah Berlin, wurde er Lehrbeauftragter, dann Professor für Hebräisch und Jüdische Studien am Londoner University College.
Viel mehr als heute bedeuteten Bücher in Chimen Abramskys Zeit und Welt Wissen, Erkenntnis, Zugang zu den Geschichten und den Leben anderer Menschen. Und eine Büchersammlung war (und ist zum Teil auch heute noch) viel mehr, denn: Die gesammelten Bücher konstituieren ein Leben, geben Halt, helfen, wie der Enkel schreibt, durch das "Chaos zu navigieren", möblieren die eigene geistige Persönlichkeit.
Eine solche Sammlung geht normalerweise mit dem Sammler unwiederbringlich verloren. Nicht so hier. Denn Sasha Abramsky hat dieses mittlerweile längst ausgeräumte Bücherhaus mit seinen Zimmern und den Büchern darin selbst in einem Buch - und damit einer Zeitkapsel - verewigt. Das Werk ist somit gleichzeitig eine Biographie und eine Bibliographie, ein unvollständiger Bibliothekskatalog in Prosa. Zwar sind besondere Stücke nur vereinzelt beschrieben, wohl aber gibt Abramsky in die Welt der vom Großvater verehrten Denkern wie Moses Mendelssohn oder Baruch Spinoza, stellt Druckerpioniere wie Daniel Bomberg und zahlreiche jüdische - auch marxistische - Gelehrte und Philosophen vor.
Jedes Kapitel ist einem Zimmer und den Büchern darin gewidmet, dem Wohnzimmer, dem Schlafzimmer, der - natürlich mit Bänden vollgestopften - Diele. In der Küche widmet sich Abramsky seiner Großmutter Miriam - Sozialarbeiterin, ebenfalls in jungen Jahren Marxistin - die er aber ausschließlich in ihrer Rolle als Gastgeberin und Köchin preist. Offenbar war sie selbst darauf besonders stolz, und ihre Gastfreundschaft, die dem Haus erst seinen Zauber verliehen habe, wird vom Enkel ja auch über den grünen Klee gelobt.
Es wird klar, dass es Abramsky sehr an Vollständigkeit gelegen ist. Er lässt nichts aus, rekapituliert die Familiengeschichte, nimmt langen Anlauf - der Leser muss deshalb mit vielen Längen leben. Manche Kapitel sind dann wieder wunderbare Perlen: etwa jenes über das obere, mit bibliophilen Kostbarkeiten aus Jahrtausenden jüdischer Geschichte vollgestopfte obere Wohnzimmer.
Ein lesenswertes Essay von Philipp Blom über "Bibliomanie und Emigration" als Nachwort rundet die deutsche Ausgabe ab.
Mittwoch, 30. Oktober 2019
John Kaag: Das Bücherhaus
Einer der Schlüsselmomente geschieht kurz vor Schluss dieser autobiographischen Skizze. Ein Gutachter durchforstet die Privatbibliothek des lange verstorbenen Philosophen und Universitätsprofessors William Ernest Hocking (1873-1966) im Hinterland von New Hampshire und taxiert die Bücher nach ihrem miserablen Erhaltungszustand und Marktwert.
Der junge Philosophieprofessor John Kaag steht dabei und ist empört: "Philosophie, die gewaltige Liebesbeziehung mit der Weisheit, auf einen Kalkulationsbogen summiert, zum Zwecke steuerlicher Absetzbarkeit". Immerhin hat er, Kaag, dieses Bücherversteck als 27-Jähriger zufällig entdeckt und mit Erlaubnis von Hockings Erben drei Jahre lang geordnet und katalogisiert. Er hat Nächte zwischen den feuchten Regalen verbracht, vor dem baufälligen Anwesen gezeltet und ist mit Stirnlampe ausgerüstet durch den Stachelschweindreck auf dem Dachboden gekrochen. Dabei hat er Erstausgaben, Manuskripte, Notizen und Briefe nicht nur Hockings, sondern praktisch aller namhaften Philosophen und Philosophinnen der USA des 19. und angehenden 20. Jahrhunderts geborgen. Ein unermesslicher Schatz, den er vor dem weiteren Verfall retten muss.
In diesem Moment wird klar: Bücher, Texte bekommen ihre entscheidende Bedeutung dadurch, dass sie in Bezug zum eigenen Leben gesetzt werden. Die Gedanken der Philosophen steigen im Wert, wenn sie heute jemanden berühren, ihn zum Weiterdenken bringen, ihm eine Idee über das gute Leben vermitteln, ihm von Gemeinschaft, Freundschaft und Liebe erzählen. Sie können nicht taxiert werden.
Diese In-Beziehung-Setzen unternimmt Kaag in diesem Stück Prosa, das eine Episode in seinem eigenen Leben ab 2008 beschreibt. Kaag verwendet persönliche Erlebnisse und Empfindungen als Stichworte, um die philosophischen Schätze der Bibliothek und ihre Urheber vorzustellen.
Was hätte Ralph Waldo Emerson in meiner Situation (witzig: Kaag fragt sich das, als er eine Autopanne hat) gedacht? Ging es Henry David Thoreau ebenso? Deckte sich William Ernest Hockings eigenes Familienleben mit seinen philosophischen Entwürfen? Wie lebten und dachten dessen Vorbilder, Zeitgenossen, Nachfolger? Zu Wort kommen neben anderen Charles Sanders Peirce, Josiah Royce, William James, Jane Addams und Walt Whitman. Kaag würdigt ausführlich amerikanischen Pragmatismus und Transzendentalismus. Aber auch Kant und
Hegel, Platon und Dante haben ihre Werke in der Bibliothek - und damit ihre Gedanken in diesem Buch hinterlassen.
Gleichzeitig beschreibt Kaag sein eigenes Leben. Er schreibt vom Vater, der Alkoholiker war und die Familie verließ. Er schreibt von seiner eigenen Ehe - er hatte in sehr jungen Jahren geheiratet. Die Beziehung belastet ihn, während er viel Zeit in der verfallenen Bibliothek verbringt, schließlich lässt sich das Paar scheiden. Was ihn belastet hat, was nicht stimmte in der Ehe - hier bleibt Kaag sehr vage. Die Handlung mag zwar persönlich angelegt sein, in letzter Konsequenz aber macht der Autor dicht, schließt die Türen. Das gilt auch für Kaags neue Liebesbeziehung zu seiner Philosophenkollegin Carol Hay, die gemeinsam mit ihm die Hocking-Bibliothek katalogisiert und die schließlich seine zweite Frau wird. Immer, wenn es zu persönlich zu werden droht, beginnt der nächste Exkurs und Kaag berichtet aus dem Leben der Philosophen.
Insofern gibt das Buch hervorragenden und sehr detaillierten Einblick in die Ideengeschichte der US-Philosophie des
19. und frühen 20. Jahrhunderts. Wer sich für diese Thema interessiert, dürfte Das Bücherhaus mit großem Gewinn lesen. Er erfährt auch, was letztlich aus der Bibliothek wurde - denn alles wird an dieser Stelle nicht verraten.
John Kaag: Das Bücherhaus. Eine philosophische Liebesgeschichte. Aus dem Amerikanischen von Martin Ruben Becker. btb 2019. 11 Euro.
John Kaag: Das Bücherhaus. Eine philosophische Liebesgeschichte. Aus dem Amerikanischen von Martin Ruben Becker. btb 2019. 11 Euro.
Samstag, 12. Oktober 2019
Horst Evers: Der König von Berlin
Bester Regionalkrimi ever.
Ja, erstens Regionalkrimi. Es ist zwar gemein, dieses Familienepos, diese Sozialstudie, diese satirische Großstadtsinfonie in eine Reihe mit den humorlosen Kluftinger-Krimis und noch viel, viel schlimmeren Machwerken zu stellen. Trotzdem ist es auch einer von denen. Allerdings einer, der das Genre des Regionalkrimis wunderbar durchschaut, thematisiert, persifliert. Und dennoch seine Stärken nutzt, die Wiedererkennensmomente, die Orte, Situationen, Menschen. Ja, genau, Berlin, det is Balin wa.
Ja, zweitens, ever, auch wenn das nach einem billigen Namenskalauer klingt. Aber Evers selbst hat in sein Buch ja einige plattestmögliche Gags eingebaut, die sich sehr gut in Luke Mockridges diesjährigem Fernsehgarten-Auftritt gemacht hätten, den ich übrigens sehr gut finde, weil er einer Gesellschaft ihren schizophrenen Umgang mit Kindern um die Ohren haut.
Ich schweife ab. Ist egal. Im 2012 erschienenen Roman des Satirikers und Lesebühnen-Stars Horst Evers geht es um eine Rattenplage in Berlin und den Hauptkommissar Carsten Lanner. Lanner war in der niedersächischen Provinz eine große Nummer, versetzt in die Hauptstadt wird er jedoch von den Kollegen gehänselt, als Landei verspottet, ignoriert. Obendrein ist in Berlin ein Polizist so ziemlich das unterste in der sozialen Rangordnung. Hätte Lanner wissen können.
Einzige kurze Moment des Glücks sind dem Kommissar vergönnt, wenn er an der Resopal-Arbeitsplatte seiner Küche steht und von der Mettrauchwurst nascht, die ihm seine Mutter aus Cloppenburg geschickt hat. Wunderbar. So muss ein Krimiheld sein, der mir sympathisch ist.
Und Evers schickt noch mehr so tollen Typen auf die Szenerie: Der mysteriös verstorbene Schädlingsbekämpfer-Großmogul und Unsympath Erwin Michallik, seine beiden unfähigen Söhne Helmut und Max, seine resolute Chefsekretärin Claire Matthes. Dazu der einsilbige, in Breslau aufgewachsene Kammerjäger Toni Karhan, der zum Actionhelden wird und einen geheimnisvoll verrätselten Stadtplan entdeckt. Georg Wolters, ehemaliger Langzeitstudent und jetzt ebenfalls Kammerjäger, Cloppenburger Schulkamerad von Lanner, welcher ihn zähneknirschend um Hilfe bitten muss. Dann der „dreieckige Spurensicherer“ Manfred Kolbe, der mit, ja, "Berliner Schnauze" ausgestattet, den Dorfsherrif Lanner besonders gerne schikaniert. Die patente, aber etwas undurchsichtige Kommissarin Carola Markowitz. Außerdem ein Nerd, der von seinem Computer aus Ratten dirigiert, ein Ausbrecherkönig, eine Runde korrupter Stadtbarone, die mit dem Regierenden Bürgermeister in der Sauna klüngelt, eine Schar unterbelichteter Brandenburger und dann noch der unvermeidbare Ex-Polizist, der den Dienst quittiert, aber noch einige Rechnungen offen hat.
Nebenbei wird noch die Leiche eines unscheinbaren Mannes gefunden, dessen Wohnung voller Bargeld ist - das hat er, so wird bald klar, als Ghostwriter für Regionalkrimi-Reihen verdient.
Die philosophische Botschaft dieser erratischen Heldenreise lautet: Jeder delegiert alles, vor allem Verantwortung, an andere, will aber die Anerkennung selbst einstreichen. Das passiert auf allen Ebenen - der Regierende tut es sowieso, die Unternehmer und der Polizeichef tun es, selbst der kleine Spurensicherer tut es.
Ein schmieriger Bauunternehmer lässt einen Schlüsselsatz fallen:
„Dieser niedersächsische Bauer versteht nicht, was diese Stadt ausmacht!“
Ja was denn? Wer hat nicht schon gerätselt, woher die bizarr-geschmacklose Form des Einkaufszentrums Alexa kommt? Und wozu der Steglitzer Bierpinsel eigentlich dient? Oder ist daran verzweifelt, dass er einfach nicht verstanden hat, wie diese Stadt tickt? Nach der Lektüre dieses Buches hat er es. Horst Evers, gebürtig Gerd Winter aus Evershorst in Niedersachsen, hat es ihm spannend, actionreich, witzig und hintergründig erklärt.
Ja, erstens Regionalkrimi. Es ist zwar gemein, dieses Familienepos, diese Sozialstudie, diese satirische Großstadtsinfonie in eine Reihe mit den humorlosen Kluftinger-Krimis und noch viel, viel schlimmeren Machwerken zu stellen. Trotzdem ist es auch einer von denen. Allerdings einer, der das Genre des Regionalkrimis wunderbar durchschaut, thematisiert, persifliert. Und dennoch seine Stärken nutzt, die Wiedererkennensmomente, die Orte, Situationen, Menschen. Ja, genau, Berlin, det is Balin wa.
Ja, zweitens, ever, auch wenn das nach einem billigen Namenskalauer klingt. Aber Evers selbst hat in sein Buch ja einige plattestmögliche Gags eingebaut, die sich sehr gut in Luke Mockridges diesjährigem Fernsehgarten-Auftritt gemacht hätten, den ich übrigens sehr gut finde, weil er einer Gesellschaft ihren schizophrenen Umgang mit Kindern um die Ohren haut.
Ich schweife ab. Ist egal. Im 2012 erschienenen Roman des Satirikers und Lesebühnen-Stars Horst Evers geht es um eine Rattenplage in Berlin und den Hauptkommissar Carsten Lanner. Lanner war in der niedersächischen Provinz eine große Nummer, versetzt in die Hauptstadt wird er jedoch von den Kollegen gehänselt, als Landei verspottet, ignoriert. Obendrein ist in Berlin ein Polizist so ziemlich das unterste in der sozialen Rangordnung. Hätte Lanner wissen können.
Einzige kurze Moment des Glücks sind dem Kommissar vergönnt, wenn er an der Resopal-Arbeitsplatte seiner Küche steht und von der Mettrauchwurst nascht, die ihm seine Mutter aus Cloppenburg geschickt hat. Wunderbar. So muss ein Krimiheld sein, der mir sympathisch ist.
Und Evers schickt noch mehr so tollen Typen auf die Szenerie: Der mysteriös verstorbene Schädlingsbekämpfer-Großmogul und Unsympath Erwin Michallik, seine beiden unfähigen Söhne Helmut und Max, seine resolute Chefsekretärin Claire Matthes. Dazu der einsilbige, in Breslau aufgewachsene Kammerjäger Toni Karhan, der zum Actionhelden wird und einen geheimnisvoll verrätselten Stadtplan entdeckt. Georg Wolters, ehemaliger Langzeitstudent und jetzt ebenfalls Kammerjäger, Cloppenburger Schulkamerad von Lanner, welcher ihn zähneknirschend um Hilfe bitten muss. Dann der „dreieckige Spurensicherer“ Manfred Kolbe, der mit, ja, "Berliner Schnauze" ausgestattet, den Dorfsherrif Lanner besonders gerne schikaniert. Die patente, aber etwas undurchsichtige Kommissarin Carola Markowitz. Außerdem ein Nerd, der von seinem Computer aus Ratten dirigiert, ein Ausbrecherkönig, eine Runde korrupter Stadtbarone, die mit dem Regierenden Bürgermeister in der Sauna klüngelt, eine Schar unterbelichteter Brandenburger und dann noch der unvermeidbare Ex-Polizist, der den Dienst quittiert, aber noch einige Rechnungen offen hat.
Nebenbei wird noch die Leiche eines unscheinbaren Mannes gefunden, dessen Wohnung voller Bargeld ist - das hat er, so wird bald klar, als Ghostwriter für Regionalkrimi-Reihen verdient.
Die philosophische Botschaft dieser erratischen Heldenreise lautet: Jeder delegiert alles, vor allem Verantwortung, an andere, will aber die Anerkennung selbst einstreichen. Das passiert auf allen Ebenen - der Regierende tut es sowieso, die Unternehmer und der Polizeichef tun es, selbst der kleine Spurensicherer tut es.
Ein schmieriger Bauunternehmer lässt einen Schlüsselsatz fallen:
„Dieser niedersächsische Bauer versteht nicht, was diese Stadt ausmacht!“
Ja was denn? Wer hat nicht schon gerätselt, woher die bizarr-geschmacklose Form des Einkaufszentrums Alexa kommt? Und wozu der Steglitzer Bierpinsel eigentlich dient? Oder ist daran verzweifelt, dass er einfach nicht verstanden hat, wie diese Stadt tickt? Nach der Lektüre dieses Buches hat er es. Horst Evers, gebürtig Gerd Winter aus Evershorst in Niedersachsen, hat es ihm spannend, actionreich, witzig und hintergründig erklärt.
