Donnerstag, 19. Januar 2017

Eduard Mörike: Maler Nolten

Eine Schatztruhe ist dieses umfangreiche Buch, Eduard Mörikes einziger Roman. Hier ist alles drin, was den Dichter auszeichnete: Mörikesche Ironie, Rätsel und Spielereien, gleichzeitig herrlich romantische Bilder und Klänge, ein Schuss Biedermeier - in diese Schublade wird der hintergründige Schwabe gerne ja so gerne gesteckt. Aber er passt nur insofern hinein, als er und ebenso seine Figuren unentwegt Sehnsucht nach dem bürgerlichen, piefigen Philisterleben empfinden. Das klappt aber nicht, im Gegenteil. In diesem Roman müssen sogar alle Protagonisten in jungen Jahren sterben. Die Art, in der Mörike in seine Figuren hineinblickt und an tiefe psychologische Einsichten und Wahrheiten rührt, erinnert an Arthur Schnitzlers Prosa fast 100 Jahre später.

Mörike verfassste den Künstlerroman "Maler Nolten" während seiner "Vikariatsknechtschaft", als der junge Geistliche von 1826 bis 1833 im Jahrestakt von einem Kaff auf der Schwäbischen Alb ins nächste versetzt wurde. Er fand keine Ruhe, keine Sicherheit, und träumte doch so sehr davon.

Die Handlung ist vertrackt, spielt sie sich doch größtenteils  im Innenleben der Personen ab und schlägt dennoch hohe Wellen im Äußeren. Der junge, begabte Maler Theobald Nolten, der dank der Verstrickungen eines unglücklichen Schicksals, aber auch durch sein eigenes Ungeschick Unheil über andere und sich selbst bringt, tritt in einem seltsamen Schwebezustand zwischen weltabgewandtem Schöngeist, unbedarftem Taugenichts und einzig Normalem in einer Gesellschaft der Verrückten in Erscheinung. Gegenpart ist die unheimliche, intrigante Zigeunerin Elisabeth. Sie zieht im Hintergrund die Fäden, ohne je groß in Erscheinung zu treten. 

Am Ende sind dann alle tot.  Elisabeth, die eigentlich Noltens Cousine ist. Der überdrehte und melancholische Schauspieler Larkens, der heimlich Briefe in Noltens Namen an dessen Verlobte Agnes schreibt und so eine eigentlich da acta gelegte Beziehung künstlich am Leben erhält. Das zutiefst schwermütige "Rätselwesen" Agnes selbst, zu der Nolten erst zurückkehrt, die aber, als er ihr vom eigentlichen Briefeschreiber beichtet, vollends dem Wahnsinn verfällt und sich in einen Brunnen stürzt. Noltens Geliebte, die Gräfin Constanze, der Larkens intrigant Noltens vermeintliche Briefe an Agnes zuspielt, um Constanze und Nolten von dieser Affäre abzubringen, und die im Zorn veranlasst, dass Nolten und Larkens für ein satirisches Theaterstück ins Gefängnis wandern. Auch Nolten selbst wird vom Schlag getroffen - er erschrickt zu Tode über den Anblick einer Geistergestalt.

Die einzigen beiden Überlebenden sind schließlich der alte Förster, Agnes' Vater, und der alte Hofrat, der in Wirklichkeit Noltens Onkel Friedrich ist und einst mit einer Zigeunerin das unheilvolle Mädchen Elisabeth gezeugt hatte.

Ganz Spätromantiker, fährt Mörike Schauplätze wie eine verfallene Burgruine, einen seit Jahrhunderten verwunschene Brunnen, eine behagliche Ofenbank, einen holzgetäfelten Rittersaal voller Wappenschilder und Waffen und erquickendes Wiesengrün auf. Und sehr viel Gefühl. Schonungslos blickt der Erzähler die Tiefe der menschlichen Seele, in der er keinen Trost findet. Empfindet der Künstler Nolten die Wirklichkeit mitunter als "mit einer Zaubertapete bedeckt", so kann die schwermütigen Figuren Agnes und Larkens - die hochsensibel auf kleinste Schwingungen reagieren - letztlich gar nichts mehr erfreuen. Typisch Mörike ist das ironisch Überzeichnete der Figuren und die Art, mit dem Leser zu spielen, ihm das Wesentliche beiläufig in Klammern zu servieren und ihn hinters Licht  zu führen.
  
Eingefügt als "phantasmagorisches Zwischenspiel" ist "Der letzte König von Orplid", ein wunderbares Schattenspiel um einen unsterblichen König, eine Feenfürstin und ein geheimnisvolles Buch. Der Roman enthält die somnambulen Peregrina-Gedichte, in denen Mörike (wie im gleichnamigen Zyklus) seine eigene Liebesbeziehung mit der leidenschaftlichen Schwärmerin Maria Meyer verarbeitete. Noch viele weitere Gedichte flattern durch den "Maler Nolten", darunter das unsterbliche "Frühling lässt sein blaues Band..."

