Dienstag, 19. August 2014

Angela Bachmair: Wir sind stolz, Zigeuner zu sein

„Wir sind stolz, Zigeuner zu sein", hat die Augsburger Journalistin Angela Bachmair ihr Buch über die Rieser Sinti-Familie Reinhardt genannt. Der Ausspruch stammt von der 70-jährigen Anna Reinhardt, deren Erinnerungen die Autorin aufgezeichnet hat. Im Mittelpunkt steht die oft verdrängte Zeit bis 1945: „Porajmos" heißt auf Romanes „Verschlingen" und steht für die grausame Verfolgung und Ermordung der Sinti und Roma durch die Nationalsozialisten.
 
Die weit verzweigte Familie Reinhardt, die im Ries und in Württemberg zu Hause ist, traf der Nazi-Irrsinn mit Wucht. Sie mussten Schikanen wie „Rassenuntersuchungen" über sich ergehen lassen, wurden nach Polen deportiert und mussten Zwangsarbeit leisten. Familien wurden auseinandergerissen, nicht wenige kamen Konzentrationslagern um. Auch die Rückkehr nach Nördlingen und der Neuanfang war schwer. Im Kampf um Wiedergutmachung stießen die Reinhardts auf Unverständnis und Ablehnung: Oft saßen in den zuständigen Behörden noch die alten Nazischergen wie ein Polizeikommissar, der 1954 über die „angeborene Unsauberkeit der Zigeuner" dozierte.
 
Das Buch berichtet vom Aufenthalt Oberdorf, wo die Reinhardts in Bürgermeister August Hirsch einen ihrer wenigen engagierten Fürsprecher hatte. Aber auch vom großen Zusammenhalt der Familie, die sich mit Altmetallhandel durchschlug und erfolgreiche Fußballer und angesehene Musiker hervor brachte.
 
Bachmairs großes Verdienst ist, die Familiengeschichte vor dem Vergessen bewahrt zu haben. Behutsam, wissenschaftlich genau, geradezu detailversessen zeichnet sie den Lebensweg der Reinhardts nach. Das mit Fußnoten gespickte Werk taugt auch zum Nachschlagen. Bemüht, das Erinnerte einzuordnen, kommentiert Bachmair allerdings vieles, was allein stehen könnte. Das Buch wäre packender, würden Anna Reinhardts erschütternden Erzählungen einfach nur wirken. Wie etwa diese: Als fünfjähriges Mädchen bekommt Anna, eben in Nördlingen angekommen, ihre erste Puppe. Sogleich schneidet sie ihr die Haare kahl: So wie man es im Lager mit ihr selbst gemacht hat. Kommentare wären nicht nötig.
 
Dennoch: ein wichtiges Buch.
 
 
Angela Bachmair: Wir sind stolz, Zigeuner zu sein. Vom Leben und Leiden einer Sinti-Familie. Wißner Verlag. 216 Seiten. 9,80 Euro
 
 
Erschienen in Ipf- und Jagst-Zeitung / Aalener Nachrichten am 20. August 2014.

Sonntag, 10. August 2014

Edgar Hahnewald: Der grüne Film

Es ist nicht so einfach, Landschaft zu beschreiben, ohne auf die immer gleichen Formulierungen zu verfallen. Dieses Wanderbuch von Edgar Hahnewald aus dem Jahr 1920, zeigt wie es geht. Was ein Schreiber alles entdecken kann, wenn er genau hinsieht: Jede Wolke, jedes Kornfeld, jede Pfütze inspiriert diesen Mann zu Wortzaubereinen. 

Beschrieben sind 20 Wanderungen rund um Dresden zu allen Jahreszeiten. Zum Lesen ist es völlig unerheblich, ob man dieses Landschaften kennt oder ob man sie vielleicht niemals zu Gesicht bekommen wird. Sie ist einfach schön, diese Art von Naturpoesie, wie sich auch in alten Reiseführern und frühen Merian-Heften immer wieder auftaucht. 

Natürlich würde die Sprache heute teils als schwülstig und kitschig empfunden. Und vielleicht war sie es damals schon. Na und? Dafür macht sie glücklich und sorgt bei Lesern, die die Natur lieben und gerne wandern für ständige Wiedererkennens-Erlebnisse. 