Samstag, 5. Oktober 2019
Helmut Ahrens: Das Leben des Romanautors, Dichters und Journalisten Theodor Fontane
Diese Schrift widmet sich Theodor Fontane (1819-1898) aus Neuruppin: Apotheker,
Balladendichter, Berichterstatter, einer der bedeutendsten Theaterkritiker der Bismarck-Epoche,
Englandkenner,
Reiseschriftsteller - so wie Walter Scott über Schottland schrieb, setzte er es für die Mark Brandenburg um - und Kriegsschilderer.
Sehr spät, als 60-Jähriger, wurde Fontane zum Romancier, der in eine Liga mit Tolstoi, Flaubert und Dickens aufstieg. Fontanes schriftstellerisch interessanteste Epoche setzt ein, wenn die Seiten dieses Buches schwinden. Das stimmt traurig, aber auch hoffnungsvoll.
Bevor es so weit kommt, berichtet dieses Biografie lang und breit über Fontanes Anstellungen, sein Familienleben, die kleinen Reisen, die journalistischen und publizistischen Arbeiten. Als Apotheker hielt er es nicht lange aus, er wollte schreiben. Und er schrieb auch, lebenslang. Aber nicht das Werk, sondern das Leben Fontanes steht hier im Mittelpunkt. Und das verlief eben meist im Klein-Klein, ehe es dann doch zum großen Roman wurde.
Insofern ist diese Biografie umfassend, aber dann eben doch wieder nicht: Wie seltsam verklausuliert ist hier mitgeteilt, Fontane habe in Dresden zwei uneheliche Kinder gehabt? Im Gegensatz zu seinen späteren ehelichen Kindern wird über diese Kinder seltsam verhuscht hinweggegangen. Ein paar Sätze sind ihnen gewidmet, wenn aus einem Brief Fontanes zitiert wird. Dann sind sie nie wieder erwähnt.
Wer war die Mutter? Welches Verhältnis pflegte Fontane zu ihr? Was wurde aus den Kindern? Hatte Fontane die Kinder, die er nur in diesen Briefen erwähnte, vielleicht frei erfunden? Seltsam, in einer Biografie aus dem Jahr 1985. Damals waren doch uneheliche Kinder (selbst die eines Dichterfürsten) keinesfalls etwas, dass man "der Schicklichkeit halber" verschweigen oder seltsam verdruckst unter den Tisch kehren musste. Vielmehr war wohl die Quellenlage sehr dünn - aber dann hätte der Biograf eben genau dies und die offenen Fragen thematisieren müssen.
Am schönsten ist dieses Buch, wenn Fontane selbst ausführlich zu Wort kommt. Etwa in seiner großartigen Theaterkritik zur Erstaufführung von Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang. Ich sollte wieder Fontane selbst lesen, vielleicht zuerst den fabelhaften Krimi Unterm Birnbaum.
Sehr spät, als 60-Jähriger, wurde Fontane zum Romancier, der in eine Liga mit Tolstoi, Flaubert und Dickens aufstieg. Fontanes schriftstellerisch interessanteste Epoche setzt ein, wenn die Seiten dieses Buches schwinden. Das stimmt traurig, aber auch hoffnungsvoll.
Bevor es so weit kommt, berichtet dieses Biografie lang und breit über Fontanes Anstellungen, sein Familienleben, die kleinen Reisen, die journalistischen und publizistischen Arbeiten. Als Apotheker hielt er es nicht lange aus, er wollte schreiben. Und er schrieb auch, lebenslang. Aber nicht das Werk, sondern das Leben Fontanes steht hier im Mittelpunkt. Und das verlief eben meist im Klein-Klein, ehe es dann doch zum großen Roman wurde.
Insofern ist diese Biografie umfassend, aber dann eben doch wieder nicht: Wie seltsam verklausuliert ist hier mitgeteilt, Fontane habe in Dresden zwei uneheliche Kinder gehabt? Im Gegensatz zu seinen späteren ehelichen Kindern wird über diese Kinder seltsam verhuscht hinweggegangen. Ein paar Sätze sind ihnen gewidmet, wenn aus einem Brief Fontanes zitiert wird. Dann sind sie nie wieder erwähnt.
Wer war die Mutter? Welches Verhältnis pflegte Fontane zu ihr? Was wurde aus den Kindern? Hatte Fontane die Kinder, die er nur in diesen Briefen erwähnte, vielleicht frei erfunden? Seltsam, in einer Biografie aus dem Jahr 1985. Damals waren doch uneheliche Kinder (selbst die eines Dichterfürsten) keinesfalls etwas, dass man "der Schicklichkeit halber" verschweigen oder seltsam verdruckst unter den Tisch kehren musste. Vielmehr war wohl die Quellenlage sehr dünn - aber dann hätte der Biograf eben genau dies und die offenen Fragen thematisieren müssen.
Am schönsten ist dieses Buch, wenn Fontane selbst ausführlich zu Wort kommt. Etwa in seiner großartigen Theaterkritik zur Erstaufführung von Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang. Ich sollte wieder Fontane selbst lesen, vielleicht zuerst den fabelhaften Krimi Unterm Birnbaum.
Dienstag, 17. September 2019
Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex
Der Pariser Schallplattenverkäufer Vernon Subutex geht erst pleite, dann stürzt er vollends ab. "Als ihn die Einsamkeit schon eingemauert hat" fliegt er aus seiner Wohnung und kriecht unter bei flüchtigen Bekannten, alten Freunden, Frauen, die ihn besitzen wollen, Langweilern, die zu spät Nein sagen, immer entfernteren Bekannten, landet auf Platte. Auf seiner Reise trifft er auf Pseudoerfolgreiche, Kaputte, Illusionslose, wütende Rassisten, transsexuelle Pornostars, unsichere Hipster, Abgestürzte, seit kurzem nicht mehr Angesagte, erwachsene Nerds, die sich noch ernsthaft mit Rockmusik befassen, Abgehalfterte, Sadisten, Jähzornige, Fanatiker, Wütende, Hübsche, Hässliche, Obdachlose.
Über all diesen Personen, allem was sie tun und denken, kreist die Erbarmungslosigkeit: "Niemand hilft dir auf dieser Erde. Weder die Kerle, mit denen du rumhängst, noch die Tussis, die deine Freundinnen sind, auch nicht die Jungs, denen du keinen runterholen wirst." Hier gibt es keine Gnade, kein Mitgefühl, kein Interesse über die eigene Person und die eigene Neurose hinaus.
Scharf beobachtet, gut recherchiert, Sozial- und Kapitalismuskritik dabei, schön auch der Blick durch das Schlüsselloch der Hippen, wenn man sich dafür interessiert. Das erinnert schon ein bisschen an den göttlichen Jean Genet. Aber es ist auch ein bisschen l‘art pour l‘art, ein eitles Gepose um die Eleganz des Kaputten.
Subjektiv muss ich sagen, dass ich immer wieder aus dem Buch geworfen wurde, es auch mal eine Woche liegen ließ, mich teils von Seite zu Seite geschleppt habe. Einfach deshalb, weil ich es als wenig packend empfand. Es werden hier keine originellen Geschichten erzählt, mir fehlen ganz einfach die Ideen, die überraschenden Wendungen, die Spannung, der Witz. Virginie Despentes hat auch noch einen zweiten und dritten Teil geschrieben - schlecht sind die ganz sicher auch nicht.
Über all diesen Personen, allem was sie tun und denken, kreist die Erbarmungslosigkeit: "Niemand hilft dir auf dieser Erde. Weder die Kerle, mit denen du rumhängst, noch die Tussis, die deine Freundinnen sind, auch nicht die Jungs, denen du keinen runterholen wirst." Hier gibt es keine Gnade, kein Mitgefühl, kein Interesse über die eigene Person und die eigene Neurose hinaus.
Scharf beobachtet, gut recherchiert, Sozial- und Kapitalismuskritik dabei, schön auch der Blick durch das Schlüsselloch der Hippen, wenn man sich dafür interessiert. Das erinnert schon ein bisschen an den göttlichen Jean Genet. Aber es ist auch ein bisschen l‘art pour l‘art, ein eitles Gepose um die Eleganz des Kaputten.
Subjektiv muss ich sagen, dass ich immer wieder aus dem Buch geworfen wurde, es auch mal eine Woche liegen ließ, mich teils von Seite zu Seite geschleppt habe. Einfach deshalb, weil ich es als wenig packend empfand. Es werden hier keine originellen Geschichten erzählt, mir fehlen ganz einfach die Ideen, die überraschenden Wendungen, die Spannung, der Witz. Virginie Despentes hat auch noch einen zweiten und dritten Teil geschrieben - schlecht sind die ganz sicher auch nicht.
Samstag, 14. September 2019
Andrea Wulf: Die Abenteuer des Alexander von Humboldt
Diesem besonderen Abenteuer widmet das Buch sogar Ausklappseiten: Alexander von Humboldt und seine Gefährten kraxeln auf den 6300 Meter hohen Chimborazo, der damals als der höchste Berg der Welt gilt. Trotz dünner Luft, Kälte und Verletzungen schaffen sie es bis auf 5917 Meter, dann brechen sie ab. Immerhin sind sie höher geklettert als jemals ein Mensch zuvor. Die Reisegruppe hat bereits eine abenteuerliche Flussfahrt auf dem Orinoco zwischen Krokodile und Piranhas, die unerträgliche Hitze der Llanos und viele weitere Strapazen hinter und noch einiges, wie den Abstieg in Mexikos Silberminen, vor sich.
Die deutsch-britische Humboldtexpertin Andrea Wulf erzählt in dieser Graphic Novel von der großen Südamerikaaeise, die der Berliner Gelehrte gemeinsam mit dem französischen Botaniker Aimé Bonpland von 1799 bis 1804 unternahm.
Humboldt (heute vor 250 Jahren geboren), großer Abenteurer unter den deutschen Gelehrten, neugieriger Forscher, ideenreicher Vielschreiber, akribischer Sammler und Beschreiber, der die Natur als Natur als ein lebendiges Ganzes, ein organisches Geflecht begreift, in dem alles Miteinander verbunden ist. Humboldt, von dem Goethe sagt, er lasse die Naturwissenschaften mit heller Flamme leuchten, der die Landschaft da preis "wo der Mensch den Lauf der Natur nicht stört. Der bereits vor mehr als 200 Jahren vor Klimawandel, Monokulturen und Ausbeutung der Ressourcen warnte (so erkannte Humboldt, dass der Pegel des Valenciasees sinkt, weil um ihn herum Wälder abgeholzt wurden). Der gegen die Sklaverei Stellung bezog. Der sich privat - auch das ist mit Bildern thematisiert - in der Gesellschaft von Männern wohler fühlte als mit Frauen. Nach dem heute Meeresströme und Pinguine benannt sind.
Die New Yorker Illustratorin Lillian Melcher hat das Buch im Collagestil gestaltet. Humboldts Originalmanuskripte, Reisetagebücher, Kupferstiche, Gemälde, Skizzen, Landkarten und präparierte Pflanzen sind mit Zeichnungen, Texten und Sprechblasen kombiniert. Das Ganze erinnert an die fantasievollen älteren Bilderbücher von Ali Mitgutsch. Dazwischen treten immer wieder die Figuren Humboldt und Bonpland auf und marschieren etwa über eine Landkarte. Leider sind sie ziemlich grob und ungeschickt gezeichnet. Diese Menschgerler könnten auch von einem Drittklässler stammen. Schade.
Und dann ist das Buch obendrein etwas zu ausführlich und in die Länge gezogen. Mit 250 großformatigen Seiten ist es deutlich zu dick und dadurch zu schwer geraten. Wer sich wirklich ernsthaft für die Details vom Humboldts Südamerika-Reise interessiert, dem ist dieses Buch allerdings wärmstens zu empfehlen.
Die deutsch-britische Humboldtexpertin Andrea Wulf erzählt in dieser Graphic Novel von der großen Südamerikaaeise, die der Berliner Gelehrte gemeinsam mit dem französischen Botaniker Aimé Bonpland von 1799 bis 1804 unternahm.
Humboldt (heute vor 250 Jahren geboren), großer Abenteurer unter den deutschen Gelehrten, neugieriger Forscher, ideenreicher Vielschreiber, akribischer Sammler und Beschreiber, der die Natur als Natur als ein lebendiges Ganzes, ein organisches Geflecht begreift, in dem alles Miteinander verbunden ist. Humboldt, von dem Goethe sagt, er lasse die Naturwissenschaften mit heller Flamme leuchten, der die Landschaft da preis "wo der Mensch den Lauf der Natur nicht stört. Der bereits vor mehr als 200 Jahren vor Klimawandel, Monokulturen und Ausbeutung der Ressourcen warnte (so erkannte Humboldt, dass der Pegel des Valenciasees sinkt, weil um ihn herum Wälder abgeholzt wurden). Der gegen die Sklaverei Stellung bezog. Der sich privat - auch das ist mit Bildern thematisiert - in der Gesellschaft von Männern wohler fühlte als mit Frauen. Nach dem heute Meeresströme und Pinguine benannt sind.
Die New Yorker Illustratorin Lillian Melcher hat das Buch im Collagestil gestaltet. Humboldts Originalmanuskripte, Reisetagebücher, Kupferstiche, Gemälde, Skizzen, Landkarten und präparierte Pflanzen sind mit Zeichnungen, Texten und Sprechblasen kombiniert. Das Ganze erinnert an die fantasievollen älteren Bilderbücher von Ali Mitgutsch. Dazwischen treten immer wieder die Figuren Humboldt und Bonpland auf und marschieren etwa über eine Landkarte. Leider sind sie ziemlich grob und ungeschickt gezeichnet. Diese Menschgerler könnten auch von einem Drittklässler stammen. Schade.
Und dann ist das Buch obendrein etwas zu ausführlich und in die Länge gezogen. Mit 250 großformatigen Seiten ist es deutlich zu dick und dadurch zu schwer geraten. Wer sich wirklich ernsthaft für die Details vom Humboldts Südamerika-Reise interessiert, dem ist dieses Buch allerdings wärmstens zu empfehlen.
Mittwoch, 21. August 2019
Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals
Damaskus, November 2010: In der italienischen Botschaft wird ein Fass Olivenöl abgegeben. Darin schwimmt die Leiche eines Kardinals. Wer steckt hinter dem Mord? Islamisten? Die Mafia? Der Staat? Die katholische Kirche? Kommissar Barudi und sein aus Italien angereister Kollege Mancini ermitteln.
Wer nun einen klassischen Krimi mit knallharten Verhören zwielichtiger Verdächtiger in abgedunkelten Räumen erwartet, kennt den deutsch-syrischen Geschichtenerzähler Rafik Schami schlecht. Seine Kommissare schlürfen erst mal einen Mokka mit Kardamom und erkundigen sich dann nach dem Wohlbefinden der Großmutter. Dann wird ausgiebig geplaudert, gescherzt und sinniert. Das ganze Buch gleicht einem Gang durch einen üppig beladenen Basar der Anekdoten und Nachdenkereien. Die eigentliche Krimihandlung gerät dabei fast zur Nebensache.
Doch ganz so harmlos ist das, was hier in bunten Bildern erzählt ist, nicht: Schami lässt seine Mördergeschichte bewusst am Vorabend des syrischen Bürgerkrieges spielen. Wie beiläufig führt er dem Leser ein undurchschaubares Geflecht von zerstrittenen Religionen, Konfessionen und Sekten, Scharlatanen und Geschäftemachern, korrupten Eliten und brutalen Clan-Strukturen vor Augen – und lässt ahnen, wie das Land in die Katastrophe schlitterte.
Erschienen in Schwäbische Post / Gmünder Tagespost, 20. August 2019
Wer nun einen klassischen Krimi mit knallharten Verhören zwielichtiger Verdächtiger in abgedunkelten Räumen erwartet, kennt den deutsch-syrischen Geschichtenerzähler Rafik Schami schlecht. Seine Kommissare schlürfen erst mal einen Mokka mit Kardamom und erkundigen sich dann nach dem Wohlbefinden der Großmutter. Dann wird ausgiebig geplaudert, gescherzt und sinniert. Das ganze Buch gleicht einem Gang durch einen üppig beladenen Basar der Anekdoten und Nachdenkereien. Die eigentliche Krimihandlung gerät dabei fast zur Nebensache.
Doch ganz so harmlos ist das, was hier in bunten Bildern erzählt ist, nicht: Schami lässt seine Mördergeschichte bewusst am Vorabend des syrischen Bürgerkrieges spielen. Wie beiläufig führt er dem Leser ein undurchschaubares Geflecht von zerstrittenen Religionen, Konfessionen und Sekten, Scharlatanen und Geschäftemachern, korrupten Eliten und brutalen Clan-Strukturen vor Augen – und lässt ahnen, wie das Land in die Katastrophe schlitterte.
