Freitag, 13. Juli 2012

Andrew Crumey: Rousseau und die geilen Pelztierchen

Dieser Roman von Andrew Crumey aus dem Jahr 2000 (2003 auf deutsch erschienen) besitzt drei Erzählstränge: Mr. Mee ist ein 86-jähriger Zausel der Jetzt-Zeit, der - ähnlich dem Peter Kien in Canettis Blendung -  weltfremd zwischen seinen Büchern lebt. In einem dieser Bücher stößt er auf die Sekte der Zanthiker, die Feuer für eine Lebensform hielt, und kommt über diese zur geheimnisvollen Enzyklopädie eines gewissen Rosier. Bei seinen Recherchen zu Rosiers Enzyklopädie macht der völlig unbedarfte Mr. Mee erstmals Bekannschaft mit dem Medium Internet und - ganz nebenbei - auch mit dem weiblichen Geschlecht. Zwar verlässt ihn seine treue Haushälterin, doch er lernt die Studentin Catriona kennen, die ihm gegen entsprechende Bezahlung zu ganz neuen körperlichen Erfahrungen verhilft.


Ferrand und Minard, sind zwei Kopisten des 18. Jahrhunderts, der eine übervorsichtig, der andere treudoof. Sie sollen ein obskures Manuskript - eben Rosiers Enzyklopädie - abschreiben. Sie verschusseln die Blätter, werden Zeuge eines Mordes und fliehen aufs Land, wo sie die Bekanntschaft des verschrobenen Jean-Jacques Rousseau machen, in dem sie den Mörder zu erkennen glauben.

Hauptfigur Nummer drei ist der frustrierte Literaturdozent Petrie in der Jetzt-Zeit, ein Experte für Rousseau und Proust, der sich in eine farblose Studentin Luisa verliebt hat und auf einen zweiten Frühling hofft.

Natürlich haben alle drei Stränge miteinander zu tun: Petrie hat ein Buch über Ferrand und Minard geschrieben, mit dem sich Luisa für eine Porno-Website ablichten lässt, auf welche wiederum Mr. Mee stößt.

Einige unverhoffte Wendungen in der Handlung sind sehr schön, manches (wie z. B. der dusselige Mr. Mee und seine Sexabenteuer) ist sehr platt gezeichnet. Wunderbar sind dagegen die Anspielungen auf mathematische Probleme und Paradoxa, die Crumey in die Handlung einstreut, vom Ziegenproblem bis zu Schrödingers Katze.

Nett. Aber wenn im Klappentext steht "Umberto Eco und Lawrence Norfolk, Jorge Luis Borges und Italo Calvino stehen Pate", dann ist das einige Nummern zu hoch gegriffen.

Donnerstag, 12. Juli 2012

Pierre Kretz: Der Seelenhüter

Ein kauziger Eigenbrötler ist der Ich-Erzähler in Pierre Kretz‘ Elsass-Roman „Der Seelenhüter“. Frau und Sohn haben ihn nach einem Suff-Unfall verlassen, zur Außenwelt pflegt er außer Besuchen beim Psychotherapeuten keinen Kontakt. Eingeigelt in seinem heruntergekommenen Elternhaus im Nest Heimsdorf lebt er im Keller – dort, wo im Elsass guter Wein reifen kann, wenn man ihm Zeit und Ruhe lässt. 
Ruhe aber hat dieser Einsiedler keine, weil ihn die Geister der Vergangenheit bestürmen: Der Vater im Weltkrieg in Russland gefallen, die Mutter in Bombennächten irrsinnig geworden. Verwandte, Nachbarn und Vorfahren, die in Kriegen verheizt, von wechselnden Machthabern umerzogen und schikaniert wurden. Überzeugt von der „historischen Dimension jedes Menschen“ lebt der Eremit nur mehr in der Vergangenheit und betreibt „Forschungen“.
Heimsdorf und seine Gespenster hindern ihn daran, die Sonne zu sehen und nehmen in seinem Kopf überhand. In seinem feuchten Kellerloch hat er an der Wäscheleine Fotos gefallener Elsässer Soldaten aufgehängt. Mal in französischer, mal in deutscher Uniform, waren sie stets auf der Seite der Verlierer. Der Erzähler sieht sich zum Hüter dieser toten Seelen auserkoren, sie sprechen zu ihm, erzählen ihm Geschichten, nehmen ihn in Beschlag und geben ihn nicht frei.
Wir Deutsche kommen in dieser anekdotischen Zeitreise durch die Vergangenheit des Elsass nicht gut weg. Doch was heißt schon wir? Jede Generation in Heimsdorf erlebt die Nachbarn von der anderen Rheinseite komplett anders. „Sen die namliga nem“, hat der Großvater des Erzählers einst gesagt, als die Nazi-Truppen durchs Dorf marschierten: Es sind nicht mehr die Nämlichen, nicht mehr dieselben, mit denen er im Ersten Weltkrieg gekämpft hat. 
Auf nichts ist Verlass, nichts ist gerecht, nichts hat Bestand – das raubt dem Seelenhüter den Verstand. Auch wenn er am Schluss als Karikatur dasteht: In seiner Verstörung ist er ein Spiegel für das malträtierte und gar nicht idyllisch-gemütliche Elsass. Ein überzeugend und humorvoll erzähltes Stück Zeitgeschichte.

Pierre Kretz: Der Seelenhüter. Roman. 208 Seiten. Verlag Klöpfer & Meyer. 18,90 Euro.

Erschienen in Schwäbische Zeitung, 11. 7. 2012