Obendrein kommt Hahnewalds Sprache fast ganz ohne tote, abgedroschene Bilder aus. Jeder Vergleich passt zur Situation und ruft ein bestimmtes Gefühl, einen Klang, einen Geruch wach. Hier ist alles lebendig: Wege wandern oder schreiten, Häuser ducken sich oder stecken die Köpfe zusammen und flüstern. Blumiger geht es nicht: Wenn Hahnewald beschreibt, mit welchen Finten und Verführungen der verschiedenen Blüten es fertig bringen, Falter und Hummeln anzulocken, sieht man den Oberlehrer in Kniebundhosen vor sich, der seinen Schülern von Pflanze zu Pflanze vorauseilt. Der Autor regt sich auf über allzu akkurat geschnittene Hecken und geschmacklose Gartenzwerge, aber auch über die „Biervandalen“, die johlen und Blütenzweige abreißen. Ja, ja.

Warum gibt es solche Wanderbücher heute nicht mehr? Drängt sich die Natur nicht mehr so auf wie früher und tritt mehr in den Hintergrund? Oder haben wir das Sehen und das Achten auf Kleinigkeiten verlernt? Empfinden wir einen Sonnenaufgang im Nebel oder Herbstgewitter über einem abgeernteten Kornfeld nicht mehr als spektakulär, weil wir von allen Seiten zugedröhnt werden? In jedem Fall finde ich, dass eine solche Herrlichkeit nicht in Vergessenheit geraden darf. Deshalb hier ein paar besonders schöne Stellen: 

„Unter der treuen Aussicht zweier schlanker Kiefern dehnt sich eine Lichtung wohlig in der Sonne.“

„Der Zauber des Laubteppichs wird noch erhöht durch huschende Sonnenlichter, die am goldenen Boden zittern.“

„Hinten im Lichtglast breitet sich die große Stadt, haus an Haus, vom Silbergürtel der Elbe umflossen. Die Türme ragen klar und deutlich aus dem Häusergewoge empor."

„Der Weg verlässt die Enge und tritt hinaus auf lichtfunkelnde Höhen.“

„Auf waldigem Felsthrone träumt das Dorf Coschütz im Sonnenzauber, vom Windberg überwölbt.“

„Es ist ein still beschaulicher Gräbergarten. Aus dem tiefernsten Schatten der Zypressen blickt dich das lenzgläubige Himmelschlüssel fragend an ob du ihm sein freudiges Blühen an dieser Stätte verwehren möchtest."

„Und darüber hinaus blaut der duftige Kranz sonniger Höhen weltenweit.“

„Tiefen Frieden, leuchtende Sonnenfreude atmet alles.“

„Im Wiesengras frohlocken farbenglühende Blumenaugen im Lichte.“

„In freudigem Schauen versunken, weilt der Blick in weiter Ferne. Mit einem weltumfassenden Zuge möchte er all die Schönheit heimtragen, hinein ins graue Einerlei des Alltags.“

„Traumverloren, als habe ihn die Schönheit des Geschauten gepackt, zieht der Weg hinein in den Wald, an einem hoheitsvollen Buchentempel vorüber.“

„Lange könnte man hier sitzen, immer neue, feine Reize tun sich dem Auge kund.“

"Feld um Feld wallt die prangende Flut der Ähren, die Dörfer liegen wie Stille Inseln im goldnen Meere, und weit draußen, wo die wogende Getreideflut am Riesenleibe der Stadt verbrandet, blitzt der Strom und blaue Höhen Flimmern im Licht."

 

P.S.: Das Papier, auf dem dieses alte Buch gedruckt ist, muss eine besondere Zutat haben: Es glitzert in der Sonne. 

Robin Sloan: Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra

Der arbeitslose Webdesigner Clay Jannon aus San Francisco nimmt eine Stelle als Aushilfe in einer seltsamen 24-Stunden-Buchhandlung an. Bald stellt er fest, dass die meisten Kunden nicht kommen, um sich eines der Bücher zu kaufen, die sich hier in engen Gängen bis in schwindelerregende Höhen stapeln. Vielmehr sind es Mitglieder eines verschworenen Clubs, die mit Hilfe ausgewählter Bücher, die sie ausleihen und zurückbringen, einen uralten Code knacken wollen.
 
