Donnerstag, 17. Juli 2014

Jan Philipp Reemtsma: Im Keller

Die Entführung des Hamburger Sozialforschers und Millionärs Jan Philipp Reemtsma im März 1996 war einer der großen Kriminalfälle der deutschen Nachkriegszeit. 33 Tage lang war Reemtsma in einem Keller angekettet, bevor er nach Zahlung von 30 Millionen Mark Lösegeld freikam. Der Haupttäter Thomas Drach wurde später gefasst und saß von 1998 bis Oktober 2013 im Gefängnis. Wo die Millionen geblieben sind, ist bis heute nicht ganz geklärt.

Nicht lange nach seiner Freilassung veröffentlichte Reemtsma 1997 mit "Im Keller" einen Bericht über seine Entführung. Nun bin ich in einer Flohmarktkiste auf dieses Buch gestoßen, das ich schon längst hätte lesen sollen: Ein Intellektueller schildert, wie er auf brutale Art aus der Welt gerissen und in völlige Ohnmacht gestoßen wird. Und: Das Buch kann die hohen Erwartungen einlösen und ist auch fast zwei Jahrzehnte nach der Tat lesenswert.

Durch das Buch zieht sich die strikte Trennung von außen und innen - unter Mitmenschen und im abgeschotteten Keller: Das sind für den Entführten zwei komplett getrennte Welten, die nicht zusammenfinden. Zunächst schildert Reemtsma die äußeren Vorgänge, wie er sie aus Recherchen und Gesprächen mit der Polizei und seiner Familie rekonstruiert hat: Wie die Kriminellen, die ihn vor der Tür seines Hauses in Blankenese gekidnappt haben, immer wieder Lösegeld-Übergabeversuche scheitern lassen, wie sie schließlich die 30 Millionen erbeuten und ihn selbst einen Tag später im Wald bei Hamburg aussetzen.

Diese Rekonstruktion der Tatsachen, die aus heutiger Sicht ergänzt würden müsste, ist nicht besonders dramatisch im Aufbau. Sie ist auch nicht das Hauptanliegen des Buches. Der Text ist nämlich vor allem ein fein ausgearbeitetes Psychogramm und eine philosophische Erörterung der Frage: "Kann es unter Extrembedingungen so etwas wie ein Individuum überhaupt geben? Der Leser steigt in den folgenden Abschnitten mit Reemtsma hinab in eine andere Welt, die des drei mal vier Meter großen Kellers. Diese Welt befindet völlig außerhalb der Realität. Sie hat ihre eigene Rationalität. Außen ist Reemtsma ein anderer als er drinnen war - auch wenn der Keller Wochen nach der Entführung immer wieder unbarmherzig über ihn hereinbrechen wird.

Reemtsma zeigt diese extreme Spaltung auf, indem er die Schilderung seiner Person außerhalb des Kellers die Ich-Form, für die Person im Keller die Er-Form verwendet. Dabei kommt es zu Wendungen wie: "Ich weiß nicht mehr, was er gedacht hat." Wider Erwarten liest sich das alles flüssig und höchst plausibel.

Ein Gefühl bleibt hängen: Das Schlimmste im Keller sind nicht die körperliche Misshandlung, die Schikanen und die ständige Bedrohung mit dem Tod. Das Schlimmste sind absolute Passivität, Hilflosigkeit, Überwältigt-, Übermächtigt- und Ausgeliefertsein des Mannes, der hier als Tauschware für 30 Millionen festgehalten wird.

"Wer vollständig ohnmächtig ist, ist bei lebendigem Leibe nicht mehr ,da'" schreibt Reemtsma. Er ist, so betont Ich ein ums andere Mal, ist "aus der Welt gefallen", "aus allen sozialen und kommunikativen Beziehungen herausgefallen". Das Er im Keller ist keine Person, "sondern ein leerer Raum, durch den die Gefühle ziehen". Ein Ich, ein Individuum, das sich auflehnen kann, gibt es nicht (mehr).

