Mittwoch, 29. Oktober 2014

Thomas Kapielski: Je dickens, destojewski!

Wohl dem, der einen Stammtisch hat, an dem er dozieren und schimpfen, philosophieren und schweigen kann. Ernst L. Wuboldt, die Hauptfigur in Thomas Kapielskis „Volumenroman“ „Je dickens, destojewski!“ hat gleich zwei Stammtische: einen in Büttelmanns Kneipe im heimatlichen Spandau, einen in Bamberg beim „Fässla Spezial“. 
Die Stammtischgesellen, darunter Gestalten wie Reformschuhfabrikant Hubert Schwaderlapp, Oberkommissar a.D. Markulf Kräuter und Forstadjunkt Alwin Ortmann, trinken gerne. Dabei erörtern sie alles, was von Belang ist: Zeit und Ewigkeit, Zahngesundheit und Geschlechtskrankheit, Peter Kraus und Justin Bieber, Mathematik und Forstwirtschaft.

Und Wuboldt ist mittendrin, fühlt sich zu Hause, wenn er das Reich des gepflegten Rausches betritt: „In hellbraunes Licht getunkt, grüßte das Trinkvolk brummelnd dawider.“ Er nimmt hie und da einen „labsamen Schluck“ und sitzt dabei  „wohnlich da“. Ein perfektes Idyll.

Wäre da nicht der „Pohle“. Das ist der Erzähler, der Wuboldt und alle anderen Figuren erschaffen hat. Dieser Erzähler drangsaliert und piesackt Wuboldt in einem fort, erschafft ihm wie aus dem Nichts eine Ehefrau samt den ungeratenen Söhnen Diego und Domingo, lässt schließlich sogar einen grausamen Mord geschehen.

Kapielskis Roman steckt voller großartiger Kneipen- und Naturpoesie, Weisheiten und Albernheiten, aberwitzigen Wortschöpfungen und Wortwiederentdeckungen. Ein Fest der deutschen Sprache, das Kenner zu schätzen wissen dürften.

Thomas Kapielski: Je dickens, destojewki! Ein Volumenroman. Suhrkamp Verlag. 458 Seiten. 20 Euro.

Erschienen in Schwäbische Zeitung am 28. Oktober 2014

Donnerstag, 16. Oktober 2014

Marion Brasch: Wunderlich fährt nach Norden



Wunderlich lässt sich treiben und trifft nicht gerne Entscheidungen. Als Bildhauer gescheitert, schlägt er sich als Zeichenlehrer durch. Er ist 43, geschieden und hat seit Jahren keinen Kontakt mehr zu seinem Sohn. Am Tag, als seine Freundin Schluss mit ihm macht, erhält Wunderlich eine SMS von „Anonym".


Diese unbekannte Person schickt ihm noch weitere Nachrichten und bringt ihn dazu, in den Zug nach Norden zu steigen und auszubrechen. Auf dieser Reise, die ans Meer führt und Wunderlich mit einer Menge skurriler und liebenswerter Menschen zusammenbringt, sind „Anonym" und dessen SMS sein ständiger Begleiter. „Anonym" ist allwissend und liefert Wunderlich immer wieder ungefragt Details aus der Vergangenheit oder Zukunft von Personen, die Wunderlichs Weg kreuzen.
 

Eine schöne und magische Sommergeschichte, die die Radiomoderatorin Marion Brasch da aufgeschrieben hat. Die Sprache ist klar, knapp und federleicht.

Dass die Erzählung manchmal arg bedeutungsschwanger daher kommt und stilistische Ausrutscher passieren (das Feld mit "verdorrten Sonnenblumen, die deprimiert auf den trockenen Boden starrten und darauf warteten, endlich geerntet zu werden", „die frische Abendluft, die sie mit Marihuana schwängerten", Arme, die „schwer wie Blei" sind), zerstört den insgesamt positiven Eindruck nicht. Es gibt nämlich auch fabelhafte Formulierungen wie die „müden Montagsgestalten", die im Bus hocken.
 
Märchenhaft und übertrieben ist diese Geschichte – wunderlich eben. Allerlei Unwahrscheinliches und Übersinnliches begegnet dem Helden: wie das das leuchtende Blauharz, das Verletzungen heilt, und auch gleich die Erinnerung an die Verletzungen löscht. Vor allem die Erzählweise, die sich allen Figuren behutsam und unvoreingenommen nähert, und sie nicht in Schubladen steckt, lässt staunen und lächeln.
 
So wie die Männchen, die Wunderlichs Reisebekanntschaft Toni – das Mädchen mit den kurzen Stoppelhaaren – zeichnet. Sie bestehen zwar nur aus Strichen, treffen den Charakter der Dargestellten aber immer perfekt.