Donnerstag, 22. Januar 2015

Lucius Burckhardt: Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft.

Der Schweizer Soziologe Lucius Burckhardt (1925 bis 2003) gilt als Begründer der Spaziergangswissenschaft oder Promenadologie.


Im Mittelpunkt dieser Wissenschaft steht die Frage: Wie nimmt der Spaziergänger Umwelt wahr und konstruiert daraus eine Landschaft? Und wann empfinden wir diese Landschaft als schön? Schon die Fragestellung macht klar: Die Landschaft ist nicht in der Natur der Dinge, sondern in unserem Kopf – wir konstruieren sie aus Umwelteindrücken.


In unserem Kopf ist die Landschaft aber schon vor dem Spaziergang: In Erwartungen und Erinnerungen. Wenn wir eine Landschaft ausmachen, erkennen wir wieder, was Dichter, Maler, Gelehrte, aber auch Erdkundelehrer, Eltern, Großeltern und Kinderbücher uns beigebracht haben. Der Wiesengrund mit Brunnen vor dem Tore, die Heidelandschaft, das schroffe Gebirge, die endlose Wüste.



Räumlich entsteht Landschaft beim Spaziergang während des Weges. Unsere Wahrnehmung schließt heterogene Dinge zu einer Landschaft zusammen und blendet andere aus, sodass wir beim Heimkehren die liebliche Landschaft rühmen, oder aber sagen: Das Ries (der Hunsrück, die Toscana, der Spreewald....) ist auch nicht mehr das, was es einmal war.



Drei Entwicklungen, so führt Burckhardt aus, beeinflussen unsere Landschaftswahrnehmung. Zum einen ist der Unterschied zwischen Stadt und Land aufgehoben: Wir leben heute alle mehr oder weniger in einer Metropole, das Land ist industrialisiert, die Stadt begrünt. Das klassische Landschaftserlebnis aber war immer der Übergang von der Stadt auf das Land. Der Städter sah Landschaft, wenn er zum Spaziergang aus den Mauern heraustrat.



Damit entfällt auch ein zweites Kriterium: Die Interesselosigkeit. „Landschaft (…) ist das Bild, das sich der Städter, der sich die Hände nicht am Boden schmutzig macht, der kein Interesse am Land hat von der landwirtschaftlichen Welt außerhalb der Mauern gemacht hat", so Burckhardt.



Drittens spielt das Verkehrsmittel eine Rolle. Seit der Mensch Gegenden nicht mehr Stück für Stück zu Fuß erwanderte, sondern mit der Eisenbahn ein einzelnes Ziel ansteuerte, musste das komplette Landschaftserlebnis – quasi als Postkartenbild – an diesem einen Zielort vorhanden sein. Diese oft künstlichen Postkartenidyllen inklusive Panoramahotel sind seit der Verbreitung des Autos auch wieder überholt. Die Autoreise unterscheidet sich vom Spaziergang zu Fuß dadurch, dass die Distanzen weiter werden, „viel heterogenere Eindrücke müssen zu viel abstrakteren Ideallandschaften integriert werden“.



Burckhardt führte den Spaziergang auch als Methode ein, um diese Mechanismen zu ergründen. Unter anderem ließ es er eine Gruppe Studenten mit Windschutzscheiben vor den Gesicht durch die Straßen der Stadt gehen, um eine besondere Wahrnehmung zu simulieren.



Viele weitere Gedanken sind in diesem Kompendium angerissen: Über die Entwicklung der Gartenkunst, über die „totale Begärtnerung“, „Funktionalisierung und Hygienisierung“ der Städte, der Burckhardt die Brache und das Prinzip des „kleinsten Eingriffs“ als nutzerfreundliche Alternative entgegenstellt.


Weil „Warum ist Landschaft schön" kein wissenschaftliches Fachbuch, sondern eine Sammlung von Aufsätzen, Vorträgen und Artikeln aus Fachzeitschriften und Sammelbänden ist, gibt es zahllose Doppelungen, die aber auch dafür sorgen, dass sich die Grundgedanken einprägen.


Als Einstieg und Überblick gut geeignet ist der Beitrag „Bergsteigen auf Sylt“  auf den Seiten 306 bis 319. Nikolaus Wyss interviewte Burckhardt darin für das Magazin des Zürcher Tages-Anzeigers im März 1989.

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