Den Entführten treibt die Frage um, "ob er überhaupt noch dachte wie ein normaler Mensch" oder längst als verrückt angesehen werden musste. Das konkretisiert sich nicht nur in dem was er tut - er bietet sich den Entführern selbst als Geldbote an, er präpariert eines Scherbe, um sich das Leben zu nehmen - sondern speziell in seinem Denken:  Als die Entführer drohen, ihm einen Finger abzuschneiden, macht er sich Gedanken, von welchem Finger er sich am ehesten trennten könnte (dem kleinen Finger der rechten Hand). Einmal überfällt ihn der wache Wunschtraum, der Entführer solle ihn trösten, ihn berühren, die Hand auf seine Schulter legen. 

Diese als "Stockholm-Symdrom" bekannte Hinwendung des Entführten zum Entführer packt ihn mit Macht. Als er dem Entführer vor einer Geldübergabe "Drive carefully" zuruft (er spricht Englisch mit Thomas Drach), fügt er gleich hinzu: "That's why the call it the Stockholm Syndrome. "
Das ist typisch: Reemtsma beschreibt nicht nur seinen Gefühle, sondern erklärt und interpretiert sie gleich ausgiebig auf einer akademischen Meta-Ebene Vielleicht macht ihm das das Ausgeliefertsein erträglicher. Er selbst sieht es als "ein Sich-Wehren gegen die Reduktion der Welt auf ein überwältigendes Gefühl". Für den Leser gibt es dem Bericht eine zusätzliche Tiefe, die eine reine Schilderung nie vermocht hätte.

Gleiches gilt wohl für Reemtsmas Galgenhumor. Als ihn die Entführer in der Dunkelheit in einem Waldstück bei Hamburg aussetzen verabschiedet er sich mit: "Nice having met you, I can't stay."

Freitag, 20. Juni 2014

Ulrich Tukur: Die Spieluhr

Es gibt unendlich viele Welten.
Über diese nicht ganz neue Annahme hat unlängst der Physiker und Kosmologe Max Tegmark ein Buch veröffentlicht. Theorien gehen davon aus, dass mit dem Urknall Parallelwelten entstanden sind. Alles was passieren kann, passiert auch irgendwo in einem der in unendlicher Zahl parallel vorhandenen Universen.

Ein bisschen so ist es auch im Roman "Die Spieluhr" von Ulrich Tukur. Ja, Tukur kann nicht nur als Schauspieler und Musiker etwas. Wer diesen bibliophil gestalteten Band öffnet, reist sogleich zwischen Parallelwelten hin und her. Um von einer Welt in eine andere zu gelangen und dabei nebenbei auch durch die Zeit zu reisen, dienen mysteriöse Gemälde, Gobelins oder Brücken, mit denen der Autor die surreale Szenerie ausstaffiert hat.

Die Hauptfigur ist ein Schauspieler, mithin Tukur selbst. Er spielt den Kunstsammler Wilhelm Uhde in einer Verfilmung des Lebens der Putzfrau Séraphine de Senlis (1864-1942), die als eine der bedeutendsten Vertreterin der naiven Malerei gilt. Die Dreharbeiten finden zum Teil in einem Schloss in der Picardie statt. Tatsächlich hat Tukur 2008 in einem solchen Film mitgewirkt. Nur, dass er hier seine Erlebnisse ein bisschen weiterspinnt. Eine hervorragende Strategie beim Geschichtenerzählen. 

