Samstag, 2. August 2025

Robert Walser: Der Spaziergang

Erzählung von 1917 über einen einzigen, ausgedehnten Spaziergang. Unser Spaziergänger beschreibt genauestens, was er wahrnimmt, denkt und fühlt.

Robert Walser ist einzigartig in der deutschen Literatur. Mit faszinierender Ironie und Leichtigkeit versteckt er spielerisch überall ein doppelter Boden. Am Ende ist alles nicht so schwer. O ja.

Dabei ist dieser Fabulierer so unendlich sprachverliebt, es ist beglückend mitzuerleben, wir sein Erzählen Kapriolen schlägt, immer neue Höhen erklimmt.

So ist unser Erzähler um Mittagessen bei einer Frau Aebi (wir sind in der Schweiz) eingeladen. Zunächst schmeckt es, doch dann nimmt das Ereignis eine bedrohliche Wendung:

Als ich plaudern und Unterhaltung machen wollte, wehrte mir Frau Aebi ab, indem sie sagte, daß sie auf jederlei Unterhaltung mit der größten Freude verzichte. Das seltsame Wort machte mich stutzig, und es begann mir angst und bang zu werden. Ganz im geheimen fing ich an, vor Frau Aebi zu erschrecken. Als ich aufhören wollte, abzuschneiden und einzustecken, weil ich deutlich fühlte, daß ich satt sei, sagte sie mir mit fast zärtlicher Miene und Stimme, die ein mütterlicher Vorwurf leise durchzitterte: »Sie essen ja gar nicht. Warten Sie, ich will Ihnen hier noch ein recht saftiges, großes Stück abschneiden.« Ein Grauen durchrieselte mich, (…). »Ich vermag unmöglich, weiter zu essen«, sagte ich dumpf und gepreßt. Ich war schon nahe am Ersticken und schwitzte bereits vor Angst. Frau Aebi sagte: »Ich darf unmöglich zugeben, daß Sie schon aufhören wollen, abzuschneiden und einzustecken, und nimmermehr glaube ich, daß Sie wirklich satt sind. Sie sagen ganz bestimmt nicht die Wahrheit, wenn Sie sagen, daß Sie bereits am Ersticken seien. Ich bin verpflichtet, zu glauben, daß das nur Höflichkeiten sind. Auf jederlei geistreiches Geplauder verzichte ich, wie ich Ihnen schon gesagt habe, mit Vergnügen. Sie sind sicherlich hauptsächlich zu mir gekommen, um zu beweisen und zu bekunden, daß Sie Appetit haben und ein starker Esser sind. Diese Anschauung darf ich unter keinen Umständen preisgeben. Ich möchte Sie recht herzlich bitten, sich in das Unvermeidliche gutwillig zu schicken; denn ich kann Ihnen versichern, daß es für Sie keine andere Möglichkeit gibt, vom Tisch aufzustehen, als die, die darin besteht, daß Sie alles, was ich Ihnen abgeschnitten habe und fernerhin noch abschneiden werde, säuberlich aufessen und einstecken. Ich fürchte, daß Sie rettungslos verloren sind; denn Sie müssen wissen, daß es Hausfrauen gibt, die ihre Gäste so lange nötigen, zuzugreifen und einzupacken, bis dieselben zerbrechen. Ein jämmerliches, klägliches Schicksal steht Ihnen bevor; aber Sie werden es mutig ertragen. Wir alle müssen eines Tages irgend ein großes Opfer bringen. Gehorchen Sie und essen Sie. Gehorsamkeit ist ja so süß. Was schadet es, wenn Sie dabei zugrunde gehen. Hier dieses höchst delikate, zarte und große Stück werden Sie mir ganz gewiß noch vertilgen, ich weiß es. (…).« »Entsetzliche Frau, was muten Sie mir zu?« schrie ich, indem ich vom Tisch jählings aufsprang und Miene machte, auf und davon zu stürzen.

