Das Faszinierende an diesem Roman ist die präzise, gewählte, mitunter sogar sommerlich-federleichte Sprache, mit der hier über eine Ungeheuerlichkeit berichtet wird. Jurek Becker (1937-1997, Jakob der Lügner), selbst Holocaust-Überlebender, thematisierte 1986 in seinem sechsten Roman, wie die Erinnerung an Naziverbrechen auf Opfer, Täter und die Nachkommen von beiden wirkt.
Ostberlin im Sommer 1973: Der 18-jährige Hans Bronstein steht kurz vor dem Abitur. Er lebt bei seinem Vater, einem jüdischen Überlebenden der NS-Vernichtungslager. Seine wesentlich ältere Schwester Elle wohnt im Heim. Sie, die den Nationalsozialismus elend versteckt bei habgierigen Bauern überlebt hat, ist vom Drang erfasst, scheinbar wahllos und unvermittelt Menschen auf der Straße anzugreifen und ihnen das Gesicht zu zerkratzen.
Hans trifft seine Freundin Martha heimlich in dem Häuschen, das sein Vater außerhalb der Stadt besitzt. Eines Tages trifft er dort ein und wird Zeuge des Unglaublichen: Sein Vater und zwei weitere ehemalige KZ-Insassen haben einen Mann entführt, der früher KZ-Aufseher war. Arnold Heppner heißt er. Hans ergreifen Skrupel - dürfen die drei Männer Selbstjustiz üben, Heppner aus Rache in dem Landhaus quälen, ihn ermorden? Er will mit ihnen reden und erntet nur schroffe Härte. Im Deutschland, einem "minderwertigen Land", umgeben von "würdelosen Menschen" gelte es, das Recht in die Hand zu nehmen, meint der Vater. Dürfen die Opfer andere zu Opfer machen? Soll Hans Heppner selbst befreien?
All das erzählt Hans dem Leser ein Jahr später: Die Zeitebenen, also die Gegenwart und die Zeit der Entführung wechseln einander ab - sie sind jeweils im Präsens und im Präteritum erzählt. Mittlerweile lebt Hans zurückgezogen bei der Familie Marthas, von der er sich entfernt hat und wartet auf seine Zulassung zum Studium. Der Vater ist mittlerweile tot, offiziell hat er einen Herzinfarkt erlitten. Der Ich-Erzähler rollt auf, wie der Tod und alles weitere mit den Ereignissen von damals zusammenhängt: Wie Hans hat der Leser hier eine Menge zu grübeln, zu fragen und zu zweifeln. Große Literatur.
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