Und so lässt der Autor den Regieassistenten verschwinden: Wie sich herausstellen soll, hat ihn ein Gemälde verschluckt. Er ist der verhängnisvollen Sogwirkung der traumhaft schöne Marquise von Montrague und ihrer Musik erlegen. Auch der  Tukur-Erzähler selbst kann sich dem Sog der Parallelwelten nicht entziehen. Er landet auf rätselhafte Art und Weise im Jahr 1944 und ist als Staatssekretär verwickelt in Stauffenbergs missglücktes Hitler-Attentat. Wer ist wirklich, wer ist wer? Die Realitätsebenen geraten durcheinander. In einer Welt versteckt sich eine  andere, versteckt sich eine andere. Alles ist ineinandergeschachtelt. Wie bei einer Matrjoschka-Puppe oder zwei gegenüberliegenden Spiegeln

Zu kritteln habe ich durchaus etwas: So fehlen der Story die Spannung und ein echter Knalleffekt. Sprachlich kommt "Die Spieluhr" manchmal etwas schwurbelig daher. Schon der allererste Satz könnte manchem Leser die Lust rauben:
 
„Wie das Leben in der Rückschau aus einer Flut visueller Erinnerungen besteht, keinem rationalen System und ständiger Verwandlung unterworfen, so besteht ein kinematographischer Film aus einer Unzahl systematischer montierter, unveränderlicher Bilder, die zusammengesetzt eine mehr oder weniger ergreifende Geschichte ergeben.“
 
Oft ist Tukurs Sprache zu wenig konkret und schafft es eben nicht, Kino im Kopf zu erzeugen: Da werden "Backwerk" und "Obst" gereicht, drei "Männer" spielen zum Tanz auf. Manches ist allzu klischeehaft. Warum muss ein Tal unbedingt "anmutig" sein?

Aber dies soll mitnichten ein Verriss werden. Die märchenhafte Atmosphäre dieses magisch-realistischen Romans wiegt nämlich alle Schwächen auf. Die Leser wandeln durch eine attraktiv-surreale Zauberwelt wie man sie in Filmen von Tim Burton und Jean-Pierre Jeunet, Juraj Herz' "Das neunte Herz" oder in Martin Scorseses "Hugo Cabret" gesehen hat. Vor allem aber der grandiose  E.T.A. Hoffmann hat Pate gestanden: Menschen verlieren sich in schauerlichen Herrenhäusern, geraten in rätselhafte Zeitschleusen, verwandeln sich unvermittelt in Schmetterlinge, erliegen der Magie der Musik. Der offene Schluss passt hervorragend zu diesem gelungenen hoffmannesken Kleinod.
 
P.S. Wie auf dem Bild zu erkennen ist, muss ich die meisten Bücher, die ich in diesem Blog bespreche, aus der Stadtbibliothek entleihen. Vielleicht hat ja jemand im Verlag Lust, mir ein Rezensionsexemplar einer aktuellen Neuerscheinung zu schicken?

Freitag, 2. Mai 2014

Bernardo Atxaga - Der Mann der Obaba schuf

Gleiche Worte, andere Buchstaben – „Las mismas palabras con diferentes letras” heißt die Ausstellung, die bis zum 9. Dezember 2005 im CAM-Kulturzentrum von Alicante zu sehen ist und erstmals das bisherige Gesamtwerk Bernardo Atxagas in verschiedenen Sprachen zeigt. Atxagas Sprache ist die baskische, als deren bekanntester und wichtigster Literat er seit Jahren gilt. Die Ausstellung wird ergänzt durch Plastiken von Eduardo Chillida, Darío Urzay und Ricardo Toja: Sie alle ließen sich von Atxagas Geschichten inspirieren, deren Drehund Angelpunkt das fiktive baskische Dorf Obaba ist.

Atxaga, der mit bürgerlichem Namen Joseba Irazu Garmendia heißt, studierte zunächst Wirtschaftswissenschaften und veröffentlichte 1976 seinen ersten Roman „De la ciudad“. Den Künstlernamen lieh er sich damals von seinem Mitbewohner Bernardo, der ihm auch die Schreibmaschine für seine ersten literarischen Schritte zur Verfügung stellte.