Clay dringt immer tiefer in diese Geheimgesellschaft vor, die sich zum Ziel gemacht hat, ein von Aldus Manutius (ein üblicher Verdächtiger in solchen Romanen, die am Okkulten kratzen, siehe auch hier) verschlüsseltes Buch zu enträtseln. Im Gegensatz zu den älteren Damen und Herren, die sich mit ihren althergebrachten Methoden die Zähne ausbeißen, setzt Clay auf seine Beziehungen zum Google-Konzern: Mit dessen geballter Rechner-Power möchte er das Jahrhunderte lang gehütete Geheimnis lüften.
 
So weit die Handlung dieses Romans, der zwar nicht schlecht geschrieben ist, aber auch nicht berauschend. Immerhin thematisiert er die Tatsache, dass wir mittlerweile gewohnt sind, dass Google alle unsere Fragen beantwortet: Dass das nicht immer funktioniert, hat mancher noch nicht begriffen.
 
Ansonsten plätschert die Story so vor sich hin, ohne große Überraschungen. Ganz unterhaltsam, wenn da nicht das extrem alberne Schlusskapitel wäre.

Dienstag, 5. August 2014

Baltasar Gracián: Handorakel oder Kunst der Weltklugheit

Tagtäglich zerbrechen wir uns den Kopf über tausend Kleinigkeiten: Soll’s der Toilettensitz aus Kunstharz oder doch der aus Kiefernholz sein? Als Vorspeise Paella oder Caldo con Pelota? Altglas a la española in den Hausmüll werfen oder zum kilometerweit entfernten Container kutschieren? Parkgebühren bezahlen oder auf das Glück vertrauen, dass keine Politesse vorbeikommt?

Philosophen sind da anders. Sie machen sich nur über die wirklich wichtigen Fragen des Lebens Gedanken. Das unterscheidet sie von uns Normalos und deshalb fallen jedem gleich Dutzende berühmte Philosophen, aber nur wenige berühmte Sanitärartikelverkäufer ein.

Eine der wichtigsten Fragen, über die sich Philosophen den Kopf zerbrechen, lautet: „Wie sollen wir handeln?“ Die Deutschen können sich da an ihren Immanuel Kant halten: „Demnach muss ein jedes vernünftige Wesen so handeln, als ob es durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reich der Zwecke wäre“, schrieb der. Hm. Und was bedeutet das jetzt für das Altglas? Und für die Vorspeise?

Und wie sollen die Spanier handeln, die keinen Kant in ihren Reihen haben? Martin Heidegger solle seinen Freund José Ortega y Gasset einmal gefragt haben, warum es in Spanien so wenige Philosophen gäbe, worauf jener zurückfragte: „Warum gibt es in Deutschland so wenige Toreros?“

Das mit den spanischen Philosophen stimmt aber nicht so ganz, denn es gab neben Ortega y Gasset („Gespräch beim Golf oder Über die Idee des Dharma“) zumindest noch einen, den Jesuitenpater Baltasar Gracián y Morales (1601-1658), der auch heute noch amüsant und aufschlussreich zu lesen ist. In seinem Buch „Handorakel und Kunst der Weltklugheit“ (das unter anderem auf der Internetseite „capitalista.de – Mehr Netto“ bestellt werden kann) redet er Klartext.

Klugheit heißt für ihn ungefähr dieses: Handle so, dass du andere von dir abhängig machst. Erwarte nichts von deinen Freunden. Benutze den anderen als Werkzeug für deine Zwecke. Sei misstrauisch jedermann gegenüber und verhalte dich so, als würdest du ständig beobachtet.

Dieses Büchlein ist – auch in der deutschen Übersetzung von Arthur Schopenhauer – unbedingt lesenswert! Und beim Altglas-Problem vielleicht sogar hilfreicher als der alte Kant!


Erschienen in Costa Blanca Rundschau Nr. 64, Woche 15/2006

Donnerstag, 17. Juli 2014

Jan Philipp Reemtsma: Im Keller

Die Entführung des Hamburger Sozialforschers und Millionärs Jan Philipp Reemtsma im März 1996 war einer der großen Kriminalfälle der deutschen Nachkriegszeit. 33 Tage lang war Reemtsma in einem Keller angekettet, bevor er nach Zahlung von 30 Millionen Mark Lösegeld freikam. Der Haupttäter Thomas Drach wurde später gefasst und saß von 1998 bis Oktober 2013 im Gefängnis. Wo die Millionen geblieben sind, ist bis heute nicht ganz geklärt.