Nun, wie eine derart ausweglos bedrückene Situation bei Franz Kafka weiterginge, können wir uns wohl vorstellen. Bei Robert Walser lautet der nächste Satz aber so:

Frau Aebi hielt mich jedoch zurück, lachte laut und herzlich und gestand mir, daß sie sich einen Scherz mit mir erlaubt habe, den ich so gut sein solle, ihr nicht übel zu nehmen

Gegenüber einem Herrn Taxator hält unser Erzähler ein wunderwunderschönes Plädoyer für das Spazieren. Schon dieses kann - gleich Dostojewskis „Großinquisitor“ - jederzeit alleine stehen, auf einen Sockel gehoben und bewundert werden. Unbedingt lesen.


Samstag, 19. Juli 2025

Stuart Turton: Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle

Es ist doch immer das gleiche: Der Held hat den Bösewicht schon überwunden, hat ihn endlich in seiner Gewalt. Doch dann zögert er. Er denkt noch einmal nach, hat Skrupel, lässt sich auf den vermeintlich letzten Wunsch des Bösewichts ein und dann gewinnt dieser durch einen miesen Trick die Oberhand und fackelt nicht lange. Aaahhh! Ich weiß, dass es immer, immer so ist, aber in diesem Fall habe ich den Helden wieder einmal so verflucht, wollte ihm verzweifelt Beine machen. Ein Buch, in dem so etwas passiert, in dem das, in dem ich das Kind bin, dass das Kasperle schreiend vor dem Krokodil warnt, ist richtig gut. Ich weiß, dass die Handlung so konstruiert sein muss, aber ich bin so in ihr gefangen, dass ich genau das verhindern will.

Bei „Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle“ wollte ich den Ich-Erzähler so oft schütteln wie wohl noch nie einen seiner Vorgänger. Und das beweist: Dieses Buch ist in meinen Augen ein Meisterwerk. E.T.A. Hoffmann ist auferstanden und hat zwischenzeitlich Edgar Allan Poe, Wilkie Collins, Anthony Horowitz und Agatha Christie gelesen.

Im viktorianischen England stolpert ein Mann in ein Herrenhaus, wo gerade ein Maskenball vorbereitet wird. Er hat jede Erinnerung an früher verloren. Wie ihm andere Gästen eröffnen, ist er ein skrupelloser Drogenhändler. Oder besser: Er war es bislang, möchte es aber nicht mehr sein. Am Tag darauf erwacht er. Aber er ist nicht mehr der Drogenhändler, sondern ein verstörter Butler. Und es ist auch nicht der Tag darauf, sondern derselbe, den er in anderer Gestalt schon durchlebt hat. Ein seltsamer Herr im Kostüm eines Pestdoktors enthüllt ihm: Achtmal hintereinander wird er an diesem Tag aufwachen,  immer im Körper eines anderen Maskenball-Gastes. Dann beginnt das Spiel von vorne und er verliert wieder sein Gedächtnis. Es sei denn, die acht Gäste, die er bewohnt, können den Kriminalfall lösen: Wer hat Evelyn Hardcastle getötet?

Jeder einzelne Satz ist ein Fest für Fans von Logikrätseln. Wenn die landläufige Logik an ihre Grenzen kommt - und das tut sie bei Zeitreisegeschichten zwangsläufig - schlägt sie kreativ ideenreiche Haken. Und ganz nebenbei ist das ein richtig guter, spannender Krimi. 

Samstag, 12. Juli 2025

Frédéric Lenoir: Das Geheimnis des Weinbergs

Klingt zwar nach Krimi, es ist aber ein schönes kleines Märchen. 

Pierre, ein armer junger Tagelöhner lebt bei seiner Mutter. Seine Selbstlosigkeit, die die habgierigen und neidischen Dorfbewohner als Dummheit deuten, bringt ihm ein sagenhaftes Erbe ein. 

