Ein autobiographischer Essay, in dem Édouard Louis (Jahrgang 1992) auf 80 Seiten das Wort für seinen sprachlosen Vater ergreift: In Schlaglichtern erinnert sich der Autor an seine Familie, in der frühmorgens schon vor dem Fernseher geraucht wurde, in der Gewalt, Demütigungen, Schweigen, Verachtung für Schwule und Ausländer zum Alltag gehörten. Der Vater, ein Fabrikarbeiter, sitzt nicht (wie im Louis' erstem Buch Das Ende von Eddy) auf der Anklagebank, sondern er ist hier das Opfer, der Autor so etwas wie sein rechtlicher und moralischer Beistand.
Der Vater gehört zu denjenigen, "denen niemand zu Hilfe kommen würde" und "zu jener Kategorie von Menschen, für die die Politik einen verfrühten Tod vorgesehen hat". Nichts, aber auch nichts, ist ihm gegönnt: kein Geld, keine Ausbildung, keine Träume. Schließlich erleidet er auch noch einen Arbeitsunfall, der sein brüchiges Leben vollends aus der Bahn bringt. Ein Opfer, das keines sein will. Das einizige, was dem Vater bleibt, ist das stolze Beharren darauf, er habe sein Unglück, seine Misere selbst gewollt. Er verhält sich brutal und kindisch, tritt andere - dabei wird niemand so getreten wie er.
Dass der Vater das Opfer ist, ist nicht das Besondere an diesem Text, sondern dass Louis die Täter mit Namen benennt. Chirac, Sarkozy, Hollande, Macron... die Riege der französischen Politiker, die Rücken, Darm und Lunge des Vaters mit ihren Sozialkürzungen, ihrer Drangsal und ihre Respektlosigkeit gegenüber den Abgehängten kapput gemacht haben. Kein Wunder, dass Wer hat meinen Vater umgebracht (ohne Fragezeichen!) als der Text schlechthin zu den aktuellen Gelbwesten-Protesten gilt. Hier entlädt sich der ganze Zorn: Louis will deutlich machen, was Politik wirklich anrichtet. Denn mit den realen Folgen von Politik müssen andere leben, nicht die Politiker. Für diese abgehobene Kaste ist Politik eine ästhetische Frage, für den Vater eine von Leben und Tod.
In seiner Absolutheit klingt der Text manchmal sehr überheblich und mitunter belehrend: Schaut her, ich habe die endgültige Wahrheit gefunden, scheint Louis auszurufen, wenn er Sätze wie diesen an seinen Vater richtet: "Ein klassischer Mechanismus: Unter dem Eindruck, dass du deine Jugend nicht voll hast ausleben können, hst du versucht, dein ganzes Leben lang an ihr festzuhalten." Man muss ihm nicht in aller Radikalität folgen - zum Nachdenken regt er allemal an. Erst recht die unerwarteten Worte des Vaters, mit denen Louis den Text enden lässt: "Ich glaube, was es bräuchte, das ist eine ordentliche Revolution."
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