Montag, 24. November 2014

Dave Eggers: Der Circle

Mae ist 24, intelligent, energiegeladen und tickt noch etwas kindlich. Sie macht Karriere beim Circle, einem Mega-Internetkonzern, der Google, Facebook, Twitter, Apple, Amazon und Paypal vereint und immer weitere Bereiche des menschlichen Lebens vereinnahmt. Das tut er mit Hilfe von Mae und einem Heer jungdynamischer Jünger, die bestens bezahlt und krankenversichert, auf dem kalifornischen Firmencampus in lichtdurchfluteten Büros arbeiten. Mae ist begeistert von dieser glänzenden Welt:

"Außerhalb der Circle-Mauern gab es bloß Lärm und Kampf, Versagen und Dreck. Hier dagegen war alles vollkommen."

Alles schöner, alles sauberer, alles perfekt: Wie bei einer Sekte eben.

"Das Unternehmen hatte so viele Projekte laufen, bot soviel Menschlichkeit und Wohlbefinden, leistete soviel Pionierarbeit an allen Fronten, dass sie allein schon durch ihre Nähe zu den Circlern ein besserer Mensch wurde, da war sie sicher".

Den Menschen verbessern, die Menschheit beglücken, das machen die Circler mit immer neuen Ideen und Produkten: Minikameras an allen erdenklichen Orten der Welt lassen Verbrechen schwinden, Chips, in die Knochen von Kindern eingepflanzt, machen Entführungen unmöglich. Ein Projekt durchleuchtet minutiös die Vergangenheit jedes erdenklichen Menschen und seiner Vorfahren, ein anderes ersetzt politische Wahlen und Paralmente durch transparente Abstimmungen im Circle-Netzwerk.

Unermessliches Heil durch umfassende Transparenz: "Mae, wir wären endlich gezwungen, bessere Menschen zu sein", sagt Circle-Boss Bailey und verdonnert die junge Frau umgehend dazu, sich mit einer Kamera um den Hals auf Schritt und tritt von der Netzgemeinde beobachten zu lassen: Mae macht begeistert mit.

Es geht um nicht weniger, als die Menschen zu ihrem Glück zu zwingen. Wer widerspricht, wird bekehrt - zur Not gewaltsam. Dem Circle steht mit dem Heilsprediger Bailey, dem profitgierigen Stenton und dem weltfremde Entwickler Ty, dem die Kontrolle über seine Erfindungen längst entglitten ist, eine Troika vor, die so realitätsfremd nicht ist. Das gilt auch für die beschriebenen Technologien. Alles wäre bereits heute möglich (und könnte in ähnlicher Form auch so eintreten) - von Science Fiction keine Rede.

Deutlich orientiert sich diese moderne Dystopie an Weltliteratur wie Aldous Huxleys "Schöne Neue Welt" - die totale Kontrolle der Menschheit durch eine kleine Gruppe geschieht hier wie dort zum angeblichen Wohle aller.  Noch augenfälliger sind die Parallelen zu George Orwells totalitärem Polit-Szenario in "1984". Die Parolen, die der Circle ausgibt "Geheimnisse sind Lügen. Teilen ist Heilen. Alles Private ist Diebstahl." ähneln frappierend den Neusprech-Leitideen aus "1984": „Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke."

Von überzeichnet über platt bis peinlich geraten sind in Eggers Roman die meisten der Figuren. Da ist der karrieregeile Unsympath Francis mit seinen extrem frühzeitige Ejakulationen, der für jeden Sex von Mae auf einer Skala von 1 bis 100 gerankt werden will, noch einer der gelungenen.

Aber es ist spannend, die immer weiter greifende Ausbreitung dieser Datenkrake und Maes Weg zwischen Auflehnung und fanatischer Begeisterung  zu verfolgen. Besonders zum Ende hin ist das Buch ein echter Pageturner - ein  Umblätterer. Das liegt auch an den Fragen, die es aufwirft.