Nicht lange nach seiner Freilassung veröffentlichte Reemtsma 1997 mit "Im Keller" einen Bericht über seine Entführung. Nun bin ich in einer Flohmarktkiste auf dieses Buch gestoßen, das ich schon längst hätte lesen sollen: Ein Intellektueller schildert, wie er auf brutale Art aus der Welt gerissen und in völlige Ohnmacht gestoßen wird. Und: Das Buch kann die hohen Erwartungen einlösen und ist auch fast zwei Jahrzehnte nach der Tat lesenswert.

Durch das Buch zieht sich die strikte Trennung von außen und innen - unter Mitmenschen und im abgeschotteten Keller: Das sind für den Entführten zwei komplett getrennte Welten, die nicht zusammenfinden. Zunächst schildert Reemtsma die äußeren Vorgänge, wie er sie aus Recherchen und Gesprächen mit der Polizei und seiner Familie rekonstruiert hat: Wie die Kriminellen, die ihn vor der Tür seines Hauses in Blankenese gekidnappt haben, immer wieder Lösegeld-Übergabeversuche scheitern lassen, wie sie schließlich die 30 Millionen erbeuten und ihn selbst einen Tag später im Wald bei Hamburg aussetzen.

Diese Rekonstruktion der Tatsachen, die aus heutiger Sicht ergänzt würden müsste, ist nicht besonders dramatisch im Aufbau. Sie ist auch nicht das Hauptanliegen des Buches. Der Text ist nämlich vor allem ein fein ausgearbeitetes Psychogramm und eine philosophische Erörterung der Frage: "Kann es unter Extrembedingungen so etwas wie ein Individuum überhaupt geben? Der Leser steigt in den folgenden Abschnitten mit Reemtsma hinab in eine andere Welt, die des drei mal vier Meter großen Kellers. Diese Welt befindet völlig außerhalb der Realität. Sie hat ihre eigene Rationalität. Außen ist Reemtsma ein anderer als er drinnen war - auch wenn der Keller Wochen nach der Entführung immer wieder unbarmherzig über ihn hereinbrechen wird.

Reemtsma zeigt diese extreme Spaltung auf, indem er die Schilderung seiner Person außerhalb des Kellers die Ich-Form, für die Person im Keller die Er-Form verwendet. Dabei kommt es zu Wendungen wie: "Ich weiß nicht mehr, was er gedacht hat." Wider Erwarten liest sich das alles flüssig und höchst plausibel.

Ein Gefühl bleibt hängen: Das Schlimmste im Keller sind nicht die körperliche Misshandlung, die Schikanen und die ständige Bedrohung mit dem Tod. Das Schlimmste sind absolute Passivität, Hilflosigkeit, Überwältigt-, Übermächtigt- und Ausgeliefertsein des Mannes, der hier als Tauschware für 30 Millionen festgehalten wird.

"Wer vollständig ohnmächtig ist, ist bei lebendigem Leibe nicht mehr ,da'" schreibt Reemtsma. Er ist, so betont Ich ein ums andere Mal, ist "aus der Welt gefallen", "aus allen sozialen und kommunikativen Beziehungen herausgefallen". Das Er im Keller ist keine Person, "sondern ein leerer Raum, durch den die Gefühle ziehen". Ein Ich, ein Individuum, das sich auflehnen kann, gibt es nicht (mehr).

Den Entführten treibt die Frage um, "ob er überhaupt noch dachte wie ein normaler Mensch" oder längst als verrückt angesehen werden musste. Das konkretisiert sich nicht nur in dem was er tut - er bietet sich den Entführern selbst als Geldbote an, er präpariert eines Scherbe, um sich das Leben zu nehmen - sondern speziell in seinem Denken:  Als die Entführer drohen, ihm einen Finger abzuschneiden, macht er sich Gedanken, von welchem Finger er sich am ehesten trennten könnte (dem kleinen Finger der rechten Hand). Einmal überfällt ihn der wache Wunschtraum, der Entführer solle ihn trösten, ihn berühren, die Hand auf seine Schulter legen. 