Doch dieses tauscht er sogleich gegen einen scheinbar wertlosen Acker, einen ehemaligen Weinberg. Dort hat er nämlich ein Geheimnis entdeckt, das er mit niemandem - auch nicht dem Leser - teilt. Die Dörfler vermuten einen riesigen Goldschatz auf dem Acker und wollen Pierre mit Schaum vor dem Mund zur Herausgabe zwingen…

Märchenhaft schön und einfach geschrieben, Fuchs 8 nicht unähnlich. Aber nichts für Menschen, die Hans im Glück für einen Dummkopf halten.

Dienstag, 8. Juli 2025

Marion Poschmann: Die Winterschwimmerin

Thekla schwimmt im eiskalten Wasser. Diese Begegnung mit sich selbst wird zur ganz realen Begegnung mit der Natur - in Gestalt eines entlaufenen Tigers. 

Marion Poschmann hat diese Legende als virtuose Versdichtung gestaltet. Unter verschiedenen Formen - teils gereimt - strahlt die mittelalterliche Liedform des Leich hervor.

Ein sprachverliebtes Kunstwerk. Unbedingt mehrmals lesen. 

Samstag, 5. Juli 2025

Thomas Tebbe (Hg.): Wenn Kopf und Buch zusammenstoßen


Von 1998. Literarische Texte, Essays und Erzählungen, die Lust aufs  Lesen machen. Bei einem Bücherflohmarkt in der Philologischen Bibliothek der FU Berlin gekauft, die ich für mein neues Buch „Berlin für Buchverliebte“ in Augenschein genommen habe.

Eigentlich  lese ich Anthologien ungern. Entweder, es sind die ewig gleichen, schon tausendmal gelesenen Texte. Wenn sie - wie in diesem Fall - exklusiv in dieser einen Zusammenstellung auftauchen, so ist es häufig Resteverwertung. Texte zweiter Wahl, die sonst eben gar nicht erscheinen würden. Hier aber, das muss ich sagen, wirkliche Perlen. 

Zé do Rock hat eine Story in der von ihm erfundenen Sprache Ultradeutsch - die radikal so geschrieben wie gesprochen wird - beigesteuert. Ich kannte ihn nicht, habe nun aber gelesen, dass er später noch weitere kreative Spielarten des Deutschen ersonnen hat. Sehr spannend. 

Christian Kracht nimmt in „Fünf Briefe, die ich noch nicht beantwortet habe“ den (kaputten oder auch sehr menschlichen) Figuren- und Themenkosmos seiner folgenden Romane  vorweg.

Fabelhaft fängt Burkhard Spinnen beim Rekapitulieren einer auf den ersten Blick belanglosen Kindheitslektüre („Coco ist an allem schuld“ über einen ausgebüxten Zooaffen) dieses Gefühl ein, das so unendlich viel bestimmt und bedeutet im Leben: Kindheit eben.

Michael Köhlmeier tischt die skurril-witzige Schelmengeschichte „Trost von Beckett“ auf. Herbert Rosendorfer erzählt vom Rabbi, der den Nazis auf fliegenden Buchseiten entkommt. 


Donnerstag, 3. Juli 2025

Nina George/Jens J. Kramer: Die magische Bibliothek der Buks. Das verrückte Orakel.

Die Buks sind winzige Buchschutzgeister mit riesigen Augen, die in einer versteckten Bibliothek leben. Entsetzt müssen sie feststellen, dass sich unter den von ihnen gehüteten Büchern die "Bleichkrankheit" ausbreitet - die Buchstaben verschwinden einfach daraus. Vielleicht liegt es daran, dass in der dystopischen Welt um die abgeschottete Bibliothek herum das Lesen verpönt, ja im Grunde verboten ist. Kinder werden mit Smartphones, Tablets und virtueller Realität diszipliniert. Die Geschichte kommt in Gang, als eine Gruppe von vier Freunden, zwei Mädchen und zwei Jungs, zufällig die Bibliothek entdeckt.