Wie kommt es, dass sich die Netz-Öffentlichkeit in unsere Handlungen  schleicht? Was verursacht den  Impuls, ein schönes Erlebnis, einen besuchten Ort, ein Treffen mit Freunden per Handy abzulichten und zu teilen - als hätten sie sonst nicht stattgefunden? Wieso verzichten wir freiwillig oder aus sozialem Druck auf immer mehr Privatsphäre, die immerhin einmal eine große Errungenschaft der Aufklärung war? Woher rührt das grenzenlose Vertrauen die Weisheit des Kollektivs, das letztlich doch von einem Monopolisten gesteuert wird? Wieviel sind Sicherheit und Freiheit, Fortschritt und Fantasie wert? Die Diskussion hat gerade erst begonnen - hoffentlich nicht zu spät.

Mittwoch, 12. November 2014

Charles Lewinsky: Kastelau

 
"Große Zeiten sind ein guter Boden für Geschichten. Die wird man erst schreiben können, wenn die Zeiten wieder klein sind."

"Filmen heißt Lügen."


Im Winter 1944 macht sich ein Filmteam der UFA auf in das oberbayerische Alpendorf Kastelau, um dort einen Durchhaltefilm zu drehen. Auch wenn das gesamte Aufnahmeteam bereits auf dem Weg Opfer eines alliierten Fliegerangriffs wird und dabei auch die komplette Filmausrüstung verloren geht, findet der Dreh statt: Die Schauspieler tun eben so, als würden sie im abgeschiedenen Alpenkaff einen richtigen Film machen - Hauptsache, weit weg vom Berliner Bombenhagel.
 
Als die US-Truppen dann immer näherrücken und die Kapitulation der Nazis unausweichlich ist, kommt Hauptdarsteller Walter Arnold auf die Idee, den Durchhalte-Schmierenkomödie zum Widerstandsfilm umfunktionieren, und ein Streit im Team beginnt, der tödlich endet. Für Walter Arnold ist die Episode in Kastelau der Auftakt zu einer beispiellosen Hollywood-Karriere.
 
Das Buch des Schweizers Charles Lewinsky, der als Drehbuchautor der TV-Sitkom "Fascht e Familie" bekannt wurde, liest sich unterhaltsam: Es gibt jede Menge Kinoluft zu schnuppern. Das Film-Set ist amüsant und detailreich beschrieben und auch die Verschachtelung in mehrere Rahmenhandlungen klappt. Die Collage aus fiktiven Wikipedia-Einträgen, Tagebuchnotizen, wissenschaftlichen Arbeiten, Interview-Mittschnitten, Drehbuchauszügen und Briefen fügt sich zusammen und ergibt mitunter den Eindruck, dass es einige der dargestellten Personen wirklich gegeben hätten: Sie sind alle frei erfunden.
 
Alles in allem hätten dem Buch hundert Seiten weniger nicht geschadet - zumal nach der starken Grundidee mit dem Dreh im hintersten Niemandsland wenige richtig gute Einfälle folgen. Vor allem sind die Figuren recht eindimensional geraten. "Deutsch und doof, das passt ohnehin am besten zusammen", lässt Lewinsky den UFA-Drehbuchautoren Werner Wagenknecht in sein Tagebuch schreiben. Und das sind fast alle der Figuren: doof. Der stiernackige Bilderbuch-Nazi Heckenbichler in der Lederhose, die karrieregeile Maria Maar, die herzensgute Wirtin und gescheiterte Schauspielerin Tiziana Adam mit ihrem arg begrenzten Wortschatz und natürlich der böse Schwule Walter Arnold. Dieses Figurenkabinett ist zu plakativ, um als Satire richtig zu zünden.

Mein Fazit: kein Meisterwerk, aber ein durchaus gelungener, gut recherchierter historischer Roman über glückliche Wendehälse, sture Pechvögel und professionelle Lügner, der UFA-Kino im Kopf erzeugt und deshalb das Lesen lohnt.

Mittwoch, 5. November 2014

Robert Pleyer: Der Satan schläft nie

Im Traum schlägt Satan mit der Rute zu
Sektenaussteiger Robert Pleyer berichtet Erschütterndes über sein Leben bei den Zwölf Stämmen
 