Erschienen in Schwäbische Post / Gmünder Tagespost, 20. August 2019
Mittwoch, 7. August 2019
Lucy Clarke: Das Haus, das in den Wellen verschwand
Spannend und stimmig erzählt ist diese Geschichte um eine zusammengewürfelte Gruppe Rucksackreisender, die auf einem Segelboot durch die Südsee kreuzt.
Auf der Blue segeln die Neuseeländer Aaron und Danny, der Franzose Joseph, der Deutsche Heinrich und die Kanadierin Shell gemeinsam Richtung Neuseeland. Die Handlung setzt auf den Philippinen ein, wo die beiden Engländerinnen Kitty und Lana (aus ihrer Sicht ist die Geschichte erzählt) zufällig auf die Blue stoßen und Teil der Crew werden.
Es wird gekifft, geküsst, gekocht, geplaudert, geschwommen, die Sonne glitzert und versinkt malerisch im Meer. Aber es gibt auch Streit, schwere See und Suchtprobleme. Langsam wird klar, was alle Reisenden gemeinsam haben: Sie sind vor etwas geflohen. Aber Danny sagt es richtig: "Man geht nicht zurück. Man geht weiter."
Dramatisch entwickelt sich die Situation auf der Überfahrt nach Palau: Plötzlich fehlt ein Mitglied der Besatzung. Was geschehen ist (ein Unfall? ein Verbrechen? Selbstmord?), erfährt der Leser nach und nach. Wie bei einem Puzzle, dessen Stücke sich zusammenfinden. Jeder, der schon eine große Reise unternommen hat, kennt das Gefühl, zurückgeworfen zu sein auf die Fragen: Was mache ich hier? Was ist mein Antrieb? Was bedeutet mir eigentlich etwas? Die Autorin lässt in ihrem geschickten Plot in zwei verschiedenen Zeitebenen die Motive, die hinter allem stecken, deutlicher und deutlicher hervortreten: Familie und Geld.
Nun ist Lucy Clarke keine große Stylistin. Das Buch liest sich manchmal wie die große Phrasenparade. Da macht sich Unbehagen in den Gedanken breit, Rucksäcke werden zigfach "gehievt", heiße Tränen rinnen über die Wangen, das Blut gefriert in den Adern. Rutscht auch das Herz in die Hose? Ich kann es nicht beschwören, bin aber fast ganz sicher, dass die Formulierung auch vorkommt. Ohne solche Fehlgriffe wäre das Das Haus, das in den Wellen verschwand noch besser.
Auf der Blue segeln die Neuseeländer Aaron und Danny, der Franzose Joseph, der Deutsche Heinrich und die Kanadierin Shell gemeinsam Richtung Neuseeland. Die Handlung setzt auf den Philippinen ein, wo die beiden Engländerinnen Kitty und Lana (aus ihrer Sicht ist die Geschichte erzählt) zufällig auf die Blue stoßen und Teil der Crew werden.
Es wird gekifft, geküsst, gekocht, geplaudert, geschwommen, die Sonne glitzert und versinkt malerisch im Meer. Aber es gibt auch Streit, schwere See und Suchtprobleme. Langsam wird klar, was alle Reisenden gemeinsam haben: Sie sind vor etwas geflohen. Aber Danny sagt es richtig: "Man geht nicht zurück. Man geht weiter."
Dramatisch entwickelt sich die Situation auf der Überfahrt nach Palau: Plötzlich fehlt ein Mitglied der Besatzung. Was geschehen ist (ein Unfall? ein Verbrechen? Selbstmord?), erfährt der Leser nach und nach. Wie bei einem Puzzle, dessen Stücke sich zusammenfinden. Jeder, der schon eine große Reise unternommen hat, kennt das Gefühl, zurückgeworfen zu sein auf die Fragen: Was mache ich hier? Was ist mein Antrieb? Was bedeutet mir eigentlich etwas? Die Autorin lässt in ihrem geschickten Plot in zwei verschiedenen Zeitebenen die Motive, die hinter allem stecken, deutlicher und deutlicher hervortreten: Familie und Geld.
Nun ist Lucy Clarke keine große Stylistin. Das Buch liest sich manchmal wie die große Phrasenparade. Da macht sich Unbehagen in den Gedanken breit, Rucksäcke werden zigfach "gehievt", heiße Tränen rinnen über die Wangen, das Blut gefriert in den Adern. Rutscht auch das Herz in die Hose? Ich kann es nicht beschwören, bin aber fast ganz sicher, dass die Formulierung auch vorkommt. Ohne solche Fehlgriffe wäre das Das Haus, das in den Wellen verschwand noch besser.
Montag, 15. Juli 2019
Hanns-Josef Ortheil: Was ich liebe und was nicht
Über mich selbst heißt ein Werk des französischen Schriftstellers und Philosophen Roland Barthes (1915-1980). Jenes hat Hanns-Josef Ortheil als Vorbild für Was ich liebe und was nicht. Der Titel sagt eigentlich schon alles. Zusätztlich, so der Autor im Vorwort, soll das Kompendium den Leser anregen, über sich selbst nachzudenken. Funktioniert.
Ortheil ist in sich gegangen und hat im Tagebuch-Stil alles notiert. Der Leser findet in diesem rund 260-seitigen Band Nachdenkereien, Schnipsel, Dialoge, haiku-artige Gedichte, die Ortheil in seiner Kindheit verfasst hat, Listen, nie abgeschickte Briefe - etwa einen Verehrerbrief an die Pianistin Hélène Grimaud oder eine flammende Liebeserklärung an die ZDF-Börsenreporterin Sina Mainitz, an der Ortheil "etwas freundlich Hessisches, eine nicht zu übersehende Goethe-Essenz" preist.
Der Autor, Feuilletonist und Pianist Ortheil sinniert über über "sein Stück Land", das kein eingezäunter, enger Garten, sondern ein kleines Anwesen sei:
"Das Gras, die Bäume, die Sträucher und die mitten auf diesem Stück Land stehenden alten Gartenhäuser aus Holz kommen mir oft so vor, als wären sie ein fremdes, fernes, Territorium. Sie scheinen nicht zu einer bestimmten deutschen Region, sondern zu weiteren, vielleicht sogar globalen Zusammenhängen zu gehören."
Er liebt Zugfahren und schwärmt von "Epiphanien der Stille" in voll besetzten Zügen. Er beschreibt das Hochgefühl, über die Wolken in die Sonne zu fliegen. Er erklärt, warum er Japan liebt, obwohl er noch nie dort war und wohl nicht hinfliegen wird. Es schreibt vom "altjapanischen" Schauen, das sich auf die geschauten Bilder legt und sie langsam ins Nervensystem des Betrachtershinüberwandern lässt (eine Anspielung auf Barthes).
Ortheil, so wird im angenehmer Plauderton ironisch und selbstironisch deutlich, ist größtenteils hochzufrieden mit seinem Leben, seinen Ritualen, zu denen bewusstes Radio hören (übrigens auch eine meiner Leidenschaften) gehört. Ebenso wie gutes Essen - mit Freunden oder auch alleine und mit Buch. Der Faszination von Essen, Trinken, Genießen widmet Ortheil seine ganze Faszination und Hingabe.
Und er breitet seine Visionen aus - von der völlig umgekrempelten, zeitgemäßen Opernaufführung (große Opern nur noch im Freien) und der idealen Gartenwirtschaft über den Hängen von Stuttgart.
Was der Autor nicht mag, darf nicht fehlen: Wörter wie Herangehensweise, zeitnah, Preis-Leistungs-Verhältnis beispielsweise. Manchmal ist das liebenswert versnobt. Mitunter geriert sich der Herr auch etwas nörglerisch und weinerlich, wenn er die Frühstücksgäste im Hotel und Hintergrundmusik im Restaurant sowie - mehrmals - Menschen, die krachend in Äpfel beißen, kritisiert.
Aber das ist auch schon alles. Wir müssen uns Hanns-Josef Ortheil als einen glücklichen Menschen vostellen.
Ortheil ist in sich gegangen und hat im Tagebuch-Stil alles notiert. Der Leser findet in diesem rund 260-seitigen Band Nachdenkereien, Schnipsel, Dialoge, haiku-artige Gedichte, die Ortheil in seiner Kindheit verfasst hat, Listen, nie abgeschickte Briefe - etwa einen Verehrerbrief an die Pianistin Hélène Grimaud oder eine flammende Liebeserklärung an die ZDF-Börsenreporterin Sina Mainitz, an der Ortheil "etwas freundlich Hessisches, eine nicht zu übersehende Goethe-Essenz" preist.
Der Autor, Feuilletonist und Pianist Ortheil sinniert über über "sein Stück Land", das kein eingezäunter, enger Garten, sondern ein kleines Anwesen sei:
"Das Gras, die Bäume, die Sträucher und die mitten auf diesem Stück Land stehenden alten Gartenhäuser aus Holz kommen mir oft so vor, als wären sie ein fremdes, fernes, Territorium. Sie scheinen nicht zu einer bestimmten deutschen Region, sondern zu weiteren, vielleicht sogar globalen Zusammenhängen zu gehören."
Er liebt Zugfahren und schwärmt von "Epiphanien der Stille" in voll besetzten Zügen. Er beschreibt das Hochgefühl, über die Wolken in die Sonne zu fliegen. Er erklärt, warum er Japan liebt, obwohl er noch nie dort war und wohl nicht hinfliegen wird. Es schreibt vom "altjapanischen" Schauen, das sich auf die geschauten Bilder legt und sie langsam ins Nervensystem des Betrachtershinüberwandern lässt (eine Anspielung auf Barthes).
Ortheil, so wird im angenehmer Plauderton ironisch und selbstironisch deutlich, ist größtenteils hochzufrieden mit seinem Leben, seinen Ritualen, zu denen bewusstes Radio hören (übrigens auch eine meiner Leidenschaften) gehört. Ebenso wie gutes Essen - mit Freunden oder auch alleine und mit Buch. Der Faszination von Essen, Trinken, Genießen widmet Ortheil seine ganze Faszination und Hingabe.
Und er breitet seine Visionen aus - von der völlig umgekrempelten, zeitgemäßen Opernaufführung (große Opern nur noch im Freien) und der idealen Gartenwirtschaft über den Hängen von Stuttgart.
Was der Autor nicht mag, darf nicht fehlen: Wörter wie Herangehensweise, zeitnah, Preis-Leistungs-Verhältnis beispielsweise. Manchmal ist das liebenswert versnobt. Mitunter geriert sich der Herr auch etwas nörglerisch und weinerlich, wenn er die Frühstücksgäste im Hotel und Hintergrundmusik im Restaurant sowie - mehrmals - Menschen, die krachend in Äpfel beißen, kritisiert.
Aber das ist auch schon alles. Wir müssen uns Hanns-Josef Ortheil als einen glücklichen Menschen vostellen.
Samstag, 13. Juli 2019
Jan Heidtmann: Internet abschalten
Weg mit dem Teufelszeug! Wie schön könnte doch die Welt sein ohne dieses... aber tja.
Es ist schon paradox: Ohne dieses Internet würde schon mal keiner meiner Gedanken nach außen dringen. Trotzdem. Jan Heidtmann hat natürlich Recht in seiner rund 50-seitigen Streitschrift, die den Untertitel "Das Digitale frisst uns auf" trägt.
Das "Internet selbst hat sich gegen die Menschheit gewendet", findet Süddeutsche-Redakteur Heidtmann und rennt offene Türen ein. Bei fast allen von uns, würde ich sagen. Oder? Er zählt auf, was wir eigentlich wissen: dass wir gefangen sind im Netz mit seinen undurchsichtigen Algorithmen, seiner von wenigen Konzernen beherrschten Struktur, seiner Datensammelhabgier, seiner undemokratischen und unsympathischen Organisation. Wer hat sie nicht, die lichten Momente, in denen er wünscht: Könnte man das Ding doch abschalten.
Stattdessen spielen wir das Spiel mit. Weil, wie der Autor selbst im Schlusskapitel zugibt, das Internet "einfach zu gut" ist. Weil es uns beispielsweise Kontakte mit echten, realen Menschen ermöglicht. Und so nehmen wir in Kauf, dass unsere Bewegungen verfolgt und gespeichert werden, dass die versprochene Vielfalt längst einem massen- und algorithmenkompatiblen Einheitskommerz gewichen ist, dass Vereinfachung und verrohter Holzhammer-Diskurs (siehe Donald Trump) triumphieren. Und finden nichts dabei, uns selbst ausbeuten zu lassen: "Die Träger der Internetwirtschaft, sie sind Schmarotzer, die sich auf Kosten der Gesellschaft bereichern."
Heidtmann argumentiert stringent und klar. Sein Essay ist wunderbar einseitig, oft pauschal. Damit entfaltet er eine wesentlich größere Wucht als etwa Internet - Segen oder Fluch vor sieben Jahren.
Lösung präsentiert Heidtmann keine. Er schlägt keinen großen Wurf - es muss ja nicht gleich das Abschalten sein - vor, sondern lobt im Schlusskapitel einzelne Schritte der Politik hin zu mehr Datenschutz und Wettbewerb: Datenschutzgrundverordnung, EU-Urheberrecht, Kartellstrafen für Google & Co. Kleine Schritte, immerhin, aber - und das bemerkt der Autor zu Recht: Späte Reaktionen auf eine Situation, in der die Internetkonzerne längst Fakten geschaffen haben.
Es ist nur ein Anstoß, ein Gedanke - kein Gedankengebäude. Vielleicht regte er zum Weiterdenken an? Ist das Internet so wie es ist, weil es ein Spiegel unserer Zeit, unserer Welt ist? Hat es sich zwangsläufig so entwickeln müssen? Oder nicht? Ist irgendwann in der 50-jährigen Geschichte des Internets etwas schief gelaufen? Was? Und wer schickt den Besen jetzt wieder in die Ecke?
Jan Heidtmann. Internet abschalten. Das Digitale frisst uns auf. Süddeutsche Zeitung Edition 2019. 9,90 Euro
Es ist schon paradox: Ohne dieses Internet würde schon mal keiner meiner Gedanken nach außen dringen. Trotzdem. Jan Heidtmann hat natürlich Recht in seiner rund 50-seitigen Streitschrift, die den Untertitel "Das Digitale frisst uns auf" trägt.
Das "Internet selbst hat sich gegen die Menschheit gewendet", findet Süddeutsche-Redakteur Heidtmann und rennt offene Türen ein. Bei fast allen von uns, würde ich sagen. Oder? Er zählt auf, was wir eigentlich wissen: dass wir gefangen sind im Netz mit seinen undurchsichtigen Algorithmen, seiner von wenigen Konzernen beherrschten Struktur, seiner Datensammelhabgier, seiner undemokratischen und unsympathischen Organisation. Wer hat sie nicht, die lichten Momente, in denen er wünscht: Könnte man das Ding doch abschalten.
Stattdessen spielen wir das Spiel mit. Weil, wie der Autor selbst im Schlusskapitel zugibt, das Internet "einfach zu gut" ist. Weil es uns beispielsweise Kontakte mit echten, realen Menschen ermöglicht. Und so nehmen wir in Kauf, dass unsere Bewegungen verfolgt und gespeichert werden, dass die versprochene Vielfalt längst einem massen- und algorithmenkompatiblen Einheitskommerz gewichen ist, dass Vereinfachung und verrohter Holzhammer-Diskurs (siehe Donald Trump) triumphieren. Und finden nichts dabei, uns selbst ausbeuten zu lassen: "Die Träger der Internetwirtschaft, sie sind Schmarotzer, die sich auf Kosten der Gesellschaft bereichern."
Heidtmann argumentiert stringent und klar. Sein Essay ist wunderbar einseitig, oft pauschal. Damit entfaltet er eine wesentlich größere Wucht als etwa Internet - Segen oder Fluch vor sieben Jahren.
Lösung präsentiert Heidtmann keine. Er schlägt keinen großen Wurf - es muss ja nicht gleich das Abschalten sein - vor, sondern lobt im Schlusskapitel einzelne Schritte der Politik hin zu mehr Datenschutz und Wettbewerb: Datenschutzgrundverordnung, EU-Urheberrecht, Kartellstrafen für Google & Co. Kleine Schritte, immerhin, aber - und das bemerkt der Autor zu Recht: Späte Reaktionen auf eine Situation, in der die Internetkonzerne längst Fakten geschaffen haben.
