Manches ist gut. Und 1951 war das sicher eine große Nummer, dass einer so schrieb (wie Mark Twain schon 70 Jahre vor ihm). Aber was mich deprimiert, ist, dass der gute Salinger das ganze verdammte Buch erst geschrieben hat, als er 32 war. Warum schreibt er es dann aus der Sicht eines 16- oder 17-Jährigen? Er schreibt es auch nicht so, wie er es mit 17 geschrieben hätte, sondern so, wie es ein 32-Jähriger mit 17 gerne geschrieben hätte.
Es ist nämlich so: Mit 32 ist man nicht intelligenter als mit 17, sondern dümmer. Mit 32 weiß man vielleicht besser, was die Leute von einem hören wollen. Aber intelligenter ist man mit 17.Lobhudeleien und Verrisse
Buchkritiken von Bernhard Hampp
Dienstag, 28. Oktober 2025
Jerome D. Salinger: Der Fänger im Roggen
Mittwoch, 22. Oktober 2025
Daniel Kehlmann: Geister in Princeton
Im Mittelpunkt steht der österreichische Mathematiker und Philosoph Kurt Gödel, der mit seinem Unvollständigkeitssatz die Logik revolutionierte. Schlaglichter fallen auf verschiedene Lebenssituationen, in denen Gödel selbst teils nur als Geist anwesend ist.
Im Lauf der Szenerie flüchtet der Gelehrte aus Wien vor den Nationalsozialisten – über die sowjetisch kontrollierte Mongolei – in die USA, lehrt schließlich an der Universität Princeton. Begegnungen mit anderen Genies, etwa John von Neumann und Albert Einstein, sind skizziert.
Ein herkömmliches Logikverständnis stößt beim Verfolgen dieses Hörspiels an seine Grenzen. Paranoia und eine von der Norm abweichende Vorstellung von Rationalität bestimmen zunehmend Gödels Denken. Immer wieder melden sich Geister zu Wort; Gödel kommuniziert mit ihnen und sieht sich von ihrer Präsenz umgeben. Paranoide Gedanken und Zwangsvorstellungen – etwa die panische Angst, vergiftet zu werden – durchziehen sein Fühlen.
Aufgehoben ist auch die Vorstellung von Zeit als einer Abfolge. Gedanken blitzen unvermittelt und jenseits jeglicher chronologischer Ordnung auf. Gleichzeitigkeit und sich wandelnde Abfolgen bestimmen die Wahrnehmung Gödels, der ja selbst die theoretische Möglichkeit von Zeitreisen bewiesen hat.
Sonntag, 24. August 2025
Laura Dave: Beschütze sie
Hannahs Ehemann Owen ist verschwunden. Hat sein Verschwinden mit den Ermittlungen gegen die Softwarefirma zu tun, in der er arbeitet? Dort soll es zu unsauberen Börsengeschäften gekommen sein. Aber ist Owen wirklich darin verwickelt? Und selbst, wenn: Warum verlässt er Hannah und seine leibliche Tochter Bailey, Hannahs Stieftochter, Hals über Kopf und ohne Vorwarnung? Hannah und die 16-jährige Bailey, die ein nicht gerade inniges Verhältnis verbindet, machen sich gemeinsam auf die Suche nach Owen.
Die Suche an sich, eine Schnitzeljagd von Hinweis zu Hinweis, ist schon ok. Auch, wenn die entscheidende Spur - ein Geheimpolizist hinterlässt seine Festnetznummer, worauf die beiden erst auf die Stadt kommen, in der sie suchen müssen - ein bisschen konstruiert ist. Aber dann: Ungefähr zur Hälfte informiert eine einfache Internetrecherche über die wahren Hintergründe von Owens Verschwinden. Und im Rest des Buches passiert schlicht: gar nichts mehr. Schade.
Mittwoch, 13. August 2025
Alan Bennett: Così fan tutte
In Gegensatz zu Bennetts hochgelobten Die souveräne Leserin, welches ich für ein ziemlich belangloses, misslungenes Buch halte, macht diese Erzählung von 1996 ordentlich Spaß. Der Autor gräbt ganz große Wahrheiten aus und reibt sie den Ransomes (und Ihrem inneren Ransome, lieber Leser) unter die Nase. Wie viele Weckrufe brauchen diese Leute denn noch, um endlich zu kapieren, dass es durchaus sinnvoll sein kann, sein Leben zu verändern?