Der Durchbruch gelang dem heute 54-Jährigen im Jahr 1988 mit dem Roman „Obabakoak“, einem Schelmenstreich skurriler Fabulierkunst. 26 Episoden ergeben in diesem Buch, wie auf einer Perlenschnur aneinander gereiht, ein Porträt des Ortes Obaba. Der Leser begegnet einer jungen Lehrerin, die einsam durch die Straßen zieht, einem Diener, der eine nächtliche Reise zu Pferd auf sich nimmt, um dem Tod zu entkommen, und einem Zwerg, der sich für einen großen Dichter hält.

Diskussionen über die Kunst des Geschichtenschreibens sind in die Erzählungen ebenso eingewoben wie eine Betrachtung über die Literatur des 19. Jahrhunderts. Wie das Dorf Macondo in Gabriel García Márquez‘ „Hundert Jahre Einsamkeit“ ist Obaba ein symbolischer Ort auf der Landkarte des menschlichen Bewusstseins, Denkens und Empfindens. Atxaga selbst verglich „Obabakoak“, das vielfach ausgezeichnet und in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurde, mit den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht.

„Alles Sichtbare haftet am Unsichtbaren, das Hörbare am Unhörbaren, das Fühlbare am Unfühlbaren, vielleicht das Denkbare am Undenkbaren“, zitierte Atxaga einmal den deutschen Dichter Novalis und beschrieb damit seine Kunst, die große Welt in Obaba, der kleinen Welt der Bauern, Bettler und Tagelöhner, einzufangen. Obaba ist Hamburg – denn in dieser Stadt beginnt die Romanhandlung – genauso wie Asteasu, Atxagas eigener Heimatort. Im dortigen Bergwerk begegnete der Autor in seiner Kindheit deutschen Ingenieuren:

„Ihr Akzent, ihre zupackende Art sind mir unauslöschlich im Gedächtnis geblieben“, erklärte Atxaga, der zur Ausstellungseröffnung nach Alicante gekommen war, gegenüber der Costa Blanca Rundschau seine besondere Beziehung zu Deutschland. Die deutschen Ingenieure sind eingeflossen in die Figur des Esteban Werfell, eines baskischen Jungen, der sich von seinem Vater – einem deutschen Ingenieur – eingeengt fühlt. Auf besonderen Wunsch Atxagas spielt die Figur des deutschen Ingenieurs auch in der Verfilmung von „Obabakoak“, die seit wenigen Wochen in den spanischen Kinos zu sehen ist, eine wichtige Rolle.

Regisseur Montxo Arméndariz glückte der Versuch, aus der Geschichtensammlung eine zusammenhängende Filmstory zu machen. Als Rahmenhandlung dient die Reise der 25-jährigen Lourdes, die mit der Videokamera Obaba und seine Leute porträtieren will. Die spanisch-deutsche Koproduktion, die in Ustarroz (Navarra) gedreht wurde, tritt für Spanien bei der Bewerbung um die Oscars für nichtenglischen Film an. Obaba ist die Welt, in die Atxagas Erfahrungen aus Kindheit und Jugend einfl ießen. „Die Welt meiner Kindheit war ländlich und einfach, ohne Politik, ohne Lenin, Marx und Freud“, sagte der Schriftsteller in Alicante. Doch irgendwann brach die Politik über das Dorf herein: der Widerstandskampf der Basken, Terrorismus, Gewalt und Unterdrückung.

Über das literarische Schaffen Atxagas brach die Politik Mitte der 90er Jahre herein. Der Roman „Ein Mann allein“ ist das Porträt eines Ex-Aktivisten der Terrororganisation Eta, „Das Fenster zum Himmel“ begleitet eine Eta-Terroristin nach der Verbüßung ihrer Haftstrafe zurück ins Baskenland. Atxagas jüngstes Werk, „Der Sohn des Akkordeonspielers“ (2004), beschreibt einen jungen Mann, der in den 60er und 70er Jahren im gewaltsamen Umfeld der Eta aufwächst. Diese politischen Romane stießen bei der Kritik auf geteiltes Echo.
 