Es ist nur ein Anstoß, ein Gedanke - kein Gedankengebäude. Vielleicht regte er zum Weiterdenken an? Ist das Internet so wie es ist, weil es ein Spiegel unserer Zeit, unserer Welt ist? Hat es sich zwangsläufig so entwickeln müssen? Oder nicht? Ist irgendwann in der 50-jährigen Geschichte des Internets etwas schief gelaufen? Was? Und wer schickt den Besen jetzt wieder in die Ecke?
Jan Heidtmann. Internet abschalten. Das Digitale frisst uns auf. Süddeutsche Zeitung Edition 2019. 9,90 Euro
Dienstag, 9. Juli 2019
Sidonie Förster-Streffleur: Die Lotosblume vom Hoangho
Warum muss es nur so traurig sein? Dieses bezaubernde Märchenbuch, gedruckt 1947 in Wien und illustriert von Valerian Gillar, erinnert mich an eine Fernsehserie meiner Kindheit: Märchen der Welt - Puppenspiel der kleinen Bühne. Ich mochte diese Geschichten eigentlich nicht. Sie waren so voller todtrauriger Szenen, dass auch ein Happy End nicht mehr tröstete. Die geschnitzten Theaterpuppen (ich glaube, es war eine griechische Produktion) besaßen so schrecklich traurige unveränderliche Gesichtsausdrücke, dass man ihnen die Wendung zum Guten gar nicht abnahm.
So ähnlich geht es mir mit diesem absolut liebevoll gestalteten Buch: Im alten China tritt der Fluss Hoangho über die Ufer und überschwemmt alles Land. Unter den wenigen, die ihre Leben retten können, ist der bis dahin wohlhabende Gutsbesitzer Kuei Li mit seiner Frau Lusung. Auf einem Totenhügel, der über die Fluten hinausragt, bringt Lusung inmitten der Wassermassen ihr Kind zur Welt: Lien Hua - Lotosblüte. Mit einem Boot gelingt der Familie die Flucht, aber in dem Dorf, in das sie fliehen, werden sie nicht glücklich. Keine Arbeit, zu wenig Essen, keine Almosen, es droht ihnen der Hungertod.
In ihrer Not beschließt Lusung das verhungernde Kind auszusetzen: Sie bringt es nicht über das Herz, doch ehe sie das Bündel wieder an sich nehmen kann, sind Piraten zur Stelle, kidnappen sie und das Kind und verkaufen beide in die Sklaverei. Auf der Sklavenplantage schließt sich Mutter und Tochter der Junge Yang an, der von seinen Eltern verkauft wurde. Gemeinsam beginnen die drei eine abenteuerliche Flucht, während der der jungen Lotosblüte immer wieder ihre unfassbare Schönheit zum Verhängnis wird.
Die Sprache dieser Erzählung ist ungemein poetisch. Einfach und klar wie ein geschliffener Edelstein, wenn es um das Wesentliche geht. Ausgeschmückt und prächtig fabulierend, wenn Landschaften, Paläste und Bräuche geschildert werden. Und dramatisch, wenn die drei Flüchtenden in Gefahr sind. Und es gibt ein Happy End. Aber was bleibt, ist Traurigkeit.
So ähnlich geht es mir mit diesem absolut liebevoll gestalteten Buch: Im alten China tritt der Fluss Hoangho über die Ufer und überschwemmt alles Land. Unter den wenigen, die ihre Leben retten können, ist der bis dahin wohlhabende Gutsbesitzer Kuei Li mit seiner Frau Lusung. Auf einem Totenhügel, der über die Fluten hinausragt, bringt Lusung inmitten der Wassermassen ihr Kind zur Welt: Lien Hua - Lotosblüte. Mit einem Boot gelingt der Familie die Flucht, aber in dem Dorf, in das sie fliehen, werden sie nicht glücklich. Keine Arbeit, zu wenig Essen, keine Almosen, es droht ihnen der Hungertod.
In ihrer Not beschließt Lusung das verhungernde Kind auszusetzen: Sie bringt es nicht über das Herz, doch ehe sie das Bündel wieder an sich nehmen kann, sind Piraten zur Stelle, kidnappen sie und das Kind und verkaufen beide in die Sklaverei. Auf der Sklavenplantage schließt sich Mutter und Tochter der Junge Yang an, der von seinen Eltern verkauft wurde. Gemeinsam beginnen die drei eine abenteuerliche Flucht, während der der jungen Lotosblüte immer wieder ihre unfassbare Schönheit zum Verhängnis wird.
Die Sprache dieser Erzählung ist ungemein poetisch. Einfach und klar wie ein geschliffener Edelstein, wenn es um das Wesentliche geht. Ausgeschmückt und prächtig fabulierend, wenn Landschaften, Paläste und Bräuche geschildert werden. Und dramatisch, wenn die drei Flüchtenden in Gefahr sind. Und es gibt ein Happy End. Aber was bleibt, ist Traurigkeit.
Mittwoch, 3. Juli 2019
Jurek Becker: Bronsteins Kinder
Das Faszinierende an diesem Roman ist die präzise, gewählte, mitunter sogar sommerlich-federleichte Sprache, mit der hier über eine Ungeheuerlichkeit berichtet wird. Jurek Becker (1937-1997, Jakob der Lügner), selbst Holocaust-Überlebender, thematisierte 1986 in seinem sechsten Roman, wie die Erinnerung an Naziverbrechen auf Opfer, Täter und die Nachkommen von beiden wirkt.
Ostberlin im Sommer 1973: Der 18-jährige Hans Bronstein steht kurz vor dem Abitur. Er lebt bei seinem Vater, einem jüdischen Überlebenden der NS-Vernichtungslager. Seine wesentlich ältere Schwester Elle wohnt im Heim. Sie, die den Nationalsozialismus elend versteckt bei habgierigen Bauern überlebt hat, ist vom Drang erfasst, scheinbar wahllos und unvermittelt Menschen auf der Straße anzugreifen und ihnen das Gesicht zu zerkratzen.
Hans trifft seine Freundin Martha heimlich in dem Häuschen, das sein Vater außerhalb der Stadt besitzt. Eines Tages trifft er dort ein und wird Zeuge des Unglaublichen: Sein Vater und zwei weitere ehemalige KZ-Insassen haben einen Mann entführt, der früher KZ-Aufseher war. Arnold Heppner heißt er. Hans ergreifen Skrupel - dürfen die drei Männer Selbstjustiz üben, Heppner aus Rache in dem Landhaus quälen, ihn ermorden? Er will mit ihnen reden und erntet nur schroffe Härte. Im Deutschland, einem "minderwertigen Land", umgeben von "würdelosen Menschen" gelte es, das Recht in die Hand zu nehmen, meint der Vater. Dürfen die Opfer andere zu Opfer machen? Soll Hans Heppner selbst befreien?
All das erzählt Hans dem Leser ein Jahr später: Die Zeitebenen, also die Gegenwart und die Zeit der Entführung wechseln einander ab - sie sind jeweils im Präsens und im Präteritum erzählt. Mittlerweile lebt Hans zurückgezogen bei der Familie Marthas, von der er sich entfernt hat und wartet auf seine Zulassung zum Studium. Der Vater ist mittlerweile tot, offiziell hat er einen Herzinfarkt erlitten. Der Ich-Erzähler rollt auf, wie der Tod und alles weitere mit den Ereignissen von damals zusammenhängt: Wie Hans hat der Leser hier eine Menge zu grübeln, zu fragen und zu zweifeln. Große Literatur.
Ostberlin im Sommer 1973: Der 18-jährige Hans Bronstein steht kurz vor dem Abitur. Er lebt bei seinem Vater, einem jüdischen Überlebenden der NS-Vernichtungslager. Seine wesentlich ältere Schwester Elle wohnt im Heim. Sie, die den Nationalsozialismus elend versteckt bei habgierigen Bauern überlebt hat, ist vom Drang erfasst, scheinbar wahllos und unvermittelt Menschen auf der Straße anzugreifen und ihnen das Gesicht zu zerkratzen.
Hans trifft seine Freundin Martha heimlich in dem Häuschen, das sein Vater außerhalb der Stadt besitzt. Eines Tages trifft er dort ein und wird Zeuge des Unglaublichen: Sein Vater und zwei weitere ehemalige KZ-Insassen haben einen Mann entführt, der früher KZ-Aufseher war. Arnold Heppner heißt er. Hans ergreifen Skrupel - dürfen die drei Männer Selbstjustiz üben, Heppner aus Rache in dem Landhaus quälen, ihn ermorden? Er will mit ihnen reden und erntet nur schroffe Härte. Im Deutschland, einem "minderwertigen Land", umgeben von "würdelosen Menschen" gelte es, das Recht in die Hand zu nehmen, meint der Vater. Dürfen die Opfer andere zu Opfer machen? Soll Hans Heppner selbst befreien?
All das erzählt Hans dem Leser ein Jahr später: Die Zeitebenen, also die Gegenwart und die Zeit der Entführung wechseln einander ab - sie sind jeweils im Präsens und im Präteritum erzählt. Mittlerweile lebt Hans zurückgezogen bei der Familie Marthas, von der er sich entfernt hat und wartet auf seine Zulassung zum Studium. Der Vater ist mittlerweile tot, offiziell hat er einen Herzinfarkt erlitten. Der Ich-Erzähler rollt auf, wie der Tod und alles weitere mit den Ereignissen von damals zusammenhängt: Wie Hans hat der Leser hier eine Menge zu grübeln, zu fragen und zu zweifeln. Große Literatur.
Dienstag, 2. Juli 2019
Ellen Barksdale: Der doppelte Monet (Tee? Kaffee? Mord! 1)
Ein perfektes Krimihörbuch für Auto- oder Zugfahrten, Waldläufe, zum Aufräumen oder Kochen. Högschde Konzentration ist da nicht nötig, es reicht auch, wenn man nur die Hälfte mitbekommt - man verliert den Faden dennoch nicht.
Earlsraven: Das ist English Countryside zwischen Cottage-Gärten, Rosenspalieren und Backstein-Reihenhäuschen. Nathalie Ames erbt in dem Dörfchen von ihrer Tante den Pub "The Black Feather". Zum Erbe gehört auch die Notizensammlung ihrer Tante: Diese hat nämlich den Kneipentratsch minutiös protokolliert und mit diesem Material schon so manchen Kriminalfall gelöst - mithilfe der schlaue Köchin Louise, einer ehemalige Agentin, und zum Leidwesen des trotteligen Dorfinspektors, dem die Damen immer einen Schritt voraus waren.
An der Seite von Louise wird nun auch Nathalie zur Ermittlerin. Die Erzählungen einer verschrobenen Dorfbewohnerin, die Kopien wertvoller Kunstwerke zu Hause hat, die ihr angeblich gestohlen und durch andere Kopien vertauscht werden, macht sie hellhörig. Der Fall kann beginnen. Die Frauen stellen Verbindungen her, horchen sich um, entdecken Geheimverstecke und Falltüren.
Klar: Die Dialoge sind mitunter lieblos gestrickt, die Sprache ist mit Klischees vollgepackt, die Handlung voller Redundanzen - kommerzielle Massenproduktion eben. Macht nichts, das Ganze ist auf seine behäbige Art unterhaltsam und spannend konstruiert, hat eine schöne Auflösung, besitzt Flair und macht Laune. Passt schon.
Earlsraven: Das ist English Countryside zwischen Cottage-Gärten, Rosenspalieren und Backstein-Reihenhäuschen. Nathalie Ames erbt in dem Dörfchen von ihrer Tante den Pub "The Black Feather". Zum Erbe gehört auch die Notizensammlung ihrer Tante: Diese hat nämlich den Kneipentratsch minutiös protokolliert und mit diesem Material schon so manchen Kriminalfall gelöst - mithilfe der schlaue Köchin Louise, einer ehemalige Agentin, und zum Leidwesen des trotteligen Dorfinspektors, dem die Damen immer einen Schritt voraus waren.
An der Seite von Louise wird nun auch Nathalie zur Ermittlerin. Die Erzählungen einer verschrobenen Dorfbewohnerin, die Kopien wertvoller Kunstwerke zu Hause hat, die ihr angeblich gestohlen und durch andere Kopien vertauscht werden, macht sie hellhörig. Der Fall kann beginnen. Die Frauen stellen Verbindungen her, horchen sich um, entdecken Geheimverstecke und Falltüren.
Klar: Die Dialoge sind mitunter lieblos gestrickt, die Sprache ist mit Klischees vollgepackt, die Handlung voller Redundanzen - kommerzielle Massenproduktion eben. Macht nichts, das Ganze ist auf seine behäbige Art unterhaltsam und spannend konstruiert, hat eine schöne Auflösung, besitzt Flair und macht Laune. Passt schon.
Dienstag, 11. Juni 2019
Christian Tielmann: Unsterblichkeit ist auch keine Lösung
Dieser Roman hat in meiner Stadt dieses Jahr die Abstimmung zu Nördlingen liest ein Buch gewonnen und ist nun Gegenstand zahlreicher Aktionen. Eine gute Wahl.
Darum geht's: Goethe und Schiller sind zwar unsterbliche Klassiker, werden aber nicht mehr häufig gelesen, weshalb ihr Verleger Cotta den 270-jährigen Goethe und den zehn Jahre jüngeren Schiller zur Lesereise durch den Harz verdonnert. Vor Grundschülern sollen sie dort ihre Werke präsentieren.
Erzählt ist die Reise-Story aus der Sicht des tragikomischen, aber unheimlich sympathischen Helden Goethe. Der Dichterfürst verzweifelt an verständnislosen Achtjährigen und Lehrern, die sich vorlaut einmischen oder aus dem Staub machen und die Schriftsteller lärmenden Schülerhorden überlassen. Dazu kommt die fehlende Wertschätzung durch Cottas arrogante Assistentin, Denkmalschutzbehörden, Politik und Presse. Vom devoten, aber unterbelichteten Adlatus Eckermann und seinen Mailbox-Nachrichten aus Weimar ganz zu schweigen.
Trost verspricht sich der Junggebliebene von seinen Eroberungen. Die er allerdings erst vollbringen muss. Zur Wahl stehen attraktive Buchhändlerinnen oder/und Schulrektorinnen. Doch, o weh: Goethe muss mit ansehen, wie der zwar kranke, aber agilere Schiller nicht nur die Damen, sondern auch die Grundschüler restlos bezaubert. Der Schwabe lässt sich sogar herab, eigens für die Lesereise einen Fantasy-Roman samt Elfen und Einhörnern zu fabrizieren. Egal, wie sehr Goethe sich müht: Der Dichterkollege ist ihm immer eine Schillersche Nasenlänge voraus.
Das alles ist absolut lustig. Tielmann, als Kinder- und Jugendbuchautor ausgezeichnet, trifft den Ton perfekt. Er lässt den Klassiker Goethe zwischen Egozentrik und Selbstzweifel, Tatendrang und Dekadenz, Weltverachtung und Geltungssucht, Dünkel und Selbstironie, Genie und menschlichen Schwächen oszillieren. Vollgepackt mit literarischen und historischen Anspielungen, kommt das Buch mal lässig, mal grotesk daher, und setzt noch einen drauf, wenn der Spaß schon auf die Spitze getrieben ist.
So kehren die Dichter in einem Harz-Kaff mal wieder in ein ranziges, von Altfett triefendes Restaurant ein. Ihr Chef habe ihr das Gasthaus empfohlen, beteuert die begleitende Buchhändlerin Fräulein Huggelmann:
"Goethe mochte sich gar nicht vorstellen, wie viele Kilos dieser Chef wohl auf die Waage bringen würde. Geschmacksknospen hatte der aber garantiert nicht mehr - oder er trieb es mit der Küchenchefin, falls das nicht seine Schwester war. Oder beides."
Darum geht's: Goethe und Schiller sind zwar unsterbliche Klassiker, werden aber nicht mehr häufig gelesen, weshalb ihr Verleger Cotta den 270-jährigen Goethe und den zehn Jahre jüngeren Schiller zur Lesereise durch den Harz verdonnert. Vor Grundschülern sollen sie dort ihre Werke präsentieren.
Erzählt ist die Reise-Story aus der Sicht des tragikomischen, aber unheimlich sympathischen Helden Goethe. Der Dichterfürst verzweifelt an verständnislosen Achtjährigen und Lehrern, die sich vorlaut einmischen oder aus dem Staub machen und die Schriftsteller lärmenden Schülerhorden überlassen. Dazu kommt die fehlende Wertschätzung durch Cottas arrogante Assistentin, Denkmalschutzbehörden, Politik und Presse. Vom devoten, aber unterbelichteten Adlatus Eckermann und seinen Mailbox-Nachrichten aus Weimar ganz zu schweigen.