 „,Es tut mir so leid, dass ich gelacht habe’“, fleht ein kleines Mädchen und schaut mich mit großen Augen an. Meine Gefühle duellieren sich. Ich fühle mich miserabel, aber es muss sein – ich hole die Rute hervor.“ Robert Pleyer liest. Er hält inne, schluckt. Zum ersten Mal hat der Mann, der nach 20 Jahren aus der Sekte Zwölf Stämme ausgestiegen ist, öffentlich sein Buch „Der Satan schläft nie“ vorgestellt. Im Donauwörther Buchhaus Greno berichtet er Erschreckendes aus dem Innenleben der Sekte.
Für seinen Ausstieg vor vier Jahren hat er einen hohen Preis bezahlt: Die Mutter seiner vier Kinder hat ihn verlassen und lebt wieder in Klosterzimmern, dem Gutshof der Zwölf Stämme bei Nördlingen. Pleyer selbst hat mit einer anderen Partnerin und den Kindern ein neues Leben im Bayerischen Wald begonnen. Doch was er bei der Sekte erlebt hat, verfolgt ihn in seine Träume: „Der Satan schläft nie“, das haben sie ihm immer wieder eingebläut. Pleyer hat mit seinen Berichten über die Zwölf Stämme den Skandal ins Rollen gebracht. Galten sie vorher als eher skurrile Gemeinschaft altmodischer, bibeltreuer Sonderlinge, so offenbarten seine Schilderungen die dunkle Seite: Von ärztlichen Eingriffen ohne Betäubung, Kinderarbeit und systematischer Kindesmisshandlung ist nun die Rede.

Im September 2013 besetzte die Polizei Klosterzimmern, nahm alle 24 Kinder mit und brachte sie in Pflegefamilien oder Heimen unter. Die Prozesse am Nördlinger Amtsgericht wegen Misshandlungsverdachts laufen auch jetzt noch. Fünf Kinder ließ das Gericht zwischenzeitlich wieder zu ihren Eltern: Sie sind volljährig oder in einem Alter, in dem sie nicht mehr mit Rutenschlägen rechnen müssen. Zwei Kinder rissen im Frühling aus einem Heim aus. Die Polizei hat sie bis heute nicht gefunden. Noch 16 Kinder leben in Pflegefamilien oder Heimen.
Pleyer selbst beschuldigt sich offen als einer derjenigen, die Kinder mit Weidenruten „züchtigten“. „Ich war schockiert über mich selbst“, sagt der 45-Jährige, der eine Gemeinschaft in Stödtlen-Oberbronnen (Ostalbkreis) mit aufbaute und nach dem Umzug der Sekte 2001 nach Klosterzimmern als Lehrer tätig war. In der Regel schlug er die Kinder mehrfach am Tag im Heizungskeller, oft auf Wunsch der eigenen Eltern: Das verlangten die Sektenregeln. Selbst die eigene Tochter wurde Opfer: „Manchmal züchtige ich sie über Stunden, bis ihr Hintern wund ist.“ Es sei darum gegangen, den Willen der Kinder zu brechen.
Von Gewalt und Unterdrückung war keine Rede, als Pleyer mit Anfang 20 zu den Zwölf Stämmen stieß: Harmonie, Hippie-Geist, echten Sinn und Urchristentum glaubte er in einer Gemeinschaft der Sekte in Südfrankreich gefunden zu haben. Er blieb dabei, nannte sich fortan Yathar und unterwarf sich der streng hierarchischen Lebensweise, in der Zucker, Alkohol, Fernsehen, Romane, Sport und Spielsachen verboten sind. Privateigentum gibt es nicht. Staatliche Leistungen der Mitglieder wie Kindergeld kassiert der „Älteste“.

Der US-amerikanische Sektengründer Elbert Eugene Spriggs, geboren 1937, leitete all diese Regeln aus der Bibel ab. Im Mittelpunkt der kruden Lehre steht die Idee vom nahen Endgericht, in dem alleine die Jünger der Zwölf Stämme vom „ewigen Tod“ verschont bleiben. Frauen seien den Männern untertan, Schwarze den Weißen. Homosexuelle müssten „geheilt“ werden. Vom Bibelvers „Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn“ leiten die Zwölf Stämme das Gebot ab, Kinder zu züchtigen.