In Alicante kündigte Atxaga nun wiederum eine Kehrtwende an. Hatte er vor wenigen Jahren noch davon gesprochen, mit seiner Literatur zur Verständigung beizutragen und der Gewaltspirale im Baskenland die Kultur entgegenzusetzen, klingt der Schriftsteller nun resigniert. „Es ist alles zur Problematik im Baskenland gesagt und geschrieben, ich bin müde“, sagte er in Alicante und fügte hinzu: „Jetzt sollen die Politiker handeln und mir Bescheid sagen, wenn sich etwas verbessert hat.“
 
Auf die Frage, ob Kultur die Völker verbinden könne, antwortete er nur kurz „Da bin ich skeptisch“ und leitete lieber zu seinem neuesten Buchprojekt über. „Sieben Häuser in Frankreich“ soll es heißen und im nächsten Herbst erscheinen. Atxaga, so scheint es, kehrt zu seinen Wurzeln zurück, auch wenn er betont, das neue Buch sei realitätsnaher als seine früheren Werke. Ein altes Klassenfoto ist der Ausgangspunkt für den Erzähler, der die darauf Abgebildeten auf ihren getrennten Wegen in ihre verschiedenen Häuser begleitet: ein Hotel, ein Gefängnis, ein Tempel und ein Krankenhaus zum Beispiel.
 
Die Inspiration fand Atxaga – wo auch sonst – in Obaba, der Welt, die ihm begegnet und sein Bewusstsein prägt: „Ich hörte, dass ein ehemaliger Schulkamerad von mir inzwischen Mönch in einem hinduistischen Tempel ist.“ Von Bernardo Atxaga sind zahlreiche Werke in deutscher Übersetzung erschienen, darunter „Obabakoak“, „Das Fenster zum Himmel“, „Memoiren einer baskischen Kuh“ sowie das Kinderbuch „Shola und die Wildschweine“.

Erschienen in Costa Blanca Rundschau Nr. 42, Woche 45/2005

Mittwoch, 30. April 2014

Heinz Kraschutzki - Von den Nazis für tot gehalten

Extremer hätte der Wandel nicht sein können: vom Kapitänleutnant der kaiserlichen Reichskriegsmarine zum überzeugten Pazifisten. Heinz Kraschutzki, eine der politischsten und leidgeprüftesten Persönlichkeiten aus dem Kreis der Mallorca-Exilanten, ist fast völlig in Vergessenheit geraten. Jetzt sind – übersetzt in die katalanische Sprache – erstmals seine Memoiren erschienen. 1972 hatte sich der Friedenskämpfer an seine Schreibmaschine gesetzt, unter anderem, um endgültig mit einer Legende aufzuräumen, die seine Person immer noch umrankte: Er war nicht tot. Francos Truppen hatten ihn nicht erschossen.    

Den Entschluss, die Fronten zu wechseln, fasste Kraschutzki unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, in dem der Danziger ein Minensuchboot befehligt hatte: Von nun an hielt er flammende Reden für den Frieden, organisierte Demonstrationen und gründete in Berlin die pazifistische Zeitung „Das andere Deutschland“, für die Größen der Weimarer Republik wie Kurt Tucholsky und Erich Kästner schrieben. Weil er die deutschen Aufrüstungsbestrebungen gegeißelt hatte, wurde Kraschutzki 1932 als Landesverräter angeklagt. Er floh nach Mallorca, wo sich seine Frau und seine vier Kinder bereits 1931 niedergelassen hatten. In Cala Ratjada gründete er die Fabrik „Las Estrellas“, in der mehr als 40 Frauen Körbe und Bastschuhe herstellten.    