Diese als "Stockholm-Symdrom" bekannte Hinwendung des Entführten zum Entführer packt ihn mit Macht. Als er dem Entführer vor einer Geldübergabe "Drive carefully" zuruft (er spricht Englisch mit Thomas Drach), fügt er gleich hinzu: "That's why the call it the Stockholm Syndrome. "
Das ist typisch: Reemtsma beschreibt nicht nur seinen Gefühle, sondern erklärt und interpretiert sie gleich ausgiebig auf einer akademischen Meta-Ebene Vielleicht macht ihm das das Ausgeliefertsein erträglicher. Er selbst sieht es als "ein Sich-Wehren gegen die Reduktion der Welt auf ein überwältigendes Gefühl". Für den Leser gibt es dem Bericht eine zusätzliche Tiefe, die eine reine Schilderung nie vermocht hätte.

Gleiches gilt wohl für Reemtsmas Galgenhumor. Als ihn die Entführer in der Dunkelheit in einem Waldstück bei Hamburg aussetzen verabschiedet er sich mit: "Nice having met you, I can't stay."

Freitag, 20. Juni 2014

Ulrich Tukur: Die Spieluhr

Es gibt unendlich viele Welten.
Über diese nicht ganz neue Annahme hat unlängst der Physiker und Kosmologe Max Tegmark ein Buch veröffentlicht. Theorien gehen davon aus, dass mit dem Urknall Parallelwelten entstanden sind. Alles was passieren kann, passiert auch irgendwo in einem der in unendlicher Zahl parallel vorhandenen Universen.

Ein bisschen so ist es auch im Roman "Die Spieluhr" von Ulrich Tukur. Ja, Tukur kann nicht nur als Schauspieler und Musiker etwas. Wer diesen bibliophil gestalteten Band öffnet, reist sogleich zwischen Parallelwelten hin und her. Um von einer Welt in eine andere zu gelangen und dabei nebenbei auch durch die Zeit zu reisen, dienen mysteriöse Gemälde, Gobelins oder Brücken, mit denen der Autor die surreale Szenerie ausstaffiert hat.

Die Hauptfigur ist ein Schauspieler, mithin Tukur selbst. Er spielt den Kunstsammler Wilhelm Uhde in einer Verfilmung des Lebens der Putzfrau Séraphine de Senlis (1864-1942), die als eine der bedeutendsten Vertreterin der naiven Malerei gilt. Die Dreharbeiten finden zum Teil in einem Schloss in der Picardie statt. Tatsächlich hat Tukur 2008 in einem solchen Film mitgewirkt. Nur, dass er hier seine Erlebnisse ein bisschen weiterspinnt. Eine hervorragende Strategie beim Geschichtenerzählen. 

Und so lässt der Autor den Regieassistenten verschwinden: Wie sich herausstellen soll, hat ihn ein Gemälde verschluckt. Er ist der verhängnisvollen Sogwirkung der traumhaft schöne Marquise von Montrague und ihrer Musik erlegen. Auch der  Tukur-Erzähler selbst kann sich dem Sog der Parallelwelten nicht entziehen. Er landet auf rätselhafte Art und Weise im Jahr 1944 und ist als Staatssekretär verwickelt in Stauffenbergs missglücktes Hitler-Attentat. Wer ist wirklich, wer ist wer? Die Realitätsebenen geraten durcheinander. In einer Welt versteckt sich eine  andere, versteckt sich eine andere. Alles ist ineinandergeschachtelt. Wie bei einer Matrjoschka-Puppe oder zwei gegenüberliegenden Spiegeln

Zu kritteln habe ich durchaus etwas: So fehlen der Story die Spannung und ein echter Knalleffekt. Sprachlich kommt "Die Spieluhr" manchmal etwas schwurbelig daher. Schon der allererste Satz könnte manchem Leser die Lust rauben:
 
„Wie das Leben in der Rückschau aus einer Flut visueller Erinnerungen besteht, keinem rationalen System und ständiger Verwandlung unterworfen, so besteht ein kinematographischer Film aus einer Unzahl systematischer montierter, unveränderlicher Bilder, die zusammengesetzt eine mehr oder weniger ergreifende Geschichte ergeben.“
 
Oft ist Tukurs Sprache zu wenig konkret und schafft es eben nicht, Kino im Kopf zu erzeugen: Da werden "Backwerk" und "Obst" gereicht, drei "Männer" spielen zum Tanz auf. Manches ist allzu klischeehaft. Warum muss ein Tal unbedingt "anmutig" sein?