Trost verspricht sich der Junggebliebene von seinen Eroberungen. Die er allerdings erst vollbringen muss. Zur Wahl stehen attraktive Buchhändlerinnen oder/und Schulrektorinnen. Doch, o weh: Goethe muss mit ansehen, wie der zwar kranke, aber agilere Schiller nicht nur die Damen, sondern auch die Grundschüler restlos bezaubert. Der Schwabe lässt sich sogar herab, eigens für die Lesereise einen Fantasy-Roman samt Elfen und Einhörnern zu fabrizieren. Egal, wie sehr Goethe sich müht: Der Dichterkollege ist ihm immer eine Schillersche Nasenlänge voraus.
Das alles ist absolut lustig. Tielmann, als Kinder- und Jugendbuchautor ausgezeichnet, trifft den Ton perfekt. Er lässt den Klassiker Goethe zwischen Egozentrik und Selbstzweifel, Tatendrang und Dekadenz, Weltverachtung und Geltungssucht, Dünkel und Selbstironie, Genie und menschlichen Schwächen oszillieren. Vollgepackt mit literarischen und historischen Anspielungen, kommt das Buch mal lässig, mal grotesk daher, und setzt noch einen drauf, wenn der Spaß schon auf die Spitze getrieben ist.
So kehren die Dichter in einem Harz-Kaff mal wieder in ein ranziges, von Altfett triefendes Restaurant ein. Ihr Chef habe ihr das Gasthaus empfohlen, beteuert die begleitende Buchhändlerin Fräulein Huggelmann:
"Goethe mochte sich gar nicht vorstellen, wie viele Kilos dieser Chef wohl auf die Waage bringen würde. Geschmacksknospen hatte der aber garantiert nicht mehr - oder er trieb es mit der Küchenchefin, falls das nicht seine Schwester war. Oder beides."
Jane Mount: Bibliophile. An illustrated miscellany
Ein wunder-, wunderbares Buch! Der US-Autorin und Illustratorin Jane Mount ist das Kunststück geglückt, Bibliophilie in bunten Farben zu malen.
Im Vorwort beschreibt die Verfasserin, wie sie um 2008 damit begonnen hat, Bücher zu zeichnen. Dann schuf sie Gemälde von Buchcovern und Bücherregalen, bis sie schließlich dazu überging, für Auftraggeber (meist Bibliophile), Wunsch-Bücherregale mit Lieblingstiteln zu malen. In den vergangenen zehn Jahren habe sie wohl mehr als 1000 solcher Bücherregale gemalt, so Mount - und nun wurde ein Buch daraus.
Und in diesem ist jede Seite ein neuer Genuss. Zu sehen sind die Cover und/oder die Buchrücken ausgewählter Bücher. Die zweiseitigen Kapitel widmen sich Büchern nach Genres, Themengebieten oder Jahrhunderten. Mount hat einen Bücherstapel mit historischen Romanen gemalt und erläutert, stellt die wichtigsten Kochbücher im Bild vor und Bücher über Außerirdische. Aber auch über Sport, Reisen und Abenteuer, über starke Mädchen (Pippi Langstrumpf! Matilda!), thematisiert Bücher die zu TV-Serien wurden, Kult-Klassiker.... und so weiter.
Eigene Seiten widmen sich verschiedenen Ausgaben (bzw. Covergestaltungen) ein- und desselben Buchs, beispielsweise George Orwells 1984. Auf anderen hat Mount die schönsten Buchläden in aller Welt gemalt, oder öffentliche Bücherschränke (darunter ein Bücher-Tauschbaum im schwäbischen Freudenstadt), die Arbeitszimmer großer Dichter, Autorenporträts, Katzen in Buchläden, Haustiere von Schriftstellern, die Plattencover von Songs über Bücher...
Es gibt illustrierte Lesetipps von Buchhändlern, Verlagsprofis und Journalisten. Dazu auch noch Buch-Rätsel. Voilà: das Rundum-Wihlfühlprogramm für Bibliophile.
Angemerkt werden muss: Es ist fast ausschließlich anglo-amerikanische Literatur, die die Autorin vorstellt. Danz selten finden sich französische oder russische Klassiker, noch seltener Deutsch- oder Spanischsprachiges. In deutscher Sprache gibt's immerhin Werke von Goethe, Zweig, Kafka, Rilke W. G. Sebald, aber (unter "Nature & Animals") auch Peter Wohllebens Das geheime Leben der Bäume. Ansonsten bietet dieser aufwendig gestaltete Band viel Platz zum Schwelgen in Bücherseligkeit, aber auch genauso viele Leseanregungen.
Gleich der erste Satz lautet nämlich: „The goal of this book is to triple the size of your To Be Read pile.“ Ziel erreicht!
Im Vorwort beschreibt die Verfasserin, wie sie um 2008 damit begonnen hat, Bücher zu zeichnen. Dann schuf sie Gemälde von Buchcovern und Bücherregalen, bis sie schließlich dazu überging, für Auftraggeber (meist Bibliophile), Wunsch-Bücherregale mit Lieblingstiteln zu malen. In den vergangenen zehn Jahren habe sie wohl mehr als 1000 solcher Bücherregale gemalt, so Mount - und nun wurde ein Buch daraus.
Und in diesem ist jede Seite ein neuer Genuss. Zu sehen sind die Cover und/oder die Buchrücken ausgewählter Bücher. Die zweiseitigen Kapitel widmen sich Büchern nach Genres, Themengebieten oder Jahrhunderten. Mount hat einen Bücherstapel mit historischen Romanen gemalt und erläutert, stellt die wichtigsten Kochbücher im Bild vor und Bücher über Außerirdische. Aber auch über Sport, Reisen und Abenteuer, über starke Mädchen (Pippi Langstrumpf! Matilda!), thematisiert Bücher die zu TV-Serien wurden, Kult-Klassiker.... und so weiter.
Eigene Seiten widmen sich verschiedenen Ausgaben (bzw. Covergestaltungen) ein- und desselben Buchs, beispielsweise George Orwells 1984. Auf anderen hat Mount die schönsten Buchläden in aller Welt gemalt, oder öffentliche Bücherschränke (darunter ein Bücher-Tauschbaum im schwäbischen Freudenstadt), die Arbeitszimmer großer Dichter, Autorenporträts, Katzen in Buchläden, Haustiere von Schriftstellern, die Plattencover von Songs über Bücher...
Es gibt illustrierte Lesetipps von Buchhändlern, Verlagsprofis und Journalisten. Dazu auch noch Buch-Rätsel. Voilà: das Rundum-Wihlfühlprogramm für Bibliophile.
Angemerkt werden muss: Es ist fast ausschließlich anglo-amerikanische Literatur, die die Autorin vorstellt. Danz selten finden sich französische oder russische Klassiker, noch seltener Deutsch- oder Spanischsprachiges. In deutscher Sprache gibt's immerhin Werke von Goethe, Zweig, Kafka, Rilke W. G. Sebald, aber (unter "Nature & Animals") auch Peter Wohllebens Das geheime Leben der Bäume. Ansonsten bietet dieser aufwendig gestaltete Band viel Platz zum Schwelgen in Bücherseligkeit, aber auch genauso viele Leseanregungen.
Gleich der erste Satz lautet nämlich: „The goal of this book is to triple the size of your To Be Read pile.“ Ziel erreicht!
Donnerstag, 9. Mai 2019
Wayne B. Gooderham: Dedicated to...
Dieses hübsche Buch versammelt Widmungen - und zwar nicht Autorenwidmungen, also signierte Ausgaben - sondern Gedanken, die Buchverschenker den Beschenkten auf den Schmutztitelseiten hinterlassen haben. Autor Wayne Gooderham beschreibt sich im Vorwort als einen Sammler, der gebrauchte Bücher kaufte und so viele dieser Widmungen darin fand, dass er schließlich ein Sammelgebiet daraus machte. Abgebildet sind die Buchcover und die jeweiligen Widmungen - wo sie allzu unleserlich geraten sind, finden sie sich zusätzlich säuberlich gedruckt.
Das Gros dieser Botschaften war zunächst einmal völlig privat und ganz sicher nicht für Dritte bestimmt. Obwohl in den Sprüchlein mitunter sogar ausdrücklich davor gewarnt wird, das Buch zu verlieren oder wegzugeben...
"If this book should ever roam, box its ears an send it home."
... wurde es letztlich doch auf die Reise geschickt und landete im Antiquariat oder auf dem Flohmarkt. Solche Einträge, ob gekritzelt oder in Schönschrift, machen den Mehrwehrt eines Buches aus. Neben Autor, Verleger, Lektor, Drucker, Buchgestalter und Buchhändler sind zwei weitere Personen an der Enstehung und damit der Persönlichkeitsentwicklung des Buches beteiligt: der Schenker und der Leser. Wieder so eine magische Sache, die mit der Digitalisierung des Mediums Buch verloren geht.
Oft erzählen die Einträge ganze Geschichten. Words (Les mots) von Jean Paul Sartre schenkt eine Hetty ihrer Mutter und mahnt diese, es sorgfältig und ohne Vorurteile bis zum Schluss zu lesen. Manchmal passt die Botschaft so gar nicht zum Buch in dem sie steckt: So verbirgt das Kompendium mit dem prosaischen Titel Embedded Autonomy. States of an industrial transformation eine flammende, poetische Liebeserklärung auf dem Vorsatz.
Manches dagegen passt beängstigend gut zusammen. ln der Shooter's Bible. The world's Standard firearms reference book widmet Daniel dem beschenkten Matt, das brutale Filmzitat aus Taxi Driver mit Robert de Niro: "One day a real rain will come and wash all the scum of the streets."
Neuigkeiten, Dank, Wünsche, Skizzen, Karikaturen, eigene Gedichte, fremde Zitate, Erklärungen zum jeweiligen Buch, Gebrauchsanweisungen, wie es zu lesen oder verstehen ist, manchmal auch Warnungen davor. Das Genre kennt keine Grenzen. Manches ist ironisch, boshaft, sogar beleidigend: „from a selfish old slag to a fat lazy old cow" in Londoners von Celina Fox.
Bisweilen ist das Gedruckte mit einbezogen: Aus der Verlagsangabe Fourth Estate wird "Your fourth dimension lover". Manches bleibt rätselhaft. In den Bildband Love Goddesses of the Movies schrieb jemand "You satisfied my hunger". Ausnahmsweise finden sich auch Nachrichten des Besitzers und Lesers an sich selbst, der diese Botschaften liest, wenn er den Band später wieder zur Hand nimmt. "I'm quite bewildered by it" steht da über A Severed Head von Iris Murdoch. Dem Band Unemployment and Plenty wurde eine Wutrede über Margaret Thatcher hinzugefügt.
Schön ist die Widmung in einem Charlie-Brown-Buch. Sie lautet schlicht und einfach: "I love you"
Das darf zum Schluss nicht fehlen: Natürlich habe ich dieses Buch selbst gebraucht (in einem Oxfam Shop) gekauft. Und es trägt ebenfalls eine Widmung von Weihnachten 2013 (Ich wusste nicht, ob sie eingedruckt war, aber die Tinte ließ sich verwischen):"To Stan, with love Polly - I could have been pretentious and quoted some ancient sage but I think Willie Nelson said what I want to say well enough ,You were always on my mind'".
Das Gros dieser Botschaften war zunächst einmal völlig privat und ganz sicher nicht für Dritte bestimmt. Obwohl in den Sprüchlein mitunter sogar ausdrücklich davor gewarnt wird, das Buch zu verlieren oder wegzugeben...
"If this book should ever roam, box its ears an send it home."
... wurde es letztlich doch auf die Reise geschickt und landete im Antiquariat oder auf dem Flohmarkt. Solche Einträge, ob gekritzelt oder in Schönschrift, machen den Mehrwehrt eines Buches aus. Neben Autor, Verleger, Lektor, Drucker, Buchgestalter und Buchhändler sind zwei weitere Personen an der Enstehung und damit der Persönlichkeitsentwicklung des Buches beteiligt: der Schenker und der Leser. Wieder so eine magische Sache, die mit der Digitalisierung des Mediums Buch verloren geht.
Oft erzählen die Einträge ganze Geschichten. Words (Les mots) von Jean Paul Sartre schenkt eine Hetty ihrer Mutter und mahnt diese, es sorgfältig und ohne Vorurteile bis zum Schluss zu lesen. Manchmal passt die Botschaft so gar nicht zum Buch in dem sie steckt: So verbirgt das Kompendium mit dem prosaischen Titel Embedded Autonomy. States of an industrial transformation eine flammende, poetische Liebeserklärung auf dem Vorsatz.
Manches dagegen passt beängstigend gut zusammen. ln der Shooter's Bible. The world's Standard firearms reference book widmet Daniel dem beschenkten Matt, das brutale Filmzitat aus Taxi Driver mit Robert de Niro: "One day a real rain will come and wash all the scum of the streets."
Neuigkeiten, Dank, Wünsche, Skizzen, Karikaturen, eigene Gedichte, fremde Zitate, Erklärungen zum jeweiligen Buch, Gebrauchsanweisungen, wie es zu lesen oder verstehen ist, manchmal auch Warnungen davor. Das Genre kennt keine Grenzen. Manches ist ironisch, boshaft, sogar beleidigend: „from a selfish old slag to a fat lazy old cow" in Londoners von Celina Fox.
Bisweilen ist das Gedruckte mit einbezogen: Aus der Verlagsangabe Fourth Estate wird "Your fourth dimension lover". Manches bleibt rätselhaft. In den Bildband Love Goddesses of the Movies schrieb jemand "You satisfied my hunger". Ausnahmsweise finden sich auch Nachrichten des Besitzers und Lesers an sich selbst, der diese Botschaften liest, wenn er den Band später wieder zur Hand nimmt. "I'm quite bewildered by it" steht da über A Severed Head von Iris Murdoch. Dem Band Unemployment and Plenty wurde eine Wutrede über Margaret Thatcher hinzugefügt.
Schön ist die Widmung in einem Charlie-Brown-Buch. Sie lautet schlicht und einfach: "I love you"
Das darf zum Schluss nicht fehlen: Natürlich habe ich dieses Buch selbst gebraucht (in einem Oxfam Shop) gekauft. Und es trägt ebenfalls eine Widmung von Weihnachten 2013 (Ich wusste nicht, ob sie eingedruckt war, aber die Tinte ließ sich verwischen):"To Stan, with love Polly - I could have been pretentious and quoted some ancient sage but I think Willie Nelson said what I want to say well enough ,You were always on my mind'".
Sonntag, 5. Mai 2019
Anthony Horowitz: The Word is Murder
Goldene Regel: Wo Anthony Horowitz draufsteht, stecken intelligente, vertrackte, doppelbödige Krimis drin, die so spannend sind, dass man sie von der ersten bis zur letzen Seite fressen möchte. So auch The Word is Murder, eine Detektivgeschichte aus dem London der Jetzt-Zeit. Wie in Die Morde von Pye Hall thematisiert der Autor den Prozess des Krimi-Schreibens selbst, spielt mit verschiedenen Ebenen und führt den Leser fies in die Irre. Unzählige Shakespeare-Zitate und Anspielungen zeigen nur zu deutlich, dass wir uns hier in die magische Welt des Theaters begeben.
Hauptfigur ist der Detektiv Daniel Hawthorne, ein ziemlich unsympathischer, schroffer, homophober und unsozialer Ex-Polizist, den sein früherer Arbeitgeber Scotland Yard wegen seines besonderen Riechers bei besonders kniffligen Fällen hinzuzieht. Und da ist sein ahnungsloser, unbedarfter und rechtschaffener Sidekick, der Hawthorne bewundern darf, aber sonst den Mund halten soll und natürlich auf jede zwingende Schlussfolgerung viel, viel später stößt als der Leser. Das klingt nach Dr. Watson oder Hutchinson Hatch, aber es ist (und das ist neu): der Schriftsteller Anthony Horowitz selbst.
Horowitz lässt hier tatsächlich sein reales Ich erzählen, von seinen Buchprojekten, der Arbeit mit der Agentin, Aufritten bei Lesefestivals berichten. Der mürrische Hawthorne hat den renommierten Autor als Chronisten gewonnen, der seinem neuesten Fall ein Buch widmen soll: Hawthorne investigates soll es heißen - wenigstens hier setzt sich Horowitz durch, der sonst wenig zu melden hat: The word is murder, heißt das Buch schließlich.