Die Ruhe fand 1936 ein jähes Ende: Die faschistischen Truppen rollten Spanien von Süden her auf und hatten Mallorca bald unter ihrer Gewalt. Auf Geheiß des nationalsozialistischen deutschen Konsuls auf den Balearen, Johannes Dede, wurde Kraschutzki verhaftet und seine Familie nach Deutschland deportiert. Obwohl sich deutsche Nazis und die Jünger Francos – wie alte Fotografien beweisen – in Palma regelmäßig zum Umtrunk trafen, klappte ihre Kommunikation offenbar nicht reibungslos: Die Gestapo verlor Kraschutzkis Spur. Sie hielt ihn für tot. Im Volksempfänger habe Kraschutzkis Frau die Nachricht vom Tod ihres Gatten gehört, sagt der mallorquinische Übersetzer und Literaturwissenschaftler Germà Garcìa, der für die neue Veröffentlichung unter anderem einen Briefwechsel mit Kraschutzkis 82-jähriger Tochter führte. Noch 17 Jahre später behauptete Albert Vigoleis Thelen in seinem Mallorca-Schmöker „Die Insel des zweiten Gesichts“, Kraschutzki sei 1936 erschossen worden.   

Aber Kraschutzki lebte, wenn auch unter menschenunwürdigen Bedingungen. Er erlebte eine Odyssee durch die Bürgerkriegsgefängnisse Mallorcas und Lager in Formentera, Málaga, Madrid, Burgos, Gibraltar, Zaragoza und Barcelona. 1938 hatten ihn die Nazis wieder aufgespürt. Auf ihr Geheiß wurde Kraschutzki zu weiteren 30 Jahren Zuchthaus verurteilt.   

Erst nach Ende des Zweiten Weltkrieges gelang es Sympathisanten im britischen Außenministerium, die Freilassung des Friedensaktivisten zu erwirken. Nach neunjähriger Haft sah Kraschutzki seine Frau wieder, die zur Scheidung gezwungen worden war. Sein Engagement hörte nicht auf. Unermüdlich setzte er sich für Frieden und gegen Aufrüstung ein, unterstützte Willy Brandts Ostpolitik und schrieb sich mit Mahatma Ghandi Briefe. Seine alte Wirkungsstätte Cala Ratjada besuchte er immer wieder. Heinz Kraschutzki starb 1982 im Alter von 90 Jahren im Allgäu.


Info: Gefangeneninsel Mallorca

Als am 19. Juli 1936 Francos Truppen die Kontrolle über Mallorca übernahmen, brachen für die Anhänger der Republik Schreckensjahre an. Unter Federführung von Zivilgouverneur Mateu Torres Bestard und Polizeichef Francesc Barrado wurden auf der Insel hunderte politischer Gegner verhaftet. Man internierte sie u.a. im Castell Bellver, im Gefangenenschiff „Jaume I“, das im Hafen von Palma vor Anker lag, in den Forts San Carlos und Illetas sowie mehreren Gemeinde-Gefängnissen. Besonders unmenschlich sollen die Haftbedingungen im Lager Can Mir – es befand sich dort, wo heute das Kino Sala Augusta steht – gewesen sein. In einem ehemaligen Hospiz in der C/. de Sales, nahe dem Paseo del Borne, waren die Frauen inhaftiert. Ab Dezember 1936 wurden überall entlang der Küste Konzentrationslager gebaut, so in Capdellà, s’Espinegar, Port de Pollença, es Rafals dels Porcs, Sant Joan de la Font Santa, Son Catlar, Reganga, es Cap Gros, Albercutx, Port de Sóller. Als Zwangsarbeiter wurden die Gefangenen zum Beispiel beim Bau der Bahnlinie Sa PoblaAlcúdia eingesetzt.


Heinz Kraschutzki: Memòries a les presons de la guerra civil a Mallorca. Palma (Miquel Font) 2004.


Erschienen - bereits vor zehn Jahren - in Mallorca Zeitung, Nr. 213, Woche 23/2004

Montag, 28. April 2014

Gérard de Sède: Die Templer sind unter uns

Dieses Sachbuch mit dem Untertitel "Das Rätsel von Gisors" ist 1963 erschienen. Und schon damals fand der Autor den den legendären Schatz der Tempelritter. Na ja, nicht ganz. Aber er war eben nah dran. Ort des Geschehens ist die Burg von Gisors, im französischen Vexin, an der Grenze zur Normandie.