Schön ist die Schilderung, auf welches Echo die Ransomes mit ihrer Einbruchsgeschichte bei Freunden stoßen. Diese ind nicht wirklich beeindruckt sondern lassen die der Ransomes Geschichte "nur als unvermeidlichen Auftakt über sich ergehen", weil sie auf ihren Einsatz warten, um endlich selbst von einem Diebstahl zu erzählen, den sie oder irgendwelche Bekannten erlebt haben. Ach ja, die menschliche Kommunikation
Auch die von Amts wegen geschickte Psychologin weiß, wie die Menschen ticken. Immer wieder versichern ihr Betroffene, nach dem Verlust von nun an "mit leichterem Gepäck" zu reisen, nur um ihre Wohnung postwendend noch schlimmer vollzustopfen, weil sie einfach nicht darauf verzichten können, Dinge zu kaufen.
Bennetts leichter, ironischer Stil hat viel von Roald Dahl:
"Wir sind alle Menschen", sagte der Wachtmeister. - "Ich bin Anwalt", sagte Mr. Ransome.
Mittwoch, 6. August 2025
Emanuele Coccia: Die Wurzeln der Welt
Emanuele Coccia, italienischer Philosoph und Professor für Philosophiegeschichte in Paris, veröffentlichte dieses Werk 2016. Der französische Titel, der übersetzt Das Leben der Pflanzen – eine Metaphysik der Mischung lautet, trifft den Geist dieses Werks besser.
Denn diese weitgehend im akademischen Stil gehaltene Abhandlung ist nicht nur eine Philosophie der Pflanzen, sondern eine Philosophie des kosmischen Lebens in seiner Gesamtheit. Alles mischt sich, alles taucht ineinander ein und gestaltet sich dadurch gegenseitig. Jede Aktivität ist Weltgestaltung. Die Pflanzen sind nur das sichtbarste Beispiel dieser Welt, in der alles Kontinuum – nichts Individuum und nichts nur zugehörige Umwelt – ist. Grenzen zwischen Mensch (oder auch Geist) und Umwelt (oder Materie) existieren nicht.
Alles atmet gemeinsam diese Durchdringung: "Die Welt ist Atem und alles, was in ihr existiert, existiert als solcher." Coccia zeigt das am Blatt, mit welchem die Pflanze Photoynthese betreibt, auf. Die Atmosphäre ist zu verstehen als "die Welt als Realität der Mischung, innerhalb derer alles atmet."
Die Wurzel wiederum ist die Extremität eines auf die Sonne bezogenen Kosmos. Sie "erlaubt es der Sonne – und dem Leben –, bis ins Mark des Planeten vorzudringen, den Einfluss der Sonne bis in seine tiefsten Schichten voranzutreiben."
Coccia schafft es, seine wenigen prägnanten Botschaften eindringlich zu vermitteln. Ein bahnbrechendes philosophisches Werk. Faszinierend – und für sich allein mustergültig – ist die kurze Einlassung zu philosophischem Schreiben im Schlusswort.
Samstag, 2. August 2025
Robert Walser: Der Spaziergang
Erzählung von 1917 über einen einzigen, ausgedehnten Spaziergang. Unser Spaziergänger beschreibt genauestens, was er wahrnimmt, denkt und fühlt.
Robert Walser ist einzigartig in der deutschen Literatur. Mit faszinierender Ironie und Leichtigkeit versteckt er spielerisch überall ein doppelter Boden. Am Ende ist alles nicht so schwer. O ja.
Dabei ist dieser Fabulierer so unendlich sprachverliebt, es ist beglückend mitzuerleben, wir sein Erzählen Kapriolen schlägt, immer neue Höhen erklimmt.
