Dienstag, 31. Dezember 2024

Doris Dörrie: Die Reisgöttin

"Es gibt ein Mittel gegen die Einsamkeit, die einen plötzlich in einer fremden Stadt überfällt: etwas kaufen: eine Ansichtskarte, einen Kaugummi nur, einen Bleistift oder Zigaretten: etwas in die Hand bekommen, teilnehmen am Leben dieser Stadt, indem man etwas kauft..."
Heinrich Böll: Irisches Tagebuch 


Daran musste ich denken angesichts Doris Dörries 47 kleiner autobiographischer Kapitel, in denen sie Fundstücke präsentiert. Mitbringsel aus aller Welt, die als Habseligkeiten Teil ihrer Lebenserzählung wurden. Vielleicht ist dieses Kaufen ja ein Stemmen gegen die Einsamkeit einer Zeit, in der es zu jeder Zeit möglichst ist, an jedem Ort der Welt zu sein. Aber eben nur virtuell.

Dörrie besitzt eine japanische Feuerwehrmütze, vMokassins aus dem amerikanischen Westen, ein Gehirn-Modell aus dem Iran, Waschseife aus den USA, ein Zigarillo aus Kuba, der perfekte Gurkenhobel, eine mexikanische Wrestlermaske, aber auch vom Meer geschliffene Glasstückchen oder ein von ihrem Vater getöpfertes Nilpferd… 

Natürlich sind es nicht die Dinge selbst, sondern die Geschichten, Gedanken, Gefühle, immer: die Menschen dahinter. Dörrie ist nicht nur eine große Sprachzauberin, sondern auch eine sehr humorvolle Menschenkennerin. Sie geht mit weit geöffneten Sinnen durch die Welt. Und das macht dieses Buch - es beinhaltet obendrein eine geniale Philosophie der Flohmärkte und Betrachtungen über die sogenannte kulturelle Aneignung, die doch eigentlich eine Bereicherung ist - so lesenswert.

Montag, 30. Dezember 2024

Sahner/Stähr: Die Sprache des Kapitalismus


Für ihr Buch, in dem sie der Sprache des Kapitalismus auf den Grund gehen, haben der Literaturwissenschaftler Simon Sahner und der Ökonom Daniel Stähr dieses Jahr den Leserpreis beim Deutschen Wirtschaftsbuchpreis erhalten. Besagte Sprache, die voll und ganz auf ein einziges Wirtschaftssystem – den Kapitalismus – gemünzt ist, beherrscht allgegenwärtig Massenmedien, Internet, Politik und Werbung. Für die meisten von uns ganz unbewusst.

Wie die Autoren aufzeigen, kommt diese Sprache eingängig, reißerisch und sexy daher. Der Kapitalismus erzählt gerne Geschichten: von Selfmade-Milliardären wie Steve Jobs oder Elon Musk, die es mit Genie, Leistung, harter Arbeit und den richtigen Ideen zum richtigen Zeitpunkt zu sagenhaftem, erstrebenswertem Reichtum gebracht haben. Und von Armen, die faul sind und dem Sozialstaat auf der Tasche liegen.

Der Kapitalismus liebt einprägsame Metaphern, etwa vom Erdbeben an den Märkten oder dem Finanz-Tsunami. Metaphern, die gleichzeitig ein Ausgeliefertsein an unbeherrschbare Kräfte suggerieren. Der Markt, so das kapitalistische Narrativ, führt ein Eigenleben und agiert mit „unsichtbarer Hand“. Solches beobachten die Autoren, wenn die Rede von „steigenden“ Preisen oder Mieten ist, wenn Märkte „beruhigt“ werden müssen, wenn staatliche Markteingriffe als unnatürlich erscheinen. 

 Diese Sprache, die oft von handfesten wirtschaftlichen Interessen getrieben ist, verschleiert, dass Alternativen existieren und Wohlstand für viele nicht zwingend ein kapitalistisches System voraussetzt. Und, dass es in komplexen Wirtschaftskreisläufen immer Handelnde gibt, die Vorteile haben: Preise und Mieten steigen nur, wenn sie jemand erhöht. 