Der Journalist Gérard de Sède erzählt zu Beginn von seiner Bekanntschaft mit dem ehemaligen Gärtner und Burgführer Roger Lhomoy, der während des Zweiten Weltkrieges auf eigene Faust unter der Ruine buddelte und dabei eine unterirdische Kapelle mit Steinsärgen und Metalltruhen entdeckt haben will. Leider wurde der sagenhafte Fund von ignoranten und engstirnigen Behördenvertretern wieder zugeschüttet und bleibt bis heute verborgen.

De Sède vermutet nun, dass die Templer während der großen Verhaftungswelle 1307 ihren sagenhaften Schatz über eine alte Römerstraße von Paris zur Küste bringen wollten, um ihn über den Ärmelkanal nach England zu verschiffen. Weil sie aber in Gisors aufgehalten wurden, verbargen sie ihn in der nach geheimen Templerregeln erbauten Burg.

Ausführlich zu Wort kommt in dem Buch der "Hermetiker" Pierre Plantard, der vielen als Erfinder der Templer-Verschwörungstheorien rund um die sogenannte Prieuré de Sion gilt. In den Sechzigerjahren arbeitete er de Sède zusammen. Beide brachten schließlich in ihrem Buch "L'Or de Rennes"  die Gerüchte um Rennes le Château und das mysteriöse  Priorat auf. Damit wiederum schufen sie die Grundlage für die Verschwörungstheorien, die Lincoln, Baigent und Leigh 1982 ihrem Werk "Der heilige Gral und seine Erben" und später auch Dan Brown in seinem Thriller "Sakrileg" ausbreiteten.

Verglichen mit diesen Werken fehlt "Die Templer sind unter uns" noch der Charme, den die verblüffende Einfachheit und der Aha-Effekt dieser Theorien haben. Ist dort ein schillernde Figur wie der plötzlich zu Reichtum gelangte Dorfpfarrer Bérenger Saunière der Protagonist, muss hier noch ein durchgeknallter Gärtner herhalten. Dort ist es eine einleuchtende Verschwörungstheorie um die Nachkommenschaft von Jesus Christus und Maria Magdalena, hier sind es nur vage Spekulationen über eine Burg, die wohl nach komplizierten Sternen-Konstellationen angelegt wurde und einen Schatz, über dessen Substanz nichts weiter gesagt wird. 

"Die Templer sind unter uns"  liest sich spannend, auch wenn gegen Ende - speziell bei Plantards Ausführungen - keiner mehr durchsteigt. Die Geschichte des Templerordens ist aber sehr gut und übersichtlich zusammengefasst. Natürlich kommen auch - wie es sich für ein Werk zum Thema gehört - Hermetiker, Freimaurer, Alchimisten zu ihrem Recht.

Um noch einmal zu Burg von Gisors zu kommen: Wenn es stimmt, was meine oberflächliche Internetrecherche ergeben hat, so wurde unter der Burg offenbar bis heute nie nach der vermuteten Kapelle gegraben. Begründung: Grabungen würden die Statik der Ruine gefährden. Aber gäbe es denn heutzutage nicht - so zumindest meine laienhafte Vorstellung - andere Möglichkeiten, herauszufinden, was sich unter der Burg von Gisors verbirgt?

Freitag, 18. April 2014

Herbert Rosendorfer: Der Meister

 
"Der Meister" ist einer der letzten unter Rosendorfers zahlreichen Romanen. So zahlreich, so gut, denn der 2012 verstorbene Südtiroler wird chronisch unterschätzt und gehört mit Sicherheit zu den größten deutschsprachigen Erzählern der vergangenen Jahrzehnte.


"Der Meister" ist ein Palaver unter Freunden in einem venezianischen Restaurant. Die beiden erinnern sich an ihren früheren Freundeskreis, eine illustre Runde von Studenten der Musikwissenschaft samt Entourage.