In Klosterzimmern hatte die Gemeinschaft 2006 vom Freistaat Bayern das Recht erhalten, die eigenen Kinder in einer „privaten Ergänzungsschule“ selbst zu unterrichten. „Der Staat wollte wegen der anstehenden Landtagswahlen keinen Aufruhr und hat das durchgewunken“, glaubt Pleyer. „Als Lehrer ist es ein Traumjob“, sagt der Aussteiger, der einst Sozialarbeit studierte. „Diese Kinder sitzen still und hören zu.“ Allerdings waren die Lehrinhalte ungewöhnlich: „Wörter wie Liebe, Gemeinschaft, Partnerschaft, Ehe und Freundschaft besitzen bei den Zwölf Stämmen eine andere Bedeutung. Selbstständigkeit, Kreativität und Gerechtigkeit sind nicht mehr wichtig.“ Während die Erwachsenen für ein Bopfinger Möbelhaus Küchen montierten und später mit ihrer eigenen Firma Solarpanels installierten, arbeiteten die Kinder auf dem Feld und in der Küche.
Obwohl Pleyer selbst in den Leitungszirkel aufstieg, disziplinierten ihn die rigiden „Ältesten“ immer wieder: Weil er vor der Hochzeit seiner Braut über den Rücken streichelte, durfte er sie sechs Wochen nicht sehen. Das ausgemachte Ziel, „die totale Kapitulation meiner selbst“, habe er nie erreicht. Deshalb kehrte er der Sekte nach einigen Jahren den Rücken – und kehrte bald darauf zurück. Das Leben draußen erschien ihm leer, er hatte kein Geld, keine Ausbildung, wenig soziale Kontakte, keine Hilfestellungen: „Ich hätte damals so ein Buch wie meines gebraucht“, sagt er.
Er ging zurück nach Klosterzimmern, heiratete. Als es ihm unmöglich wurde, die eigenen Kinder immer wieder zu prügeln, überredete er seine Frau – Tochter eines der „Ältesten“ –, nach Berlin zu fliehen. Die Frau ging zurück, Pleyer mit den Kindern später auch. Zur Strafe musste die Familie nun getrennt leben. „Ich war wie ein Aussätziger“, sagt Pleyer.

Vor vier Jahren schließlich die erneute Flucht: Wieder lief die Frau nach kurzer Zeit davon in den Schoß der Sekte, diesmal gab Pleyer auf. Er blieb alleine mit den nun vier Kindern.

Mitglieder der Zwölf Stämme beschreiben Pleyers Darstellungen als „unzutreffend“. In einem Internetblog bezeichnen sie ihn als „Karriereaussteiger“, der die Gemeinschaft seit Jahren „anzuschwärzen und sich zu rächen“ versuche. Wie auch Christian Reip (siehe Interview) mache Pleyer die Gemeinschaft für seine Familientragödie verantwortlich. Mehrfach sind Mitglieder der Zwölf Stämme seit der Razzia öffentlich aufgetreten. Dabei bestritten sie die „Züchtigungen“ nicht, wollen aber von „Schlagen“ nichts wissen. Auch „Misshandlung“ gebe es nicht.

„Sie glauben, als einzige richtig zu handeln“, erklärt Pleyer diesen Widerspruch. Für die „Heiden“ außerhalb der Gemeinschaft werde eine Show abgeliefert. „Wenn man nicht die Wahrheit sagt, heißt das nicht, dass man lügt“, habe sein Schwiegervater ihm einmal gesagt. „Der Druck von außen schweißt sie zusammen.“

Derzeit halte wohl die Tatsache, dass sie nicht über ihre Kinder verfügen können, die Sektenmitglieder davon ab, etwa nach Tschechien auszuwandern. Dort müssten sie mit weniger Kontrolle rechnen. Pleyer hat mittlerweile das alleinige Sorgerecht für die Kinder. Er möchte sich von seiner Frau scheiden lassen. Er ist ihr nicht böse: „Sie denkt, das sei die wahre Liebe: Wenn sie Gott treu ist, wird Gott die Kinder erretten.“ Ab und zu schreibe sie noch Briefe. Von der „babylonischen Gefangenschaft“ sei darin die Rede.

Sein Geld verdient Pleyer mit einem kleinen Imbiss an der Bundesstraße. Er träumt davon, in einer Beratungsstelle Sektenaussteigern zu helfen – und damit auch die eigenen Alpträume zu therapieren. Eine Angst bleibt: „Dass sie meine Kinder entführen.“


Erschienen in Schwäbische Zeitung, 5. November 2014

Interview mit Aussteiger Christian Reip: "Ich habe wahnsinnige Angst, verletzt zu werden"