Geschickt verwebt Horowitz Realität (das meiste, was seine eigene Person und ihr Umfeld betrifft) und Fiktion (den ganzen Rest) - und hält dieses Verwirrspiel sogar bis ins die Danksagungen am Schluss des Buches durch. Herrlich, wie Hawthorne mitten in ein vielversprechendes Treffen Horowitz' mit Steven Spielberg und Peter Jackson platzt und so dessen Karriere als Kino-Autor nachhaltig beschädigt.
Aber der Fall hat Vorrang: Hawthorne soll herausfinden, wer die Witwe Diana Cowper, die Mutter des erfolgreichen Hollywood-Schauspielers Damian Cowper, stranguliert hat. Pikant: Sechs Stunden vorher hatte Diana Cowper bei einem Bestattungsinstitut die Details für ihre eigene Beerdigung regeln lassen. Und noch einmal zehn Jahre früher hatte Diana Cowper mit dem Auto zwei Kinder überfahren - eines starb, das andere überlebte schwerstbehindert - und Fahrerflucht begangen.
Hawthorne ermittelt und Horowitz versucht nachvollziehen, wie er die Fäden entwirrt, zieht aber meist die falschen Schlüsse. Sehr schön, wie selbstironisch sich der Autor hier als ahnungslos, leicht blasiert und etwas dämlich darstellt. Was die Auflösung des Falls angeht, habe ich immer auf den großen Knalleffekt gewartet, der alles bis dahin Gelesene radikal auf den Kopf stellt. Das hat dieser Krimi zwar nicht zu bieten. Trotzdem ist es ein sehr kniffliger und durchdachter Plot, der bis zum Ende spannend bleibt und zig Aha-Erlebnisse bietet.
Hauptfigur ist der Detektiv Daniel Hawthorne, ein ziemlich unsympathischer, schroffer, homophober und unsozialer Ex-Polizist, den sein früherer Arbeitgeber Scotland Yard wegen seines besonderen Riechers bei besonders kniffligen Fällen hinzuzieht. Und da ist sein ahnungsloser, unbedarfter und rechtschaffener Sidekick, der Hawthorne bewundern darf, aber sonst den Mund halten soll und natürlich auf jede zwingende Schlussfolgerung viel, viel später stößt als der Leser. Das klingt nach Dr. Watson oder Hutchinson Hatch, aber es ist (und das ist neu): der Schriftsteller Anthony Horowitz selbst.
Horowitz lässt hier tatsächlich sein reales Ich erzählen, von seinen Buchprojekten, der Arbeit mit der Agentin, Aufritten bei Lesefestivals berichten. Der mürrische Hawthorne hat den renommierten Autor als Chronisten gewonnen, der seinem neuesten Fall ein Buch widmen soll: Hawthorne investigates soll es heißen - wenigstens hier setzt sich Horowitz durch, der sonst wenig zu melden hat: The word is murder, heißt das Buch schließlich.
Geschickt verwebt Horowitz Realität (das meiste, was seine eigene Person und ihr Umfeld betrifft) und Fiktion (den ganzen Rest) - und hält dieses Verwirrspiel sogar bis ins die Danksagungen am Schluss des Buches durch. Herrlich, wie Hawthorne mitten in ein vielversprechendes Treffen Horowitz' mit Steven Spielberg und Peter Jackson platzt und so dessen Karriere als Kino-Autor nachhaltig beschädigt.
Aber der Fall hat Vorrang: Hawthorne soll herausfinden, wer die Witwe Diana Cowper, die Mutter des erfolgreichen Hollywood-Schauspielers Damian Cowper, stranguliert hat. Pikant: Sechs Stunden vorher hatte Diana Cowper bei einem Bestattungsinstitut die Details für ihre eigene Beerdigung regeln lassen. Und noch einmal zehn Jahre früher hatte Diana Cowper mit dem Auto zwei Kinder überfahren - eines starb, das andere überlebte schwerstbehindert - und Fahrerflucht begangen.
Hawthorne ermittelt und Horowitz versucht nachvollziehen, wie er die Fäden entwirrt, zieht aber meist die falschen Schlüsse. Sehr schön, wie selbstironisch sich der Autor hier als ahnungslos, leicht blasiert und etwas dämlich darstellt. Was die Auflösung des Falls angeht, habe ich immer auf den großen Knalleffekt gewartet, der alles bis dahin Gelesene radikal auf den Kopf stellt. Das hat dieser Krimi zwar nicht zu bieten. Trotzdem ist es ein sehr kniffliger und durchdachter Plot, der bis zum Ende spannend bleibt und zig Aha-Erlebnisse bietet.
Sonntag, 28. April 2019
Charlie Lovett: Der Buchliebhaber
So. Da habe ich nun also einen Liebesroman aus dem Goldmann-Verlag gelesen. Warum? Weil es in diesem Buch um die abenteuerliche Jagd nach einem verschlüsselten Manuskript in einer mittelalterlichen Klosterbibliothek, um einen Kreis von Bibliophilen und um die Artussage geht. Das steht nicht nur im Klappentext, sondern ist wirklich der Fall.
Im fiktiven englischen Ort Barchester lebt der etwa 40-jährige Universitätsdozent, Eigenbrötler, Mittelalterbegeisterte und Büchernarr Arthur Prescott. Arthur arbeitet an einem Kirchenführer zur Kathedrale, die auf dem Grund eines ehemaligen Klosters, gegründet von der heiligen Ewolda, steht. Da taucht die 14 Jahre jüngere US-amerikanische Studentin Bethany auf, die die alten Handschriften der wenig besuchten Kathedralbibliothek im Auftrag eines evangelikalen Milliardärs digitalisieren soll. Arthur und Bethany stellen fest, dass eines der Manuskripte fehlt - womöglich enthält es geheime Informationen zur Klostergründerin Ewolda und vielleicht auch zum Heiligen Gral. Sie machen sich auf die Suche und kommen sich dabei näher.
Es ist schön zu lesen, wie der ehemalige Antiquar und eingefleischte Büchersammler Lovett sein bibliophiles Wissen einwebt. So diskutieren Arthur und seine gleichgesinnten Freunde, die sich zu den Bücherfreunden Barchester zusammengeschlossen haben, ob Sammler die unbeschnittenen Seiten eines uralten Buches mit dem Messer öffnen sollten - schließlich sind Bücher da, um gelesen zu werden - oder sie jungfräulich und verschlossen belassen, um den Sammlerwert zu erhalten: Diese Frage stellt sich tatsächlich jeder Büchersammler irgendwann.
Leser erfahren zudem eine Menge über die Artussage und ihre literarischen Bearbeitungen, allen voran von Thomas Malory und Alfred Tennyson, über verschiedene Theorien zum Heiligen Gral, über Buchherstellung in mittelalterlichen Skriptorien, Einbände, Geheimschriften, den Geruch von Büchern, den Charme von Penguin-Taschenbüchern (…"die Seiten blätterten sich geschmeidig wie Sahne, die aus dem Krug rinnt, und während die meisten alten Taschenbücher irgendwann auseinanderfielen, reiften Penguins."), Kettenbücher, Bibliotheksregale und vieles, vieles mehr. Ein Genuss.
Aber dann finden sich doch immer wieder solche Klöpse:
"Ihm war gar nicht aufgefallen, wie düster der Raum gewesen war, bis Miss Davis ihn mit ihrer Anwesenheit zum Leuchten brachte."
oder auch:
"Die Morgensonne funkelte auf dem Wiesentau, und die Vögel zwitscherten so lieblich wie nie, als Arthur am Zaun lehnte..."
Inwieweit derlei Stilblüten mit der Übersetzung oder dem Lektorat zu tun haben, vermag ich nicht zu beurteilen.
Irgendwie uninspiriert erzählt wirkt auch die Liebesgeschichte, die sich zwischen Arthur und Bethany entspinnt. Die wenigen eingestreuten romantischen Szenen sind relativ nichtssagend und gerade gut, guten Gewissens überblättert zu werden. Fans des Liebesroman-Genres, die der Goldmann-Verlag mit rosa Schrift und Blümchen auf dem Cover zu ködern sucht, dürften enttäuscht sein.
Leider ist es ja so, dass Romane über Bücher und Bibliophile - von wenigen ruhmreichen Ausnahmen abgesehen - meist wenig originell und kreativ sind. Da ist das immerhin ein kleiner Ausreißer nach oben.
Im fiktiven englischen Ort Barchester lebt der etwa 40-jährige Universitätsdozent, Eigenbrötler, Mittelalterbegeisterte und Büchernarr Arthur Prescott. Arthur arbeitet an einem Kirchenführer zur Kathedrale, die auf dem Grund eines ehemaligen Klosters, gegründet von der heiligen Ewolda, steht. Da taucht die 14 Jahre jüngere US-amerikanische Studentin Bethany auf, die die alten Handschriften der wenig besuchten Kathedralbibliothek im Auftrag eines evangelikalen Milliardärs digitalisieren soll. Arthur und Bethany stellen fest, dass eines der Manuskripte fehlt - womöglich enthält es geheime Informationen zur Klostergründerin Ewolda und vielleicht auch zum Heiligen Gral. Sie machen sich auf die Suche und kommen sich dabei näher.
Es ist schön zu lesen, wie der ehemalige Antiquar und eingefleischte Büchersammler Lovett sein bibliophiles Wissen einwebt. So diskutieren Arthur und seine gleichgesinnten Freunde, die sich zu den Bücherfreunden Barchester zusammengeschlossen haben, ob Sammler die unbeschnittenen Seiten eines uralten Buches mit dem Messer öffnen sollten - schließlich sind Bücher da, um gelesen zu werden - oder sie jungfräulich und verschlossen belassen, um den Sammlerwert zu erhalten: Diese Frage stellt sich tatsächlich jeder Büchersammler irgendwann.
Leser erfahren zudem eine Menge über die Artussage und ihre literarischen Bearbeitungen, allen voran von Thomas Malory und Alfred Tennyson, über verschiedene Theorien zum Heiligen Gral, über Buchherstellung in mittelalterlichen Skriptorien, Einbände, Geheimschriften, den Geruch von Büchern, den Charme von Penguin-Taschenbüchern (…"die Seiten blätterten sich geschmeidig wie Sahne, die aus dem Krug rinnt, und während die meisten alten Taschenbücher irgendwann auseinanderfielen, reiften Penguins."), Kettenbücher, Bibliotheksregale und vieles, vieles mehr. Ein Genuss.
Aber dann finden sich doch immer wieder solche Klöpse:
"Ihm war gar nicht aufgefallen, wie düster der Raum gewesen war, bis Miss Davis ihn mit ihrer Anwesenheit zum Leuchten brachte."
oder auch:
"Die Morgensonne funkelte auf dem Wiesentau, und die Vögel zwitscherten so lieblich wie nie, als Arthur am Zaun lehnte..."
Inwieweit derlei Stilblüten mit der Übersetzung oder dem Lektorat zu tun haben, vermag ich nicht zu beurteilen.
Irgendwie uninspiriert erzählt wirkt auch die Liebesgeschichte, die sich zwischen Arthur und Bethany entspinnt. Die wenigen eingestreuten romantischen Szenen sind relativ nichtssagend und gerade gut, guten Gewissens überblättert zu werden. Fans des Liebesroman-Genres, die der Goldmann-Verlag mit rosa Schrift und Blümchen auf dem Cover zu ködern sucht, dürften enttäuscht sein.
Leider ist es ja so, dass Romane über Bücher und Bibliophile - von wenigen ruhmreichen Ausnahmen abgesehen - meist wenig originell und kreativ sind. Da ist das immerhin ein kleiner Ausreißer nach oben.
Mittwoch, 10. April 2019
Ladislav Slivka/Herma Schaper: Der grüne Drache
Dieses wunderliche Märchenbuch, ein Flohmarktfund, erzählt von einem rätselhaften grünen Drachen. Ich konnte nicht herausfinden, ob es in zumindest in Teilen auf ein chinesisches Volksmärchen zurückgeht, tippe aber, dass es komplett der Fantasie des Autors Ladislav Slivka entsprungen ist.
Der Kaiser von China ist neidisch auf den Kaiser von Japan, weil dieser einen siebenköpfigen Drachen besitzt. Lange sucht er nach einem eigenen Drachen, bis ihm ein kleiner Junge sogar ein zwölfköpfiges Exemplar bringt, das schimmert wie der Mond, der sich in einem dunkelgrünen See spiegelt. Unter der Bedingung, dass das Tier weiter mit Kindern spielen darf, überlässt er ihm dem Kaiser. Die missgünstigen Höflinge vertreiben jedoch die Kinder und spannen den Drachen vor die Kutsche. Der lässt sich das nicht gefallen, verspeist Kaiser samt Hofstaat, fällt jedoch der Schwermut anheim. Ein Zauberer heilt ihn erst und verwandelt ihn dann in Porzellan. So gelangt in die Hände des Erzählers, hilft diesem aus Geldnot und sorgt dafür, dass dieser schließlich in einem fliegendes Paket mit einer schönen Prinzessin in eine schöne Zukunft reist.
Das 1959 in München-Aubing verlegte Bilderbuch ist ungemein poetisch, versponnen humorvoll und kindgerecht erzählt. Es regt die Fantasie an. Dazu tragen auch die filigranen und ausdrucksstarken kolorierten Tuschezeichnungen von Illustratorin Herma Schaper bei. Erhältlich ist es vereinzelt über den antiquarischen Buchhandel.
Der Kaiser von China ist neidisch auf den Kaiser von Japan, weil dieser einen siebenköpfigen Drachen besitzt. Lange sucht er nach einem eigenen Drachen, bis ihm ein kleiner Junge sogar ein zwölfköpfiges Exemplar bringt, das schimmert wie der Mond, der sich in einem dunkelgrünen See spiegelt. Unter der Bedingung, dass das Tier weiter mit Kindern spielen darf, überlässt er ihm dem Kaiser. Die missgünstigen Höflinge vertreiben jedoch die Kinder und spannen den Drachen vor die Kutsche. Der lässt sich das nicht gefallen, verspeist Kaiser samt Hofstaat, fällt jedoch der Schwermut anheim. Ein Zauberer heilt ihn erst und verwandelt ihn dann in Porzellan. So gelangt in die Hände des Erzählers, hilft diesem aus Geldnot und sorgt dafür, dass dieser schließlich in einem fliegendes Paket mit einer schönen Prinzessin in eine schöne Zukunft reist.
Das 1959 in München-Aubing verlegte Bilderbuch ist ungemein poetisch, versponnen humorvoll und kindgerecht erzählt. Es regt die Fantasie an. Dazu tragen auch die filigranen und ausdrucksstarken kolorierten Tuschezeichnungen von Illustratorin Herma Schaper bei. Erhältlich ist es vereinzelt über den antiquarischen Buchhandel.
Dienstag, 9. April 2019
John Boyne: Der Junge im gestreiften Pyjama
Der Ire John Boyne, Jahrgang 1971, hat 2006 diesen Roman über den Holocaust veröffentlicht. Er handelt vom neunjährigen Bruno, der mit seiner Familie nach Auschwitz zieht, wo sein Vater Lagerkommandant ist. Trotz Verbots nähert er sich dem Konzentrationslager und schließt Freundschaft mit Schmuel, dem gleichaltrigen „Jungen im gestreiften Pyjama“ auf der anderen Seite des Zauns. Die beiden sehen sich sehr ähnlich und könnten fast verwechselt werden, wenn Bruno nicht viel dicker wäre als Schmuel.
Mit Sicherheit ist dieses Buch irgendwo Schullektüre. Und die Lehrer und Lehrpläne, die das verordnen, haben ja auch Recht. Denn natürlich darf die Beschäftigung mit diesem schrecklichen Teil der Geschichte niemals aufhören. Aber muss das mit einem so eindimensionalen Buch geschehen? Ich beneide diese Schüler nicht. Denn Boyne - so nobel sein Ansinnen sein mag und so wichtig es ist, das Gedenken an Auschwitz immer wieder wach zu rufen - macht es sich zu leicht.
Er hat seinen Helden nämlich bewusst doof gestaltet. Ein tumber Tor, der nicht begreift, was da Ungeheuerliches um ihn herum passiert. Das funktioniert aber so nicht mit einem Neunjährigen, der immer nur von "Aus-wisch" und dem "Furor" redet, von den "schaumigen Getränken", die Erwachsene trinken und so weiter. Und der dann im nächsten Atemzug sagt: „Ist alles relativ, oder? Entfernung, meine ich.“
Hier ist ein Erwachsener, der sich überhaupt nicht in Kinder hineindenken kann. Das nimmt diesem Buch jede Glaubwürdigkeit, es geht einfach nicht auf und deshalb läuft diese gute Handlungsidee um ein unfassbar unmenschliches Geschehen ins Leere. Wahnsinnig schade.