Eine sehr liebevoll geschriebene Hommage an die Welt der Bücher, der Literatur und der Fantasie, geeignet für Kinder und Erwachsene (auch wenn andauernd und ausschließlich anglo-amerikanische (Kinder-)Literatur thematisiert wird - gab es denn nie etwas anderes?). 

Hat Die magische Welt der Buks das Zeug, zu einem Klassiker à la Tintenherz zu werden? Das kann ich nach diesem ersten Band noch nicht beurteilen. Zu wünschen wäre es dieser Reihe, die bislang aus zwei Teilen besteht (der dritte ist angekündigt). Schade ist der allzu offene Schluss von Teil 1 - die Geschichte bricht einfach mittendrin ab. Aber vielleicht macht das den meisten nichts aus, die gleich zu Band zwei greifen. Vielleicht mache ich das auch - irgendwann. Mal sehen.

Freitag, 13. Juni 2025

Meike Winnemuth: Bin im Garten

Ich weiß nicht, was ich mir von diesem Buch erwartet habe. Auf jeden Fall nicht, dass es so gut ist. Ich hatte ja schon von dieser Autorin gehört, die bei Jauch eine halbe Million gewonnen hat, danach auf Weltreise ging und dann das Gärtnern für sich entdeckt hat. Da mich dieses Thema interessiert, habe ich es mir zu Gemüte geführt. Und ich muss sagen: Lohnt sich.

Die Autorin lebte 2018 ein Jahr lang in einem kleinen Häuschen mit großem Garten an der Ostseeküste und führte von Januar bis Dezember ein originelles Gartentagebuch. Der Rückzug in Garten und Natur eignet sich wie kaum etwas, um über das Leben, die Rolle des Menschen darin, Arbeit, Wachsen, Ziele, Lernen, Scheitern, Vergänglichkeit und vieles mehr zu philosophieren. Nicht umsonst wird gleich zu Beginn auf Henry David Thoreau und seine Einsiedelei am Walden Pond Bezug genommen. 

Zu den Beschreibungen und Betrachtungen gibt es natürlich eine Menge praktischer Gartentipps. Wobei die gar nicht so im Vordergrund stehen, es ist ja kein Ratgeber. Dafür habe ich Gartenlesetipps (Die Wurzeln der Welt von Emanuele Coccia) und Gartenfernsehtipps (BBC Gardener‘s World) mitgenommen. 

Was man sagen muss: Meike Winnemuth steckt in diesen Garten eine Menge eigenes Geld rein. Lässt vielfach den Boden ausbaggern, Pflaster verlegen, großes Pflanzenmaterial ankarren. Aber es ist eben ein Jahr lang ihr Fulltimejob. Und in diesem Jahr muss alles passieren, ehe sich Frau Winnemuth wieder anderen Projekten zuwendet. Also ist es eher das Format, das nicht zu meiner persönlichen Philosophie vom Gärtnern passt,  ja sogar eher das Gegenteil ist.

Was ist meine Philosophie? Na, dass ein Garten ein lebenslanges Projekt ist. Und ein sanfter Begleiter, dem man nicht mit Gewalt kommen sollte. Die Natur sitzt immer am längeren Hebel. Ihn mit Hauruck-Aktionen auf die eigenen Bedürfnisse zu trimmen, funktioniert nicht. Oder irgendwie doch, aber konsequent weitergeführt landet man dann irgendwann beim Kiesgarten. Oder man betreibt eine Landwirtschaft. 

Vielleicht sind Winnemuths kostspielige Aktionen einfach nötig, wenn man so ein Mammutprojekt in ein kompaktes Gartentagebuch-Jahr packen muss. Denn eigentlich ist ja auch ihre Philosophie eine geerdete: Einfach machen, das klappt schon. Und wenn es nicht klappt, dann klappt etwas anderes.