Aber dies soll mitnichten ein Verriss werden. Die märchenhafte Atmosphäre dieses magisch-realistischen Romans wiegt nämlich alle Schwächen auf. Die Leser wandeln durch eine attraktiv-surreale Zauberwelt wie man sie in Filmen von Tim Burton und Jean-Pierre Jeunet, Juraj Herz' "Das neunte Herz" oder in Martin Scorseses "Hugo Cabret" gesehen hat. Vor allem aber der grandiose  E.T.A. Hoffmann hat Pate gestanden: Menschen verlieren sich in schauerlichen Herrenhäusern, geraten in rätselhafte Zeitschleusen, verwandeln sich unvermittelt in Schmetterlinge, erliegen der Magie der Musik. Der offene Schluss passt hervorragend zu diesem gelungenen hoffmannesken Kleinod.
 
P.S. Wie auf dem Bild zu erkennen ist, muss ich die meisten Bücher, die ich in diesem Blog bespreche, aus der Stadtbibliothek entleihen. Vielleicht hat ja jemand im Verlag Lust, mir ein Rezensionsexemplar einer aktuellen Neuerscheinung zu schicken?

Freitag, 2. Mai 2014

Bernardo Atxaga - Der Mann der Obaba schuf

Gleiche Worte, andere Buchstaben – „Las mismas palabras con diferentes letras” heißt die Ausstellung, die bis zum 9. Dezember 2005 im CAM-Kulturzentrum von Alicante zu sehen ist und erstmals das bisherige Gesamtwerk Bernardo Atxagas in verschiedenen Sprachen zeigt. Atxagas Sprache ist die baskische, als deren bekanntester und wichtigster Literat er seit Jahren gilt. Die Ausstellung wird ergänzt durch Plastiken von Eduardo Chillida, Darío Urzay und Ricardo Toja: Sie alle ließen sich von Atxagas Geschichten inspirieren, deren Drehund Angelpunkt das fiktive baskische Dorf Obaba ist.

Atxaga, der mit bürgerlichem Namen Joseba Irazu Garmendia heißt, studierte zunächst Wirtschaftswissenschaften und veröffentlichte 1976 seinen ersten Roman „De la ciudad“. Den Künstlernamen lieh er sich damals von seinem Mitbewohner Bernardo, der ihm auch die Schreibmaschine für seine ersten literarischen Schritte zur Verfügung stellte.

Der Durchbruch gelang dem heute 54-Jährigen im Jahr 1988 mit dem Roman „Obabakoak“, einem Schelmenstreich skurriler Fabulierkunst. 26 Episoden ergeben in diesem Buch, wie auf einer Perlenschnur aneinander gereiht, ein Porträt des Ortes Obaba. Der Leser begegnet einer jungen Lehrerin, die einsam durch die Straßen zieht, einem Diener, der eine nächtliche Reise zu Pferd auf sich nimmt, um dem Tod zu entkommen, und einem Zwerg, der sich für einen großen Dichter hält.

Diskussionen über die Kunst des Geschichtenschreibens sind in die Erzählungen ebenso eingewoben wie eine Betrachtung über die Literatur des 19. Jahrhunderts. Wie das Dorf Macondo in Gabriel García Márquez‘ „Hundert Jahre Einsamkeit“ ist Obaba ein symbolischer Ort auf der Landkarte des menschlichen Bewusstseins, Denkens und Empfindens. Atxaga selbst verglich „Obabakoak“, das vielfach ausgezeichnet und in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurde, mit den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht.