Dazu gehören der göttliche Giselher mit seinen nicht immer fundierten, aber stets beeindruckenden Vorträgen zu allen erdenklichen Themen. Carlone, der aberwitzige Mengen isst, weil er Angst hat, zu verhungern. Die schöne und intelligente Helene Romberg, die mit Vorliebe nackt ist und deren genaue Beziehung zum ebenso tierlieben wie bauernschlauen Monisgnore Rohrdörfer - auch er eine schillernde Randfigur - nicht ganz geklärt wird. Ein kurioses Personal, das teils liebenswert, teils unausstehlich, meist beides ist.

Das gilt im Besonderen für den Titelhelden, den alle den Meister nennen, einen "linkischen, dürren, schwarzstrubbeligen Pedanten und Besserwisser", einen "leicht wurzelzwergischen, rumpelstilzigen ewigen Doktoranden", der ein besonders gefährlicher Besserwisser ist, weil er alles, wovon er spricht, wirklich besser weiß.

Bei allem Genie und unerschöpflichen Wissensschatz ist dieser Meister eine tragische Figur, die unter ärmsten Verhältnissen lebt, an panischer Prüfungangst leidet und obendrein mit Haut und Haar der vorlauten und egozentrischen Emma Raimer verfallen ist.

Ein Verleger hilft dem armen Schlucker zu einem kleinen Verdienst, indem er in Artikel für ein Musiklexikon schreiben lässt. Ab hier nimmt der Plot eine aberwitzige Wendung, wobei dem verkannten Komponisten Thremo Tofandor eine entscheidende Rolle zukommt. Aus den launigen Anekdoten heraus wuchert ein astreiner Krimi.

Wie immer bei Rosendorfer schlägt die Handlung Haken und leuchtet in jeden Winkel des Menschlichen hinein, wo dann allerhand zum Vorschein kommt. Jede Figur, und wird sie auch noch so kurz von der Handlung gestreift, zieht eine Lebensgeschichte nach sich.

"Der Meister" ist einer jener kleinen Romane, mit denen Rosendorfer sich einmal mehr selbst als Meister der Sprache und weiser Geschichtenerzähler erwiesen hat.

Mittwoch, 2. April 2014

Elke Koch: Schwäbische Alb Mitte


Frühling ist Wandersaison: Höchste Zeit, ein zu Unrecht unterschätztes Wandergebiet fast vor der Haustür zu entdecken. Der neue Führer „Schwäbische Alb Mitte“ von Elke Koch hilft dabei: Zwischen den Landkreisen Göppingen im Nordosten, Zollernalbkreis im Westen und Biberach im Süden führt das Buch ein verwunschenes Land der Burgen und Höhlen, Felsschluchten und Wacholderheiden, Albdörfer und Wallfahrtskapellen.

Die Autorin kennt sich bestens aus und macht nicht nur auf die bekannten Anziehungspunkte, sondern auch auf versteckte Kleinode und lohnende Extratouren aufmerksam. Wie wäre es mit einer Tour zum Landgestüt Marbach, einer nächtlichen Sternenwanderung zum dunkelsten Ort der Alb, einer Fahrt mit dem historischen Schienenbus „Ulmer Spatz“ oder einem Besuch bei der schönen Lau am Blautopf? Und wer kennt schon die „Onderhos“ und die „Küssende Sau“?

Zu den 30 Touren gibt es oft einfachere und kinderwagenfreundliche Varianten. Neben einer Fülle von Servicetipps und Hintergrundinformationen hält der Band vor allem für Familien ein besonderes Schmankerl bereit: Rätselfragen zu jeder einzelnen Tour machen die Entdeckungsreise über die Schwäbische Alb zu einer aufregenden Schnitzeljagd.

 Elke Koch: Schwäbische Alb Mitte. Unterwegs mit der ganzen Familie. G. Braun Verlag. 212 Seiten. 16,95 Euro.

 Erschienen in: Ipf- und Jagst-Zeitung/Aalener Nachrichten am 2. April 2014.