Einfach sehr sympathisch mit angenehmem und geistreichem Humor verfasst. Und wer dann auch noch Kurt Tucholsky zitiert, kann keine ganz schlechte Autorin sein. 


Sonntag, 8. Juni 2025

Michail Bulgakow: Der Meister und Margarita

Der Meister heißt Meister, weil er einen Roman geschrieben hat - und dieser hat die wahre Geschichte des unglücklichen Pontius Pilatus erzählt. Im kommunistischen Moskau wird sein Roman jedoch von der Kritik zerrissen - besonders ein gewisser Latunski tut sich hier unrühmlich hervor. Den Meister zerstört das so sehr, dass er sein Manuskript vernichtet und in der psychiatrischen Klinik landet. Nicht einmal seine Geliebte Margarita weiß, dass er sich dort aufhält.

Glücklicherweise taucht der satanische Deutsche Voland samt einem Gefolge von Teufeln auf und wirbelt das Heuchlertum im stalinistischen Moskau - das sich nur mit einer absurden „Säuberungswelle“ zu helfen weiß - ordentlich durcheinander. Margarita aber darf mit ihrer Hilfe zur Hexe werden, nackt auf einem Besen durch Russland fliegen, Latunskis Wohnung verwüsten und schließlich den Meister wieder treffen. Die Teufelsclique ermöglicht ihm an der Seite von Margarita die Ruhe, die er braucht, um seinen Roman zu vollenden - und so darf der alte Pilatus endlich mit seinem Hund über die Mondstraße zu dem Mann gehen, den er verurteilt hat.

In diesem faustischen Werk von Michail Bulgakow steckt so viel, dass gar keinen Sinn ergibt, sich hier in Deutungen zu ergehen. Es geht als eigenständiges Kunstwerk durch, das für sich selbst spricht. Beziehungsweise: Die Gedanken so gut ausdrückt, dass jede Interpretation nur eine Krücke wäre - nur die zweitbeste Art, es zu sagen. Wer das nicht wahrhaben will, dem geht es wie meinem Deutschlehrer. Aber das ist halt meine Meinung. Selbst lesen. Literatur statt Sekundärliteratur, Bücher statt Blogs. Denn Manuskripte brennen nicht.

Donnerstag, 5. Juni 2025

Gustave Flaubert: Bibliomanie

Eine kleine Schrift des damals 15-jährigen Gustave Flaubert. Schauplatz Barcelona im 19. Jahrhundert. Der  abtrünnige Mönch Giacomo ist voll und ganz den Büchern verfallen. Der Wahn, das eine, geliebte Buch zu besitzen bringt ihm und allen, die damit in Berührung kommen, Verderben und Tod.

Wenn Menschen heute auf Social Media stapelweise Bücher vorzeigen, die sie nie und nimmer gelesen haben können, dann ist das nicht neu. Hier ist einer, der gar nicht einmal lesen kann. Es geht ihm nur um das Äußere der Bücher. Auch wenn man sagen könnte, dass das ja nicht verwerflich sei, so ist es doch der Kern dieser Geschichte. Diese Giacomo versündigt sich an den Büchern, weil er ihr Inneres missachtet.

Diese etwas wirre Geschichte um einen wirren Geist wird durch die fantastischen Illustrationen von Burkhard Neie auf eine andere Ebene gehoben. Neue kombiniert Kalligrafie, Typographie (Aldo Manuzio ist unverkennbar), Comic und Linolschnitt-Ästhethik und beschwört in Braunschattierungen die ganze bedrückende Düsternis herauf, die diese Erzählung ausmacht. 

Erschienen in der Insel Bücherei in einem kleineren als dem jahrzehntelang üblichen Format. Ich habe selten ein schöner gestaltetes Buch gesehen. Ein Hand- und Augenschmeichler. Giacomo hätte seine Freude.