Mit Sicherheit ist dieses Buch irgendwo Schullektüre. Und die Lehrer und Lehrpläne, die das verordnen, haben ja auch Recht. Denn natürlich darf die Beschäftigung mit diesem schrecklichen Teil der Geschichte niemals aufhören. Aber muss das mit einem so eindimensionalen Buch geschehen? Ich beneide diese Schüler nicht. Denn Boyne - so nobel sein Ansinnen sein mag und so wichtig es ist, das Gedenken an Auschwitz immer wieder wach zu rufen - macht es sich zu leicht.
Er hat seinen Helden nämlich bewusst doof gestaltet. Ein tumber Tor, der nicht begreift, was da Ungeheuerliches um ihn herum passiert. Das funktioniert aber so nicht mit einem Neunjährigen, der immer nur von "Aus-wisch" und dem "Furor" redet, von den "schaumigen Getränken", die Erwachsene trinken und so weiter. Und der dann im nächsten Atemzug sagt: „Ist alles relativ, oder? Entfernung, meine ich.“
Hier ist ein Erwachsener, der sich überhaupt nicht in Kinder hineindenken kann. Das nimmt diesem Buch jede Glaubwürdigkeit, es geht einfach nicht auf und deshalb läuft diese gute Handlungsidee um ein unfassbar unmenschliches Geschehen ins Leere. Wahnsinnig schade.
Samstag, 6. April 2019
Emmanuel Pierrat: Les nouveaux cabinets de curiosités
Wunderkammern und Kuriositätenkabinette waren der letzte Schrei in der Renaissancezeit. Gelehrte und Adelige präsentierten ihren Gästen mit Vorliebe Ausgefallenes, Exotisches und Bizarres - von der kostbaren chinesischen Vase bis zum Schrumpfkopf -, um sie staunen und erschauern zu lassen.
Auch heute noch gibt es Kuriositätenkabinette in Privaträumen. Der Autor dieses Bildbandes hat 20 von ihnen ausfindig gemacht. Zwar hat er den Besitzern Anonymität zugesagt, aber die fotografierten Räume verraten doch so viel über die Besitzer. Pierrat streut dazu kurze essayistische Betrachtungen ein.
Einer der Sammler (es sind Männer und Frauen darunter) hat seine Wände, Tische, Schränke und Regale mit Erotica dekoriert, einer mit Devotionalien, die an Verbrechen erinnern, einer mit Diktatorenporträts und -büsten, ein anderer mit vergoldeten Kinderschuhen, dazu immer wieder Gemälde, Fotos, Glasfläschchen in allen Farben, Notizzettel, ausgestopfte Tiere, Schiffsinstrumente, Versteinerungen und Muscheln, eine Opiumliege, sehr oft Masken, Fetische, Statuetten aus Afrika, Ostasien, Ozeanien oder Südamerika. Meistens auch Bücher, in Leder gebunden oder abgelesen, gereiht oder gestapelt, thematisch passend oder kontrastierend.
Viele Fragen kommen auf. Warum sammeln wir? Ist das Sammeln an sich etwas Befriedigendes, oder sammeln wir nicht eigentlich doch nur, um einen neuen, kreativen Kontext zu schaffen, etwas Neues zu kreieren, auszustellen und präsentieren, etwas dokumentieren und verewigen?
„Le cabinet de curiosités peut servir à fantasmer... un monde disparu dans lequel le collectioneur a cru vivre, auquel il aurait appartenu.“
Meistens sind die Kuriositäten ästhetisch arrangiert, manche sind wahre Kunstinstallation, andere bestricken mit überraschenden Kombinationen und Kontexten. Oft ist alles vollgestopft - es sind wahre Wimmelbilder, auf denen das Auge immer wieder Neues entdeckt.
„L‘inventivité est sans cesse mise à l‘épreuve, dès qu‘un nouvel arrivant doit trouver sa place parmi des centaines d‘objets, des milliers de livres, de multiples images sous cadre etc.“
Auffällig, wie schmal der Grat zwischen Kuriositätenkabinett und Messie-Wohnung ist. Wo er verläuft, liegt wahrscheinlich auch im Auge des Betrachters.
Auch heute noch gibt es Kuriositätenkabinette in Privaträumen. Der Autor dieses Bildbandes hat 20 von ihnen ausfindig gemacht. Zwar hat er den Besitzern Anonymität zugesagt, aber die fotografierten Räume verraten doch so viel über die Besitzer. Pierrat streut dazu kurze essayistische Betrachtungen ein.
Einer der Sammler (es sind Männer und Frauen darunter) hat seine Wände, Tische, Schränke und Regale mit Erotica dekoriert, einer mit Devotionalien, die an Verbrechen erinnern, einer mit Diktatorenporträts und -büsten, ein anderer mit vergoldeten Kinderschuhen, dazu immer wieder Gemälde, Fotos, Glasfläschchen in allen Farben, Notizzettel, ausgestopfte Tiere, Schiffsinstrumente, Versteinerungen und Muscheln, eine Opiumliege, sehr oft Masken, Fetische, Statuetten aus Afrika, Ostasien, Ozeanien oder Südamerika. Meistens auch Bücher, in Leder gebunden oder abgelesen, gereiht oder gestapelt, thematisch passend oder kontrastierend.
Viele Fragen kommen auf. Warum sammeln wir? Ist das Sammeln an sich etwas Befriedigendes, oder sammeln wir nicht eigentlich doch nur, um einen neuen, kreativen Kontext zu schaffen, etwas Neues zu kreieren, auszustellen und präsentieren, etwas dokumentieren und verewigen?
„Le cabinet de curiosités peut servir à fantasmer... un monde disparu dans lequel le collectioneur a cru vivre, auquel il aurait appartenu.“
Meistens sind die Kuriositäten ästhetisch arrangiert, manche sind wahre Kunstinstallation, andere bestricken mit überraschenden Kombinationen und Kontexten. Oft ist alles vollgestopft - es sind wahre Wimmelbilder, auf denen das Auge immer wieder Neues entdeckt.
„L‘inventivité est sans cesse mise à l‘épreuve, dès qu‘un nouvel arrivant doit trouver sa place parmi des centaines d‘objets, des milliers de livres, de multiples images sous cadre etc.“
Auffällig, wie schmal der Grat zwischen Kuriositätenkabinett und Messie-Wohnung ist. Wo er verläuft, liegt wahrscheinlich auch im Auge des Betrachters.
Heidi Howcroft: Gartenreiseführer Südwestengland
Auf zu einer Reise in eine andere, gemächlichere Welt, in der es wimmelt von Rhododendron, Magnolien und Kamelien, in Gartenräume, Gartenschluchten, verwunschen zugewucherte Anlagen aus dem 17. Jahrhundert, altehrwürdige Landgüter und neogotische Herrenhäuser, zu Staudenrabatten und Bachläufen, versteckten Skulpturen und Tümpeln, Baumgängen, Pflanzinseln, Natursteinmauern, Geheimverstecken und botanischen Staunerlebnissen. Mit dem neu aufgelegten Gartenreiseführer (erstmals 2011 erschienen) hat die deutschsprachige Engländerin Heidi Howcroft sowohl einen praktischen Reisebegleiter durch Dorset, Somerset, Devon und Cornwall als auch ein Lesejuwel für die Armsessel-Traumreise zu Hause geschaffen.
Letzteres habe ich unternommen. Kompetent, detailgenau und sehr umfassend liest sich das wunderbar von der Autorin bebilderte Buch. Das Register sortiert die 59 besprochenen, öffentlich zugänglichen Gartenanlagen auch thematisch, etwa nach "Gärten mit Schneeglöckchen", "English Country Gardens", "Subtropische Gärten" oder "Gärten mit bedeutenden Kunstwerken". Karten, Infos zu Preisen, Anfahrten und Öffnungszeiten, Routenvorschläge innerhalb der Gärten, Tipps zur Leuchttürmen, malerischen Dörfern und urigen Pubs in der Umgebung - alles da.
Für die Autorin, so schreibt sie im Vorwort, ist der Gartenbesuch "ein unterhaltsamer Ausflug mit Teetrinken, Kuchenkosten, Pflanzenerwerben und Ideensammeln". Für diese liebenswerte Art des Reises oder Fantasiereisens bieten die beschriebenen, liebevoll gestalteten und oft Jahrhunderte alten Gärten die ideale Kulisse. Zum Beispiel der Minack Theatre Garden rund um ein Amphitheater an den Küstenklippen Cornwalls, Pencarrow mit seinem Irrgarten aus Lorbeerhecken oder der urwaldähnliche Lost Garden of Heligan...
Ach ja: Beim Garten von Barrington Court in Somerset ist mir sogleich diese Bemerkung unter "Besonderheit" aufgefallen: "Antiquariat in der Scheune, ein Schlaraffenland für Leseratten, gut sortierte Bücher zu Pauschalpreisen, an der Hauptkasse zu zahlen". Was will man mehr?
Heidi Howcroft: Gartenreiseführer Südwestengland. DVA. 176 Seiten. 19,95 Euro.
Letzteres habe ich unternommen. Kompetent, detailgenau und sehr umfassend liest sich das wunderbar von der Autorin bebilderte Buch. Das Register sortiert die 59 besprochenen, öffentlich zugänglichen Gartenanlagen auch thematisch, etwa nach "Gärten mit Schneeglöckchen", "English Country Gardens", "Subtropische Gärten" oder "Gärten mit bedeutenden Kunstwerken". Karten, Infos zu Preisen, Anfahrten und Öffnungszeiten, Routenvorschläge innerhalb der Gärten, Tipps zur Leuchttürmen, malerischen Dörfern und urigen Pubs in der Umgebung - alles da.
Für die Autorin, so schreibt sie im Vorwort, ist der Gartenbesuch "ein unterhaltsamer Ausflug mit Teetrinken, Kuchenkosten, Pflanzenerwerben und Ideensammeln". Für diese liebenswerte Art des Reises oder Fantasiereisens bieten die beschriebenen, liebevoll gestalteten und oft Jahrhunderte alten Gärten die ideale Kulisse. Zum Beispiel der Minack Theatre Garden rund um ein Amphitheater an den Küstenklippen Cornwalls, Pencarrow mit seinem Irrgarten aus Lorbeerhecken oder der urwaldähnliche Lost Garden of Heligan...
Ach ja: Beim Garten von Barrington Court in Somerset ist mir sogleich diese Bemerkung unter "Besonderheit" aufgefallen: "Antiquariat in der Scheune, ein Schlaraffenland für Leseratten, gut sortierte Bücher zu Pauschalpreisen, an der Hauptkasse zu zahlen". Was will man mehr?
Heidi Howcroft: Gartenreiseführer Südwestengland. DVA. 176 Seiten. 19,95 Euro.
Montag, 1. April 2019
Sebastian Beck/Hans Kratzer: Zeitlang
Bayern in Bildern: Kein Laptop, keine Lederhose, keine Lüftlmalerei. Vom Vorzeige-Autobauer BMW nur die Baustelle für das Logistikzentrum in Wallersdorf: Baumaschinen haben im Dreck vor hohen Betonwänden Furchen hinterlassen. In einem Festzelt posieren nicht strahlende Dirndlträgerinnen, sondern vor halbvollen Tischen ein trotziger Bierzeltboxer mit Bauchansatz.
Der Bildband Zeitlang - Erkundungen im unbekannten Bayern versammelt Nah- und Fernaufnahmen aus allen Teilen des Freistaats. Sie stammen von Sebastian Beck. Er ist Leiter der Bayernredaktion der
Süddeutschen Zeitung, und einer der besten Kenner der bayerischen Landespolitik. Hier
hat er nicht geschrieben, sondern Beobachtungen per Kamera festgehalten.
Die Bilder lassen nicht kalt. Sie sind einen zweiten,
dritten Blick wert. Gerade, weil wir das, was Beck fotografiert hat, oft übergehen
- als Hintergrundrauschen und Kollateralschaden. Menschenleere
Ortsdurchfahrten, uniforme Vorgärten. Die weiße Dorfkapelle direkt neben der fast identisch
gestalteten Doppelgarage, Carports, Solardächer, die wuchtig ein Dorf
erdrücken. Dreimal hinschauen und Traurigkeit, Aufbegehren oder
Resignation verspüren. Ein bisschen erinnert das an den BR-Journalisten Dieter Wieland und
seine mahnenden Fernsehbeiträge in den Achtzigerjahren mit Titeln wie „Grün
kaputt“.
Zu sehen sind das aufgehängte Schlachtschwein, das mit
Plastikplanen bedeckten Spargelfeld, das Verwundete, Verblichene,
Zurückgelassene, aber auch das Wiedergefundene. Vieles hat buchstäblich
bessere Zeiten gesehen. Wie die von Ruß bedeckten Schafkopf-Luschen in einem Aufenthaltsraum des stillgelegten Stahlwerks Maxhütte, Oberpfalz.
Immer wieder fängt Beck maximale Schönheit ein, die zuerst spröde daher kommt. Ein leeres Holzboot auf dem Stoffenrieder
Dorfweiher, Schnee auf dem Lusengipfel, ein Himmel voller Störche, Cranach-Gemälde
im Kleinstadtmuseum.
Schönheit: Vor allem ist ihm das mit den Menschen gelungen. Zwei
Wirtinnen in der Oberpfalz als Herrinnen über eine vollgestopfte Gaststube. Die niederbayerischen Kauffrau, deren Argusaugen kein Ladendieb entgehen wird. Zwei
Schausteller vor ihrer alternden Schiffschaukel („Traumschaukel“). Hochkonzentrierte
Historiendarsteller der Landshuter Hochzeit. Sechzger-Fans in voller Montur - samt
Plastik-Helm. Die versunkene Beterin in Altötting. Der Bildhauer und Autor
Anton Kirchmair, in dessen unfassbarem Blick so ziemlich alles liegt, was Bayern
poetisch macht.
Jedes Bild erzählt eine Geschichte, erzeugt Kino im Kopf,
lässt weiterdenken. Damit die Bilder wirken, sind nicht viele Worte nötig.
Dementsprechend knapp hat der SZ-Journalist Hans
Kratzer seine eingestreuten Texte gehalten. Es sind Kurzessays, die nicht direkt Bezug auf die Fotos nehmen
sondern Gedanken fortspinnen, die beim Betrachten aufkommen.
Einzelne Anekdoten wie von der Einödbäuerin Katharina
Walker, die noch im 20. Jahrhundert ohne Strom, Heizung und fließend Wasser lebte
und die Alpen nur am Horizont, nie aus der Nähe sehen durfte, lassen den großen
Zeitenumbruch erahnen, der Thema dieses Buches ist. Eine Hommage an das urbayerische
Gefühl der Zeitlang fügt sich nahtlos ein.
Ein scharf- und hintersinniges Buch, ein wuchtiger Bildgenuss
– und eine kraftvolle Liebeserklärung an Bayern.
Montag, 18. März 2019
Martin Suter: Allmen und die Erotik
Neues vom meistbesprochenen Autor in diesem Blog. Der fünfte Teil der Serie um den stilvoll verarmenden Kunst-Ermittler Johann Friedrich von Allmen, die leider, leider immer schwächer wird.
Diesmal ist Allmen so abgebrannt, dass er in der Bibliothek der exklusiven literarischen Gesellschaft ein kleines Fabergé-Ei mitgehen lässt. Leider wird er dabei vom Sicherheits-Dienstleister Bill Krähenbühler gefilmt - und erpresst. Krähenbühler zwingt ihn, in ein Lagerhaus einzusteigen und die Erotica-Sammlung eines ehemals umtriebigen, jetzt aber frömmelnden Porzellanhändlers zu stehlen. Der Diebstahl klappt und fortan geht es darum, die Stücke zu verscherbeln.
Leider fehlt diesem Buch schon wieder alles, was einen guten Suter-Krimi ausmacht: Die zwingende Handlung, die unerträglichen Gefahrsituationen und Peinlichkeiten, die unfassbaren Eskapaden des Helden, die faszinierenden Wendungen, die Doppelbödigkeit und die aberwitzige Schlusspointe. Schade. Aber natürlich werde ich auch den sechsten Teil lesen. Vielleicht wird's ja wieder mal so einer.
