Donnerstag, 10. Mai 2018

J. J. Abrams/Doug Dorst: S. - Ship of Theseus

Das ist nun mal kein Pageturner ("Umblätterer"?), sondern ein wirkliches Leser-Langzeitprojekt, das Filmregisseur J. J. Abrams (Star Wars, Star Trek) und Autor Doug Dorst gemeinsam geschaffen haben. S. - Ship of Theseus ist ein vielschichtiges literarisches Experiment und gleichzeitig ein echter bibliophiler Schatz.

Das Buch - jeder, der Bücher liebt, weiß es - ist ein magisches Medium. Es ist viel mehr als der Text, der vom Autor geschrieben wurde. Alleine am Text arbeiten Übersetzer, Lektor, Korrektor, Verleger und viele andere mit. Im Buch selbst hinterlassen Drucker, Gestalter, Setzer, Binder, Verlag und Buchhändler ihre Spuren - und natürlich der oder die Vorbesitzer, die im Idealfall sogar Notizen an die Seitenränder gemacht haben. Das macht das Medium Buch über den reinen Text hinaus zu einem interaktiven Gesamtkunstwerk. Bleibt es noch dasselbe, wenn immer mehr Menschen damit interagieren? Dieses Phänomen beschreibt in der Philosophie das Theseus-Paradoxon, auch Schiff des Theseus genannt: Bleibt die Identität eines Dinges gewahrt, wenn immer mehr Einzelteile ausgetauscht werden?

Zunächst ist das Lesen dieses Buches mit großem Schmerz (nur für mich??) verbunden. Der aufwendig gestaltete Schuber muss nämlich aufgeschnitten und damit zerstört werden - da führt kein Weg vorbei. Was dann zwischen den altertümlich bedruckten scheinbar abgegriffenen und in verschiedenen Farben vollgekritzelten Seiten zum Vorschein kommt, sind Ansichtskarten, Briefchen, Visitenkarten, alte Matrizen-Durchschläge, eine Serviette, ein Plan von unterirdischen Gängen und eine Decodierscheibe.

Der Leser findet im einmal aufgeschnittenen Schuber mehrere Geschichten. Zunächst den kafkaesken Roman "Ship of Theseus" des ominösen Autors V. M. Straka um einen Mann, der sein Gedächtnis verloren hat und auf einem Schiff mit zombiehafter Besatzung über die Meere reist. Er weiß nicht, warum er das tut, aber seine Aufgabe ist es, auf der ganzen Welt Agenten eines Waffenkonzerns zu töten. Immerhin kommt er dabei seiner großen Liebe, der rätselhaften Sola, näher.

Ebene zwei: Eine gewisse F. X. Caldeira hat das Werk aus dem Tschechischen ins Englische übersetzt und gibt in zahlreichen Fußnoten (die sich als Geheimcode erweisen) und einem Vorwort Informationen zu V. M. Straka preis: Sie führt die Namen zahlreicher historische Aktivisten an, die Straka gewesen sein könnten. Das letzte Kapitel, das ihr nur lückenhaft übergeben worden sei, habe sie selbst ergänzen müssen, so Caldeira. Wie sich herausstellt: Straka, der für sie unerreichbar blieb, war Caldeiras große Liebe.

Noch eine Ebene: Die scheinbaren Kritzeleien am Rand des Romans und die Zettelchen stammen aus der Jetzt-Zeit, vom Doktoranden Eric und der Studentin Jen. Sie nutzen das einmal liegengelassene Buch und dessen Seitenränder als Postfach für ihre Botschaften, lernen sich kennen, stricken Theorien über Strakas Identität, Caldeira und die geheime Organisation S. und finden nebenbei die Liebe zueinander.

So, und natürlich haben jeder Leser und jede Leserin ihren eigenen Teil beizutragen, nachdem der Schuber aufgeschnitten ist. Schon das Aufschneiden oder Aufreißen kann man auf verschiedene Arten vollziehen - bleibt es dabei noch dasselbe Buch?

S. Ship of Theseus sprengt nicht nur das lineare Erzählen, sondern auch das lineare Lesen. Wie vorgehen? Erst den "Roman" (der allerdings nicht wie ein Roman, sondern wie ein Filmdrehbuch, im Präsens, geschrieben ist) lesen, dann die Fußnoten, dann die Anmerkungen von Eric und Jen an den Rändern? Um aber der Chronologie dieser Anmerkungen zu folgen, müsste man sich an den verschiedenen Handschriften und den Farben der "Stifte" orientieren? Also Vor- und Zurückspringen? Bei mir zumindest lief es auf eine Art zeitgleiches, seitenweises Lesen mit gelegentlichem Rätselknacken und paralleler Internet-Recherche hinaus. Aber das bleibt jedem selbst überlassen.

Spaß macht es in jedem Fall. Und das ist die Hauptsache.

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