Sonntag, 4. Mai 2025

Friedrich-Christian Delius: Die Frau, für die ich den Computer erfand

In diesem Buch von 2009 lässt der 2022 verstorbene Friedrich-Christian Delius Konrad Zuse (1910 -1995), den verkannten Berliner Erfinder des Computers aufleben und erzählen. Der fiktive Zuse sitzt mit einem Journalisten in einem hessischen Landgasthof und spricht bis in den frühen Morgen hinein ein Monolog über sein Leben auf dessen  Ba Er berichtet, wie er seine Rechenmaschine in Kreuzberg entwickelt hat und diesen nach dem Kriegsende nach Westdeutschland, rettete wo er sich anschließend eine Existenz als mittelständischer Unternehmer aufbaut - hier hält sich Delius an Zuses echte Biografie.

Neu - und das ist die „Enthüllung“: Delius sucht die Frau. Und findet die Frau. Die Frau für die Zuse den Rechner erfand, und für die er alle damit verbundenem Strapazen auf sich nahm, ist Ada Lovelace: Die englische Mathematikerin, Tochter Lord Byrons, soll 100 Jahre vor Zuse das Programmieren vorausgedacht haben. Er stellt sie als seine große Liebe vor, die ihn alle Hindernisse überwinden und an seinem großen Ziel festhalten lässt. 

Na ja. Darf er ja. Ist aber jetzt nicht so unerhört, wie uns der Zuse-Erzähler einhämmern will. Da haben andere in der Literatur schon ganz andere Dinge, Automaten, Maschinen, Gegenstände und künstliche Seelen geliebt. Aber es hat wohl auch seinen Grund, warum dieser Roman nicht in die Geschichte eingegangen ist - anders als Zuses Erfindung.

Sonntag, 27. April 2025

Shaun Bythell: Tagebuch eines Buchhändlers

Haha, das ist wirklich ein gutes Tagebuch: Der Schotte Shaun Bythell erweist sich in seinen Aufzeichnungen aus dem Jahr 2014 als Prototyp des misanthropischen Antiquars, der mir schon so oft über den Weg gelaufen ist. Alles geht den Bach runter  - das kann nicht oft genug betont werden, und Schuld sind natürlich die unausstehlichen Kundinnen und Kunden.

 Wobei ich fast nicht glauben kann, dass Bythell das wirklich alles erlebt hat. Die Menschen, die seinen Buchladen betreten, sind anscheinend durchweg geizig, vorlaut, rechthaberisch, präpotent und rücksichtslos. Sie schmeißen wertvolle Bücher herum, feilschen, machen schlechte Witze, nerven mit ihren Lebensgeschichten, erweisen den Büchern und nicht zuletzt dem Antiquar selbst einfach nicht den Respekt, der ihnen zusteht. Super amüsant - und einfach auch brillant lakonisch erzählt. 

Nebenbei ist noch sehr viel über Bücher, Literatur, Buchhandel und Buchkultur zu erfahren. Ich greife gleich zum zweiten Band.

Dienstag, 22. April 2025

Arne Jysch/Volker Kutscher: Der nasse Fisch

1929: Polizeikommissar Gereon Rath hat es aus Köln nach Berlin verschlagen. Er wird dem Sittendezernat zugeteilt, möchte aber wieder in die Mordinspektion. Leider hindert ihn sein unrühmlicher Abgang aus Köln daran. Dann kommt er dunklen Machenschaften auf die Spur, die nach organisierter Kriminalität riechen und beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln. Inzwischen fast schon eine altbekannte Geschichte, Volker Kutschers Roman Der nasse Fisch wurde nicht nur von Arne Jysch in diese packende Graphic Novel verwandelt, sondern als Serie Babylon Berlin kurz darauf auch verfilmt.

Jysch geht in seinem Comic weit über Kutschers Romanverlage hinaus. Er kommt zwar (im Gegensatz zu Verfilmung) ohne zusätzliche Handlungsstränge aus, aber er füllt Berlin das der 20er wesentlich gekonnter mit Leben. Realistische Stadtansichten, Interieurs, ganze Berliner Gebäudekomplexe der Vorkriegszeit, deren Überreste heute nur noch zu erahnen sind. Der Comic in  in schwarz-weiß gehalten, wie ein gelungener Film aus dieser Zeit spielt er meisterhaft mit Licht und Schatten, Mienen und Konturen.