Diesmal ist Allmen so abgebrannt, dass er in der Bibliothek der exklusiven literarischen Gesellschaft ein kleines Fabergé-Ei mitgehen lässt. Leider wird er dabei vom Sicherheits-Dienstleister Bill Krähenbühler gefilmt - und erpresst. Krähenbühler zwingt ihn, in ein Lagerhaus einzusteigen und die Erotica-Sammlung eines ehemals umtriebigen, jetzt aber frömmelnden Porzellanhändlers zu stehlen. Der Diebstahl klappt und fortan geht es darum, die Stücke zu verscherbeln.
Leider fehlt diesem Buch schon wieder alles, was einen guten Suter-Krimi ausmacht: Die zwingende Handlung, die unerträglichen Gefahrsituationen und Peinlichkeiten, die unfassbaren Eskapaden des Helden, die faszinierenden Wendungen, die Doppelbödigkeit und die aberwitzige Schlusspointe. Schade. Aber natürlich werde ich auch den sechsten Teil lesen. Vielleicht wird's ja wieder mal so einer.
Sonntag, 17. März 2019
Iso Camartin: Die Bibliothek von Pila
Die Grundidee dieses 1994 veröffentlichten Buches könnte von mir sein. Der Schweizer Publizist Iso Camartin hat sich in ein Bauernhaus in Pila zurückgezogen. Das Dorf liegt im Oberengadin auf 1800 Metern Höhe. Im Rucksack trägt er seine Lieblingsbücher, über die er hier in zwölf Essays die Gedanken frei schweifen lässt: Er schaut ihren Hauptfiguren über die Schulter, dringt in die Gedanken der Autoren ein und stellt eigene Überlegungen an.
Es sind allesamt Klassiker. Die Bibel ("das große Wunderbuch der schönen und fesselnden Ungereimtheiten") Dante, Petrarca, Theodor Fontane, Franz Kafka und viele mehr. Der Autor führt durch die Bücher - so wie Vergil den Dichter in der Göttlichen Komödie durch die Bezirke der Hölle führt.
Als Leser des Lesers Camartin ist dieses Vorgehen spannend und unterhaltsam, wenn man die Werke selbst kennt oder vor Jahren gelesen hat und die Lektüre hier nun quasi wiederholt, auffrischt, vertieft. Sehr gut gefiel mir das bei Gogols Die Toten Seelen, dessen unvergleichlich intensive Charaktere Camartin auferstehen lässt - und ihre Doppelgänger in Graubünden aufmarschieren lässt. Anhand der faszinierenden "Augenlehre der Madame Chauchat" aus Thomas Manns Zauberberg lotet Camartin die Untiefen menschlicher Anziehung aus.
Bei Werken, die ich nicht gelesen habe wie etwa Denis Diderots Rameaus Neffe oder Virginia Woolfs Orlando diese Art ist diese Art von Sekundärliteratur schwierig. Wer die zugrundeliegenden Werke nicht kennt, hat Schwierigkeiten, Camartins mitunter frei drehenden Gedanken zu folgen, die sich immer wieder in Verästelungen verlieren und die Geschichten manchmal auch weinterspinnen - und sie schließlich auch noch zur Dorf- und Bergwelt in Pila in Beziehung setzen.
Die Betrachtungen zu Carlo Levis Christus kam nur bis Eboli sind einer der wenigen Fälle, in denen Camartin die Handlung so ausführliche erzählt, dass sie der unkundige Leser nachvollziehen - und sich an den weiterführenden Gedanken erfreuen - kann.
Von jüdischen Gelehrten hat Camartin gelernt: "Wer das Buch liebt, lieb das Leben." Schön ist, was über Das Wunder des Lesens und seine Beziehung zum Leben gesagt wird. Schon eine winzige Bibliothek, die in einen Rucksack passt, ist eine ganze Welt.
"Der Ort, an dem du dich befindest, ist nicht mehr das Bauernhaus mit den zu niedrigen Querbalken (…) Lesend verlierst du deine unmittelbare Lebenswelt, um in eine ganz andere einzudringen. Vom fliegenden Teppich der Erzählung fortgetragen, bist du auf einmal mitten in Paris."
Es sind allesamt Klassiker. Die Bibel ("das große Wunderbuch der schönen und fesselnden Ungereimtheiten") Dante, Petrarca, Theodor Fontane, Franz Kafka und viele mehr. Der Autor führt durch die Bücher - so wie Vergil den Dichter in der Göttlichen Komödie durch die Bezirke der Hölle führt.
Als Leser des Lesers Camartin ist dieses Vorgehen spannend und unterhaltsam, wenn man die Werke selbst kennt oder vor Jahren gelesen hat und die Lektüre hier nun quasi wiederholt, auffrischt, vertieft. Sehr gut gefiel mir das bei Gogols Die Toten Seelen, dessen unvergleichlich intensive Charaktere Camartin auferstehen lässt - und ihre Doppelgänger in Graubünden aufmarschieren lässt. Anhand der faszinierenden "Augenlehre der Madame Chauchat" aus Thomas Manns Zauberberg lotet Camartin die Untiefen menschlicher Anziehung aus.
Bei Werken, die ich nicht gelesen habe wie etwa Denis Diderots Rameaus Neffe oder Virginia Woolfs Orlando diese Art ist diese Art von Sekundärliteratur schwierig. Wer die zugrundeliegenden Werke nicht kennt, hat Schwierigkeiten, Camartins mitunter frei drehenden Gedanken zu folgen, die sich immer wieder in Verästelungen verlieren und die Geschichten manchmal auch weinterspinnen - und sie schließlich auch noch zur Dorf- und Bergwelt in Pila in Beziehung setzen.
Die Betrachtungen zu Carlo Levis Christus kam nur bis Eboli sind einer der wenigen Fälle, in denen Camartin die Handlung so ausführliche erzählt, dass sie der unkundige Leser nachvollziehen - und sich an den weiterführenden Gedanken erfreuen - kann.
Von jüdischen Gelehrten hat Camartin gelernt: "Wer das Buch liebt, lieb das Leben." Schön ist, was über Das Wunder des Lesens und seine Beziehung zum Leben gesagt wird. Schon eine winzige Bibliothek, die in einen Rucksack passt, ist eine ganze Welt.
"Der Ort, an dem du dich befindest, ist nicht mehr das Bauernhaus mit den zu niedrigen Querbalken (…) Lesend verlierst du deine unmittelbare Lebenswelt, um in eine ganz andere einzudringen. Vom fliegenden Teppich der Erzählung fortgetragen, bist du auf einmal mitten in Paris."
Mittwoch, 13. März 2019
Marc-Uwe Kling: Qualityland
Eine schöne neue Welt hat der Autor der kultigen Känguru-Episoden in diesem Zukunftsroman entworfen. Ich habe der Live-Lesung als Hörbuch gelauscht.
Im Staate Qualityland herrscht totale Technik und damit totale Überwachung und Kontrolle. IT-Konzerne beherrschen mit ihren Maschinen und Algorithmen eine auf Dekadenz getrimmte Menschheit. Wie in Orwells 1984 werden schon die Wörter manipuliert (nur noch Superlative sind erlaubt), wie in Huxleys Schöne neue Welt ist alles auf Wohlfühlen ("Quality" eben) getrimmt. So lange man sich mit dem System arrangiert, ist alles Quality: Das gilt besonders, wenn man zu den Menschen mit hohem Level gehört - dann darf man sogar Ampeln bei Bedarf auf Grün stellen.
Das Level - den Marktwert eines Menschen - stufen Algorithmen herauf oder herunter: Wer Level 9 oder niedriger besitzt, zählt offiziell zu den "Nutzlosen". Einfluss auf diese Algorithmen, die die Partnersuche für die Menschen komplett übernehmen oder Waren aus dem Online-Shop auch ohne Bestellung verschicken, haben Normalsterbliche nicht. Nur John of Us, der menschenähnliche Roboter, der als Präsidentschaftskandidat antritt, kann angeblich mit Algorithmen reden. Johns einziger Gegenkandidat ist ein widerlicher Rechtspopulist. Überhaupt erscheinen die Roboter und Maschinen in diesem Buch durchweg sympathischer (und "menschlicher"?) als die Menschen.
Der Held ist aber dennoch ein Mensch: Peter Arbeitsloser (jeder bzw. jede erhält als Nachnamen jetzt den Beruf von Vater bzw. Mutter zum Zeitpunkt der Zeugung). Peter macht nicht mehr mit. Das ist nun nicht sooo verwunderlich. Denn in solcherlei Romandystopien gibt es anscheinend einen Königsweg bei der Handlung: Winston Smith ist in 1984 der Aussteiger, der sich dem System entziehen will, Mercer ist es in Der Circle.
Peter ist ein Loser auf Level 9, verlassen von seiner Freundin, Inhaber einer Schrottpresse, mit der er ausrangierte, weil defekte Maschinen und Roboter beseitigen soll. Reparieren ist verboten in Qualityland - das Konsumschutzgesetz will es so. Illegalerweise zerstört Peter aber diese fehlerhaften Geräte nicht, sondern beherbergt sie in seinem Keller: Den Kampfroboter mit posttraumatischer Belastungsstörung, die Drohne mit Flugangst, ein sehr känguruähnliches "Quality"-Pad und einige mehr.
Der Konflikt beginnt, als Peter ungefragt ein rosafarbener Delfin-Vibrator zugeschickt wird und sich der Onlineversand TheShop weigert, das unerwünschte Produkt zurückzunehmen: Der Konzern denkt gar nicht daran, einen Fehler seiner Algorithmen einzugestehen und einen Präzedenzfall zu schaffen. Also startet Peter den Aufstand. Mithilfe eines weisen alten Nerds, der unberechenbaren Hackerin Kiki und der Armee aus Schrottrobotern zieht er gegen das Establishment zu Felde. Wie Michael Kohlhaas - Kleists Roman muss für viele Anspielungen herhalten, ebenso wie Kubricks 2001, Asimovs Roboterromane und vieles mehr - kämpft er um sein Recht.
Spaß macht vor allem die stimmige und runde Handlung, deren Schlusspointe - ein gutes Zeichen! - viele Deutungen zulässt. Gestrickt ist sie um Fragen von Fremdbestimmtheit und Manipulation. Machen wir uns freiwillig zu Marionetten von Wirtschaftsinteressen, weil wir uns gerne betrügen lassen? Haben wir überhaupt Interesse an der Kontrolle über unsere eigenen Daten oder siegen Bequemlichkeit und Trägheit immer über den Drang zu Freiheit und Selbstbestimmung? Interessiert diese Freiheit überhaupt irgendjemanden? Klings Buch lässt illusionslos zurück.
Neulich wurde berichtet, dass Facebook Jugendlichen 20 Euro im Monat spendierte, wenn sie dem Konzern freiwillig Einblick in ihre komplette Smartphone-Nutzung gewährten. Spiegel Online kam zu dem ernüchternden Fazit, dass unsere Daten, die uns so kostbar erscheinen (und mit denen wir im Netz ja angeblich "bezahlen") in Wirklichkeit sogar nur einen winzigen Bruchteil dieser 20 Euro wert sind. So richtig wichtig ist der Einzelne nicht.
Zurück zum Hörbuch: Der langjährige Kreuzberger Poetry Slammer Kling ist in seinem Element, wenn er mit hoher Schlagzahl Pointen und Effekte serviert, vieles ist genial, manches ist platt, aber fast alles ist lustig. Klings Vortragsweise macht die Hörbuchversion obendrein zu einem speziellen Vergnügen.
Qualityland wurde in zwei Ausgaben aufgelegt - einer dunklen und einer hellen - die sich aber laut Auskunft des Autors auf seiner Webseite nur in den zwischengeschalten Werbeblöcken unterscheiden. Ich habe nur die "dunkle Version" gehört.
Im Staate Qualityland herrscht totale Technik und damit totale Überwachung und Kontrolle. IT-Konzerne beherrschen mit ihren Maschinen und Algorithmen eine auf Dekadenz getrimmte Menschheit. Wie in Orwells 1984 werden schon die Wörter manipuliert (nur noch Superlative sind erlaubt), wie in Huxleys Schöne neue Welt ist alles auf Wohlfühlen ("Quality" eben) getrimmt. So lange man sich mit dem System arrangiert, ist alles Quality: Das gilt besonders, wenn man zu den Menschen mit hohem Level gehört - dann darf man sogar Ampeln bei Bedarf auf Grün stellen.
Das Level - den Marktwert eines Menschen - stufen Algorithmen herauf oder herunter: Wer Level 9 oder niedriger besitzt, zählt offiziell zu den "Nutzlosen". Einfluss auf diese Algorithmen, die die Partnersuche für die Menschen komplett übernehmen oder Waren aus dem Online-Shop auch ohne Bestellung verschicken, haben Normalsterbliche nicht. Nur John of Us, der menschenähnliche Roboter, der als Präsidentschaftskandidat antritt, kann angeblich mit Algorithmen reden. Johns einziger Gegenkandidat ist ein widerlicher Rechtspopulist. Überhaupt erscheinen die Roboter und Maschinen in diesem Buch durchweg sympathischer (und "menschlicher"?) als die Menschen.
Der Held ist aber dennoch ein Mensch: Peter Arbeitsloser (jeder bzw. jede erhält als Nachnamen jetzt den Beruf von Vater bzw. Mutter zum Zeitpunkt der Zeugung). Peter macht nicht mehr mit. Das ist nun nicht sooo verwunderlich. Denn in solcherlei Romandystopien gibt es anscheinend einen Königsweg bei der Handlung: Winston Smith ist in 1984 der Aussteiger, der sich dem System entziehen will, Mercer ist es in Der Circle.
Peter ist ein Loser auf Level 9, verlassen von seiner Freundin, Inhaber einer Schrottpresse, mit der er ausrangierte, weil defekte Maschinen und Roboter beseitigen soll. Reparieren ist verboten in Qualityland - das Konsumschutzgesetz will es so. Illegalerweise zerstört Peter aber diese fehlerhaften Geräte nicht, sondern beherbergt sie in seinem Keller: Den Kampfroboter mit posttraumatischer Belastungsstörung, die Drohne mit Flugangst, ein sehr känguruähnliches "Quality"-Pad und einige mehr.
Der Konflikt beginnt, als Peter ungefragt ein rosafarbener Delfin-Vibrator zugeschickt wird und sich der Onlineversand TheShop weigert, das unerwünschte Produkt zurückzunehmen: Der Konzern denkt gar nicht daran, einen Fehler seiner Algorithmen einzugestehen und einen Präzedenzfall zu schaffen. Also startet Peter den Aufstand. Mithilfe eines weisen alten Nerds, der unberechenbaren Hackerin Kiki und der Armee aus Schrottrobotern zieht er gegen das Establishment zu Felde. Wie Michael Kohlhaas - Kleists Roman muss für viele Anspielungen herhalten, ebenso wie Kubricks 2001, Asimovs Roboterromane und vieles mehr - kämpft er um sein Recht.
Spaß macht vor allem die stimmige und runde Handlung, deren Schlusspointe - ein gutes Zeichen! - viele Deutungen zulässt. Gestrickt ist sie um Fragen von Fremdbestimmtheit und Manipulation. Machen wir uns freiwillig zu Marionetten von Wirtschaftsinteressen, weil wir uns gerne betrügen lassen? Haben wir überhaupt Interesse an der Kontrolle über unsere eigenen Daten oder siegen Bequemlichkeit und Trägheit immer über den Drang zu Freiheit und Selbstbestimmung? Interessiert diese Freiheit überhaupt irgendjemanden? Klings Buch lässt illusionslos zurück.
Neulich wurde berichtet, dass Facebook Jugendlichen 20 Euro im Monat spendierte, wenn sie dem Konzern freiwillig Einblick in ihre komplette Smartphone-Nutzung gewährten. Spiegel Online kam zu dem ernüchternden Fazit, dass unsere Daten, die uns so kostbar erscheinen (und mit denen wir im Netz ja angeblich "bezahlen") in Wirklichkeit sogar nur einen winzigen Bruchteil dieser 20 Euro wert sind. So richtig wichtig ist der Einzelne nicht.
Zurück zum Hörbuch: Der langjährige Kreuzberger Poetry Slammer Kling ist in seinem Element, wenn er mit hoher Schlagzahl Pointen und Effekte serviert, vieles ist genial, manches ist platt, aber fast alles ist lustig. Klings Vortragsweise macht die Hörbuchversion obendrein zu einem speziellen Vergnügen.
Qualityland wurde in zwei Ausgaben aufgelegt - einer dunklen und einer hellen - die sich aber laut Auskunft des Autors auf seiner Webseite nur in den zwischengeschalten Werbeblöcken unterscheiden. Ich habe nur die "dunkle Version" gehört.
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