So ist unser Erzähler um Mittagessen bei einer Frau Aebi (wir sind in der Schweiz) eingeladen. Zunächst schmeckt es, doch dann nimmt das Ereignis eine bedrohliche Wendung:
Als ich plaudern und Unterhaltung machen wollte, wehrte mir Frau Aebi ab, indem sie sagte, daß sie auf jederlei Unterhaltung mit der größten Freude verzichte. Das seltsame Wort machte mich stutzig, und es begann mir angst und bang zu werden. Ganz im geheimen fing ich an, vor Frau Aebi zu erschrecken. Als ich aufhören wollte, abzuschneiden und einzustecken, weil ich deutlich fühlte, daß ich satt sei, sagte sie mir mit fast zärtlicher Miene und Stimme, die ein mütterlicher Vorwurf leise durchzitterte: »Sie essen ja gar nicht. Warten Sie, ich will Ihnen hier noch ein recht saftiges, großes Stück abschneiden.« Ein Grauen durchrieselte mich, (…). »Ich vermag unmöglich, weiter zu essen«, sagte ich dumpf und gepreßt. Ich war schon nahe am Ersticken und schwitzte bereits vor Angst. Frau Aebi sagte: »Ich darf unmöglich zugeben, daß Sie schon aufhören wollen, abzuschneiden und einzustecken, und nimmermehr glaube ich, daß Sie wirklich satt sind. Sie sagen ganz bestimmt nicht die Wahrheit, wenn Sie sagen, daß Sie bereits am Ersticken seien. Ich bin verpflichtet, zu glauben, daß das nur Höflichkeiten sind. Auf jederlei geistreiches Geplauder verzichte ich, wie ich Ihnen schon gesagt habe, mit Vergnügen. Sie sind sicherlich hauptsächlich zu mir gekommen, um zu beweisen und zu bekunden, daß Sie Appetit haben und ein starker Esser sind. Diese Anschauung darf ich unter keinen Umständen preisgeben. Ich möchte Sie recht herzlich bitten, sich in das Unvermeidliche gutwillig zu schicken; denn ich kann Ihnen versichern, daß es für Sie keine andere Möglichkeit gibt, vom Tisch aufzustehen, als die, die darin besteht, daß Sie alles, was ich Ihnen abgeschnitten habe und fernerhin noch abschneiden werde, säuberlich aufessen und einstecken. Ich fürchte, daß Sie rettungslos verloren sind; denn Sie müssen wissen, daß es Hausfrauen gibt, die ihre Gäste so lange nötigen, zuzugreifen und einzupacken, bis dieselben zerbrechen. Ein jämmerliches, klägliches Schicksal steht Ihnen bevor; aber Sie werden es mutig ertragen. Wir alle müssen eines Tages irgend ein großes Opfer bringen. Gehorchen Sie und essen Sie. Gehorsamkeit ist ja so süß. Was schadet es, wenn Sie dabei zugrunde gehen. Hier dieses höchst delikate, zarte und große Stück werden Sie mir ganz gewiß noch vertilgen, ich weiß es. (…).« »Entsetzliche Frau, was muten Sie mir zu?« schrie ich, indem ich vom Tisch jählings aufsprang und Miene machte, auf und davon zu stürzen.
Nun, wie eine derart ausweglos bedrückene Situation bei Franz Kafka weiterginge, können wir uns wohl vorstellen. Bei Robert Walser lautet der nächste Satz aber so:
Frau Aebi hielt mich jedoch zurück, lachte laut und herzlich und gestand mir, daß sie sich einen Scherz mit mir erlaubt habe, den ich so gut sein solle, ihr nicht übel zu nehmen
Gegenüber einem Herrn Taxator hält unser Erzähler ein wunderwunderschönes Plädoyer für das Spazieren. Schon dieses kann - gleich Dostojewskis „Großinquisitor“ - jederzeit alleine stehen, auf einen Sockel gehoben und bewundert werden. Unbedingt lesen.
Samstag, 19. Juli 2025
Stuart Turton: Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle
Im viktorianischen England stolpert ein Mann in ein Herrenhaus, wo gerade ein Maskenball vorbereitet wird. Er hat jede Erinnerung an früher verloren. Wie ihm andere Gästen eröffnen, ist er ein skrupelloser Drogenhändler. Oder besser: Er war es bislang, möchte es aber nicht mehr sein. Am Tag darauf erwacht er. Aber er ist nicht mehr der Drogenhändler, sondern ein verstörter Butler. Und es ist auch nicht der Tag darauf, sondern derselbe, den er in anderer Gestalt schon durchlebt hat. Ein seltsamer Herr im Kostüm eines Pestdoktors enthüllt ihm: Achtmal hintereinander wird er an diesem Tag aufwachen, immer im Körper eines anderen Maskenball-Gastes. Dann beginnt das Spiel von vorne und er verliert wieder sein Gedächtnis. Es sei denn, die acht Gäste, die er bewohnt, können den Kriminalfall lösen: Wer hat Evelyn Hardcastle getötet?
Jeder einzelne Satz ist ein Fest für Fans von Logikrätseln. Wenn die landläufige Logik an ihre Grenzen kommt - und das tut sie bei Zeitreisegeschichten zwangsläufig - schlägt sie kreativ ideenreiche Haken. Und ganz nebenbei ist das ein richtig guter, spannender Krimi.