Wie schon zu bemerken ist, bin wirklich kein Comic-Kenner, sondenr habe dieses Buch allem zur Recherche für mein neues Buch Berlin für Buchverliebte gekauft - aber ich bin wirklich begeistert!

Sonntag, 20. April 2025

Arno Geiger: Das glückliche Geheimnis

„Im Müll wohnt die Wahrheit. Und die Wahrheit muss irgendwann heraus.“

Der Schriftsteller, Arno Geiger, Jahrgang 1968, hat 2023 diese seine Autobiografie veröffentlicht. Der Erzählung über sein Leben gibt er einen Rahmen. Er wird gebildet von Geigers Doppelleben, seiner Leidenschaft, seinem glücklichen Geheimnis, das er jetzt verrät: Ein Leben lang, auch noch als schon als erfolgreicher Autor, hat er Touren durch Wien unternommen und dabei systematisch ein Papiercontainer nach Briefen, Tagebüchern und Büchern durchstöbert - um die „schönsten Stücke“ mit nach Hause zu nehmen.

Nun ist dieses Geheimnis nun nicht sooo brisant - aber Geiger schafft es, anhand der Suche im Müll, eine lesenswerte Philosophie des Suchens und Findes, Wegwerfens und Behaltens, Erinnerns und Voranschreitens, Schreibens und Sprechens vorzulegen. Das hat mich wirklich beeindruckt. Vergleichbares im Bereich der Schriftsteller-Autobiografie habe ich zum letzten Mal mit Klaus Manns Der Wendepunkt gelesen.



Montag, 14. April 2025

Herbert Rosendorfer: Ungeplante Abgänge

Dieser 1998 erschienene Band vereint zwei Erzählungen Rosendorfers. Auf einer Parkbank in München wird ein untätig dasitzender Mann gesichtet. Nach seinen Gründen befragt, spricht er einfach nicht. Muss er auch nicht, weil das Psychologen für ihn übernehmen und ab jetzt seine Lebensgeschichte erzählen.  

Die zweite handelt von einem linientreuen Ministerialrat im bayerischen Justizministerium. Seine Sekretärin rächt sich an ihm besonders perfide für schlechte Behandlung: Sie jubelt ihm einen Mitgliedsantrag für die SPD zum Unterzeichnen unter…

Es kommt nicht häufig vor, dass ich beim Lesen laut lache. Bei Herbert Rosendorfer ist es eigentlich regelmäßig der Fall. Ideenreich wie Roald Dahl, dazu ausgestattet mit einer überbordenden Fabulierlust und einer unfassbaren Kenntnis der Menschen und ihrer Kommunikation. So erzählen wir Rosendorfer konnte und kann sonst niemand. 



Dienstag, 8. April 2025

Richard Powers: Das große Spiel

Todd Keane, Tech-Milliardär und Pionier der künstlichen Intelligenz, der an Demenz leidet, Evelyne Beaulieu, 92-jährige kanadische Meeresbiologin, Todds früherer Freund Rafi Young und Rafis Partnerin, die Künstlerin Ina Aroita, treffen auf der Pazifikinsel Makatea  zusammen.

Ein Buch wie ein wunderschöner Bildband. Es gilt, die Beschreibungen zu genießen, sich an ihnen erfreuen. Oder auch wie ein sehr unterhaltsam geschriebenes Sachbuch. Oder ein Gast, der zwar geistreich und unterhaltsam ist, aber einen Tick zu lange bleibt.