„Alles Sichtbare haftet am Unsichtbaren, das Hörbare am Unhörbaren, das Fühlbare am Unfühlbaren, vielleicht das Denkbare am Undenkbaren“, zitierte Atxaga einmal den deutschen Dichter Novalis und beschrieb damit seine Kunst, die große Welt in Obaba, der kleinen Welt der Bauern, Bettler und Tagelöhner, einzufangen. Obaba ist Hamburg – denn in dieser Stadt beginnt die Romanhandlung – genauso wie Asteasu, Atxagas eigener Heimatort. Im dortigen Bergwerk begegnete der Autor in seiner Kindheit deutschen Ingenieuren:

„Ihr Akzent, ihre zupackende Art sind mir unauslöschlich im Gedächtnis geblieben“, erklärte Atxaga, der zur Ausstellungseröffnung nach Alicante gekommen war, gegenüber der Costa Blanca Rundschau seine besondere Beziehung zu Deutschland. Die deutschen Ingenieure sind eingeflossen in die Figur des Esteban Werfell, eines baskischen Jungen, der sich von seinem Vater – einem deutschen Ingenieur – eingeengt fühlt. Auf besonderen Wunsch Atxagas spielt die Figur des deutschen Ingenieurs auch in der Verfilmung von „Obabakoak“, die seit wenigen Wochen in den spanischen Kinos zu sehen ist, eine wichtige Rolle.

Regisseur Montxo Arméndariz glückte der Versuch, aus der Geschichtensammlung eine zusammenhängende Filmstory zu machen. Als Rahmenhandlung dient die Reise der 25-jährigen Lourdes, die mit der Videokamera Obaba und seine Leute porträtieren will. Die spanisch-deutsche Koproduktion, die in Ustarroz (Navarra) gedreht wurde, tritt für Spanien bei der Bewerbung um die Oscars für nichtenglischen Film an. Obaba ist die Welt, in die Atxagas Erfahrungen aus Kindheit und Jugend einfl ießen. „Die Welt meiner Kindheit war ländlich und einfach, ohne Politik, ohne Lenin, Marx und Freud“, sagte der Schriftsteller in Alicante. Doch irgendwann brach die Politik über das Dorf herein: der Widerstandskampf der Basken, Terrorismus, Gewalt und Unterdrückung.

Über das literarische Schaffen Atxagas brach die Politik Mitte der 90er Jahre herein. Der Roman „Ein Mann allein“ ist das Porträt eines Ex-Aktivisten der Terrororganisation Eta, „Das Fenster zum Himmel“ begleitet eine Eta-Terroristin nach der Verbüßung ihrer Haftstrafe zurück ins Baskenland. Atxagas jüngstes Werk, „Der Sohn des Akkordeonspielers“ (2004), beschreibt einen jungen Mann, der in den 60er und 70er Jahren im gewaltsamen Umfeld der Eta aufwächst. Diese politischen Romane stießen bei der Kritik auf geteiltes Echo.
 
In Alicante kündigte Atxaga nun wiederum eine Kehrtwende an. Hatte er vor wenigen Jahren noch davon gesprochen, mit seiner Literatur zur Verständigung beizutragen und der Gewaltspirale im Baskenland die Kultur entgegenzusetzen, klingt der Schriftsteller nun resigniert. „Es ist alles zur Problematik im Baskenland gesagt und geschrieben, ich bin müde“, sagte er in Alicante und fügte hinzu: „Jetzt sollen die Politiker handeln und mir Bescheid sagen, wenn sich etwas verbessert hat.“
 
Auf die Frage, ob Kultur die Völker verbinden könne, antwortete er nur kurz „Da bin ich skeptisch“ und leitete lieber zu seinem neuesten Buchprojekt über. „Sieben Häuser in Frankreich“ soll es heißen und im nächsten Herbst erscheinen. Atxaga, so scheint es, kehrt zu seinen Wurzeln zurück, auch wenn er betont, das neue Buch sei realitätsnaher als seine früheren Werke. Ein altes Klassenfoto ist der Ausgangspunkt für den Erzähler, der die darauf Abgebildeten auf ihren getrennten Wegen in ihre verschiedenen Häuser begleitet: ein Hotel, ein Gefängnis, ein Tempel und ein Krankenhaus zum Beispiel.
 
Die Inspiration fand Atxaga – wo auch sonst – in Obaba, der Welt, die ihm begegnet und sein Bewusstsein prägt: „Ich hörte, dass ein ehemaliger Schulkamerad von mir inzwischen Mönch in einem hinduistischen Tempel ist.“ Von Bernardo Atxaga sind zahlreiche Werke in deutscher Übersetzung erschienen, darunter „Obabakoak“, „Das Fenster zum Himmel“, „Memoiren einer baskischen Kuh“ sowie das Kinderbuch „Shola und die Wildschweine“.

Erschienen in Costa Blanca Rundschau Nr. 42, Woche 45/2005