Ein paar schöne Zitate noch:

"Dieser Nolten ist der verdorbenste und gefährlichste Ketzer unter den Malern, einer von den halsbrecherischen Seiltänzern, welche die Kunst auf den Kopf stellen, weil das ordinäre Gehen auf zwei Beinen anfängt langweilig zu werden; der widerwärtigste Phantasie-Renommiste! Was malt er denn? eine trübe Welt voll Gespenstern, Zauberern, Elfen und dergleichen Fratzen, das ist's, was er kultiviert!"
"Wer war unglücklicher, als der Maler? und wer hätte glücklicher sein können als er, wäre er sogleich fähig gewesen, seinem Geiste nur so viel Schwung zu geben, als nötig, um einigermaßen sich über die Umstände, deren Forderungen ihm furchtbar über das Haupt hinauswuchsen, zu erheben und eine klare Übersicht seiner Lage zu erhalten. Doch dazu hatte er noch weit. In einer ihm selbst verwundersamen, traumähnlichen Gleichgültigkeit ritt er bald langsam, bald hitzig einen einsamen Feldweg, und statt daß er, wie er einigemal versuchte, wenigstens die Punkte, worauf es ankam, hätte nach der Reihe durchdenken können, sah er sich, wie eigen! immer nur von einer monotonen, lächerlichen Melodie verfolgt, womit ihm irgendein Kobold zur höchsten Unzeit neckisch in den Ohren lag. Mochte er sich Gewalt antun so viel und wie er wollte, die ärmliche Leier kehrte immer wieder und schnurrte, vom Takte des Reitens unterstützt, unbarmherzig in ihm fort. Weder im Zusammenhange zu denken, noch lebhaft zu empfinden war ihm gegönnt; ein unerträglicher Zustand." 
"Eine Sorge, die nur erst als schwacher Punkt zuweilen vor uns aufgestiegen und immer glücklich wieder verscheucht worden war, pflegt tückischerweise gerade in solchen Momenten uns am hartnäckigsten zu verfolgen, wo alles übrige sich zur freundlichen Stimmung um uns vereinigen will. Im heftigen Zugwinde einer aufgescheuchten Einbildungskraft drängt sich schnell Wolke auf Wolke, bis es vollkommen Nacht um uns wird."
"Ich kann es mir nicht reizend und rührend genug vorstellen, das stille gedämpfte Licht, worin dem Knaben dann die Welt noch schwebt, wo man geneigt ist, den gewöhnlichsten Gegenständen ein fremdes, oft unheimliches Gepräge aufzudrücken, und ein Geheimnis damit zu verbinden, nur damit sie der Phantasie etwas bedeuten, wo hinter jedem sichtbaren Dinge, es sei dies, was es wolle – ein Holz, ein Stein, oder der Hahn und Knopf auf dem Turme – ein Unsichtbares, hinter jeder toten Sache ein geistig Etwas steckt, das sein eignes, in sich verborgnes Leben andächtig abgeschlossen hegt, wo alles Ausdruck, alles Physiognomie annimmt."
"Der Maler hatte sich auf einen Sitz geworfen. Er sah mit kalter Selbstbetrachtung ruhig auf den Grund seines Innern herab, wie man oft lange dem Rinnen einer Sanduhr zusehn kann, wo Korn an Korn sich unablässig legt und schiebt und fällt. Er bröckelte spielend seine Gedanken, der Reihe nach, auseinander und lächelte zu diesem Spiel. Dazwischen quoll es ihm, ein übers andre Mal, ganz wohl und leicht ums Herz, als entfalte soeben ein Engel der Freuden nur sachte, ganz sachte die goldnen Schwingen über ihm, um dann leibhaftig vor ihn hinzutreten!"

Samstag, 14. Januar 2017

Tim Parks: Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen

Eine Sammlung von Essays, die sich mit Literatur, Schreiben und  Lesen auseinandersetzen. Verfasst hat sie der britische Romancier, Rezensent, Sachbuchautor und Übersetzer (er übertrug unter anderem Italo Calvino ins Englische) Tim Parks. Parks lebt  seit 1981 in Italien und lehrt dort Literatur.

In meinem Regal steht Parks jetzt zwischen Umberto Ecos "Die Kunst des Bücherliebens", Alberto Manguels "Die Bibliothek bei Nacht", Jacques Bonnets "Meine vielseitigen Geliebten", Hektor Haarkötters "Der Bücherwurm" und Robert Gernhardts "Der Weg zum Erfolg".