Wer es liest, erfährt viel Wissenswertes, eine enorme Menge über das Meer und seine Bewohner, über Spielen in allen möglichen Formen und über die Emtwicklung künstlicher Intelligenz. So plätschert es über viele, viele Seiten geistreich dahin. Sprachlich ist alles politisch sehr korrekt. Die Guten, das sind die Minderheiten, die Benachteiligten, die Frauen. Vielleicht weil Todd, der ganz offensichtlich als Erzähler fungiert, es so darstellen will.

Eine echte Handlung kommt erst nach auf den letzten von 500 Seiten zustande. Dann aber taucht ein Hauch von unzuverlässigem Erzählen auf und es enthüllt sich ein Spiel mit der Wirklichkeit, in dem absichtlich unklar bleibt, ob manche der Personen nur in Todds Fantasie - als von ihm geschaffene Avatare - existieren oder in der "Realität". Oder ob das heutzutage noch einen Unterschied macht. Gleiches gilt für die Insel Makatea - ist das am Ende nur eine virtuelle Welt, die Todd geschaffen hat?


Freitag, 14. Februar 2025

Markus Walther: Buchland

In letzter Zeit habe ich eine ganze Reihe Romane über Buchhandlungen, Bücherliebe und die Lust am Lesen begonnen - und wieder weggelegt. Ich bin dabei so unerträglich viel Seichtem, Belanglosem und Klischeehaften begegnet, dass es fast nicht auszuhalten war. Nun endlich ein kleiner Lichtblick. Diesen Fantasyroman, erschienen 2013, habe ich bis zum Ende gelesen. 

Zwar ist er kein Meisterwerk wie Walter Moers' Stadt der Träumenden Bücher oder Michael Endes Unendliche Geschichte, aber stellenweise ein vertracktes Vexierspiel, ein bibliophiles Puzzle, das durchaus Spaß bereitet. Gespickt mit Zitaten und literarischen Anspielungen ist es eine hübsche Hommage an das Medium Buch.

Darum geht's: Der Ich-Erzähler ist ein Antiquar namens Plana. Im Keller seines Antiquariats eröffnet sich ein unendliche, fantastische Welt mit eigener Realität, in der Bücher sprechen und handeln - das Buchland. Plana ist ein "Auktoral, ein Mittler zwischen den Welten. Seine unglückliche Angestellte Beatrice Liber, eine gescheiterte Buchhändlerin, und deren Mann Ingo, ein Alkoholiker im Endstadium, reisen gemeinsam mit ihm durch das Buchland.

Minuspunkte: Niemand sollte sich hier sprachliche Höhenflüge erwarten. Leider häufen sich schiefe Bilder auf kitschige Klischees und philosophische Erkennnisse auf Coelho-Niveau. Manches ist belanglos, vieles geschwätzig, stellenweise wurde hier etwas unsauber lektoriert, was den Ausdruck und Rechtschreibung ("Das handzahme Flämmchen hatte mir die Haut versenkt.", "Hier ist der Kreissaal der Literatur") angeht.

Mit mehreren Zamonien-Romanen von Walter Moers hat dieses Buch dennoch etwas gemeinsam, nämlich, dass die wirklich tragfähige Handlung fehlt. Obendrein stimmt auch das Timing nicht immer: In dem Augenblick, da der Ich-Erzähler blitzschnell handeln muss – es geht um Leben und Tod – findet er Zeit, eine reich mit literarischen Motiven verzierte Jugendstilsäule zu betrachten und zu beschreiben. Solche retardierenden Elemente können funktionieren – aber nur, wenn die handelnde und die erzählende Person nicht identisch sind. Sonst sind sie unglaubwürdig und werfen aus der Handlung. 

Trotzdem: Dieser Roman bietet viele Ideen, unendlich viel Fantasie, ein bisschen Genie. Ich meine es ernst, wenn ich schreibe: Die Welt und die deutsche Sprache wären ein Stück ärmer ohne dieses Buch. Den zweiten Teil des als Trilogie angelegten Werks werde ich vielleicht irgendwann lesen. Jetzt erst einmal nicht.