 Die Autoren, die außer zahllosen Beispielen wirtschaftswissenschaftliche Grundlagen einfließen lassen, schlagen vor, über postkapitalistische Alternativen nachzudenken. Konkret nennen sie Ulrike Herrmanns in Das Ende des Kapitalismus skizzierte Idee von eines von der Kriegswirtschaft inspirierten Wachstums-Gegenmodells, einen demokratischen, lokal orientierten Degrowth-Kommunismus und ein mithilfe von KI und Big Data zentral geplantes Wirtschaftssystem. 

 So weit, so einleuchtend. Aber auch so schnell erzählt. Deshalb wälzen die Autoren auf diesen rund 300 Seiten vieles breiter aus als nötig, Doppelungen sind häufig in diesem akademisch gründlichen, mit etlichen Fußnoten versehenen Text. Konsequenterweise legen sie Wert auf geschlechtergerechte Sprache und gendern mit einem Sternchen. Das ist dem Lesefluss nicht immer zuträglich, hier aber im Sinne der Glaubwürdigkeit angebracht. 

 Simon Sahner, Daniel Stähr: Die Sprache des Kapitalismus. 304 Seiten Verlag S. Fischer, 24 Euro.


Erschienen in: Wirtschaft Regional, Dezember 2024

Sonntag, 22. Dezember 2024

Kai Meyer: Die Bibliothek im Nebel

Ein bibliophiler Roman des Viel- und Bestsellerschreibers Kai Meyer, abwechselnd erzählt in den Jahren 1917, 1928 und 1957. Schauplätze sind Sankt Petersburg, Leipzig, die Côte d’Azur, Paris, ein Ostseeschiff und das finnisch-sowjetische Grenzgebiet. Im Mittelpunkt steht Mara, ein Mädchen aus Karelien, dass sich für barbarischen Missbrauch ebenso grausam rächt. Gut, dass ihr vergiftete Tinte aus einer „Narrenbibel“ in die Hände gefallen ist. Kennen wir das nicht aus „Der Name der Rose“? 

Klar, hier dürfen nicht allzu hohe Ansprüche an lebendige Sprache gestellt werden. Die gewählten Bilder sind oft schief, die vielen, vielen Klischees ärgern ein wenig. Macht nichts, einfach schnell drüber weg lesen. Aber, dass der Mann Bestseller schreibt, kommt nicht von ungefähr.

Hier passt nämlich vieles einfach perfekt: das Timing stimmt, die perfekte Komposition von Spannungsbögen erinnert an Carlos Ruiz Zafon oder Guillaume Musso. Dazu wartet er mit wunderschönen Szenerien auf: eine riesige Bibliothek in einer verfallenen Schlösschen an der französischen Mittelmeerküste, eine unheilvolle Wahrsagerin, mordende Menschenhändlerbanden, ein Puppentheater, eine Fahrt auf dem Seelenverkäufer, nimmermüde Druckereien und viele Bücher - darunter ganz prominent Georg Heyms Umbra vitae.Unterhaltsam! Leseempfehlung.

Sonntag, 1. Dezember 2024

Haruki Murakami: Honigkuchen

Der Schriftsteller Junpei erzählt der kleinen Sara die Geschichte vom Honigbär Masakichi, um sie von ihren Albträumen rund um den grausigen Erdbebenmann zu beruhigen. Sara ist das Kind von Jumpeis Jugendliebe Sayoko und seines besten Freundes.

Junpei glaubt, das Beste verpasst zu haben. Doch dann geht ihm auf, dass er die Geschichten anders erzählen und enden kann - die Geschichte vom Honigbär, seine anderen Kurzgeschichten, aber auch die der mittlerweile getrennt lebenden Sayoko, die von Sara - und seine eigene.

Murakami beschwört in seiner typisch holzschnittartigen Sprache die tiefe Wahrheit herauf, dass uns die Dinge eigentlich immer erst beim zweiten oder dritten Mal gelingen. Und Kat Menschiks Illustrationen treffen - so seltsam sich das in diesem Zusammenhang anhört - perfekt den Ton.