Parks Essays unterscheiden sich von unzähligen anderen Büchern zum Thema nicht nur im ironischen, pointierten und hemdsärmeligen Ton, der die Materie mit trockenem Humor und äußerst schlagfertig anpackt. Der Autor hat auch inhaltlich großen Spaß an der Rolle des Advocatus diaboli, der so ziemlich alle Gewissheiten infrage stellt und zu allen gängigen Meinungen leidenschaftlich Gegenpartei ergreift.

Manche seiner Thesen erscheinen offensichtlich: Etwa von der Ambivalenz des modernen Schriftstellers, der den Mythos vom rebellischen Nonkonformisten pflegt, sich aber gleichzeitig prostituieren muss, um den Gesetzen des Marktes zu entsprechen. Oder, dass man ein Buch nicht unbedingt zu Ende lesen muss, um es als Gewinn und Genuss zu empfinden. Manchmal reichen eben einzelne Stellen, die sich besonders lohnen, den Sinn erschließen oder überaus geglückt sind. Ich füge hinzu: Aufgabe eines Rezensenten sollte sein, diese Stellen den Lesern zu empfehlen. In diesem Buch wären es beispielsweise die ersten beiden Kapitel.

Manches ist erhellend. Etwa, dass die besondere narrative Form des Romans - mithin die Königsklasse literarischen Schreibens - zur ich-Vergewisserung und Selbsterfindung des Subjekts beiträgt, weil sie erst das Konzept des einzigartigen, handelnden Menschen mit einer Geschichte, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, mit (gescheiterten) Plänen, Widersachern etc. schafft. Der moderne Mensch braucht diese Geschichten, die sein Ich stärken, zwar nicht, findet Parks. Es gibt aber, wie er in einem anderen Kapitel feststellt, keine andere narrative Methode, die dem Roman Konkurrenz machen könnte.

Manches erscheint zumindest fragwürdig. Wenn Parks über den Zusammenhang von Schriftstellern, ihrem Werk und ihrer Rezeption philosophiert, bringt er die Theorien der italienischen Psychologin Valerio Ugazio ins Spiel, die von "semantischen Polaritäten" spricht. Die Begriffspaare, die in der Familie eines Menschen (eben auch Schriftstellers oder Lesers) wichtig sind, prägen ihn und sein Werk  oder seine Art zu lesen, ein Leben lang. Ging es in der Kindheit eher ums Gut- oder Böse-sein oder waren Mut versus Angst ausschlaggebend? Auch, wenn ich Parks hier nicht immer folgen kann, so sind die Essays zu diesem Thema doch mit schönen Details und Anekdoten aus dem Leben vor allem angelsächsischer Schriftsteller illustriert.

An einigen Stellen teile ich Parks' oftmals bewusst provokante Thesen nicht. Dass das Lesen eines guten Romans so sei könnte, als erlebe man eine Situation selbst und tauche in fremder Menschen Gedanken und Gefühle ein, wischt er als "Unsinn" beiseite. Ich glaube, dass Bücher durchaus diese Wirkung haben.

Mehrere Kapitel sind der gleichgeschalteten "Welt"-Literatur gewidmet, die in unserer Zeit aufgrund der Dominanz und Beliebtheit der anglo-amerikanischen Kultur entsteht. Schriftsteller allerorten versuchen sich in ihren weichgespülten und sogar sprachlich angepassten Werken, dieser dominierenden Lebenswelt anzupassen, ihre Werke möglichst leicht ins Englische übersetzbar zu gestalten. Europäische Leser wiederum greifen mit Vorliebe auf (übersetzte) Werke US-amerikanischer Autoren wie Jonathan Franzen zurück, weil sie sich als "Weltbürger als passive Beobachter der amerikanischen Kultur" empfinden. Was verloren geht, ist die intensive Beschäftigung der Autoren mit der eigenen Sprache und dem eigenen Kontext, die bereichernd wäre, aber der globalen Vermarktbarkeit widerstreben würde.

Ausgenommen sind freilich die selbstzufriedenen englischsprachigen Autoren, die ihre Lebenswirklichkeit bis ins Kleinste thematisieren und davon ausgehen können, dass sich die gesamte lesende Welt dafür interessiert. Parks macht sich lustig darüber, wie diese Autoren ihre weltweite Wirkung überheblich der hohen Qualität ihrer Literatur zuschreiben.

Nun ist zu sagen, dass der Engländer Parks - und das weiß er auch - selbst auf dieser Welle schwimmt. In seinen Beispielen ist er, bis auf wenige Ausnahmen, zentriert auf die angelsächsiche Literatur, als habe es noch nie etwas nennenswertes anderes gegeben als  D. H. Lawrence, Thomas Hardy, Samuel Beckett, Barbara Pym James Joyce, William Faulkner, Aber wer will es ihm verdenken - das ist sein Fach. Und das Ganze ist eben auch nur eine Übersetzung aus dem Englischen.