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Donnerstag, 15. Dezember 2022

Ulrike Herrmann: Das Ende des Kapitalismus

Das wohl meistdiskutierte Wirtschaftsbuch des Jahres. Auch, wenn es der Titel nahelegt: Es ist keine keine Streitschrift, kein „Macht Schluss mit dem Kapitalismus“. 

 Stattdessen analysiert Ulrike Herrmann, Wirtschaftsredakteurin der Berliner Tageszeitung taz, wie unser – historisch erfolgreiches – Wirtschaftsmodell angesichts von Erderwärmung und Klimakrise an Grenzen stößt. Sie beschränkt sich dabei auf wenige prägnante und eingängige Botschaften – und zeigt sogar einen Ausweg auf. 

Den Kapitalismus verteufeln? Nichts liegt der Autorin ferner. In einem scharfsinnigen historischen Abriss macht sie deutlich, wie erst Massenproduktion und Industrie Wohlstand für möglichst viele bescherten – und im Schlepptau politische Teilhabe und individuelle Rechte. Kapitalismus dürfe nicht als „Marktwirtschaft“ tituliert werden: Märkte und Handel habe es in der Geschichte immer gegeben. Lange, bevor im England des 18. Jahrhunderts erste Maschinen aufkamen, und sich die Art, wie wir arbeiten und wirtschaften radikal änderte.

Seitdem wächst die Wirtschaft. Sie wächst und wächst und kann gar nicht anders. Wenn sie nicht beständig wächst, drohen schwere Krisen. Der Haken: Es werden immer mehr natürliche Ressourcen verbraucht, Abfälle fallen an, Abgase belasten die Atmosphäre.


Plastisch zeigt Ulrike Hermann die Ausmaße dieser Ausbeutung unserer Umwelt auf. Die katastrophalen Folgen von Klimawandel und Erderwärmung deuten sich bereits an. Sie dürften aber noch viel schlimmer werden und alle Lebensbereiche betreffen. Also möglichst aus den fossilen Brennstoffen aussteigen und auf „grüne Energie“ umsatteln? Ja, aber das ist nicht so einfach. Solar- und Windenergie sind unbeständig und reichen nicht aus, Energiespeicher, Wasserstoffnutzung und selbst Kernenergie sind extrem teuer. Es wird, so die Autorin, deutlich weniger Energie zur Verfügung stehen. Und die wird teuer sein. „Grünes Wachstum“, das sich manche vom Umstieg von fossile auf erneuerbare Energien erhoffen, hält die Autorin für eine Illusion.

„Klimaschutz ist nur möglich, wenn die Wirtschaft schrumpft“, so eine Kernthese des Buches. Und schrumpfen bedeutet Verzicht: Flugreisen wären künftig ebenso unmöglich wie private Autofahrten– erst recht mit tonnenschweren, energieintensiven E-Autos. Weniger Fleischkonsum, kleinere Wohnungen, keine neuen Büros und Logistikzentren: Schrumpfen auf allen Ebenen wäre angesagt. Dabei gingen auch Arbeitsplätze verloren. Einige Branchen wie die Banken – sie leben von der Vergabe von Krediten, die nur zurückgezahlt werden können, wenn die Wirtschaft wächst – gingen weitgehend zugrunde. Arbeitsplätze in anderen Branchen würden zwar entstehen, allerdings wären sie lange nicht so gut bezahlt. Die deutsche Wirtschaft würde auf den Stand von 1978 zurückschrumpfen. 

Als Vorbild für ein staatlich gelenktes Schrumpfen macht die Autorin die Kriegswirtschaft Großbritanniens im und nach dem Zweiten Weltkrieg aus. Die Betriebe blieben privat, aber der Staat legte fest, was produziert wurde und wer welche Rationen zugeteilt bekam. Erstaunlicherweise sei dieses Modell sogar allseits beliebt gewesen, beteuert die Autorin: Alle bekamen dasselbe, niemand fühlte sich benachteiligt. 

Hellsichtig klingt, wenn die Autorin die Menschen vor eine fatale Alternative stellt. „Entweder sie verzichten freiwillig auf Wachstum – oder die Zeit des Wachstums endet später gewaltsam, weil die Lebensgrundlagen zerstört sind.“ Wer das liest, denkt fast unweigerlich: Dann wird wohl auf die zweite Variante hinauslaufen. So traurig es ist.

Verzicht, Schrumpfen, Kriegswirtschaft? In Demokratien sind sie nicht mehrheitsfähig und Diktaturen neigen bekanntlich dazu, die Mehrheit zum Verzicht anzuhalten, während eine kleine Clique mit Vorliebe um die Welt jettet. Schränken sich einzelne Länder ein, werden andere umso stärker zugreifen. Global werden sich die Reicheren ein "grünes Wachstum" leisten und die Kosten dafür auf die Ärmeren abwälzen. Vielleicht sind realistischere Szenarien als dieser gelenkte Verzicht möglich, ein Mix aus verschiedenen Energieformen etwa, einzelne Einschränkungen in besonders kritischen Bereichen. Aber vielleicht ist das zu halbherzig, um die Krise aufzuhalten. Prognosen sind schwierig. 

Selbst Leserinnen und Lesern, die keine von Herrmanns Thesen teilen, sei dieses Buch empfohlen. Es weitet auf überraschende Art den Blickwinkel und regt zum Weiterdenken und Diskutieren an.

 

Erschienen in Wirtschaft Regional, Dezember 2022

Sonntag, 11. Dezember 2022

Anne Glenconner: Lady Blake und das Grab im Meer

Der 2020 erschienene Erstlingsroman der 88-jährigen Britin Lady Anne Glenconner, die seit auf der 1958 auf der Privatinsel Mustique in der Karibik lebt und Hofdame von Prinzessin Margaret war, handelt von Lady Veronica Blake, einer ehemaligen Hofdame Prinzessin Margarets, die auf  der Privatinsel Mustique in der Karibik lebt und einen kniffligen Fall löst. 

Ich weiß gar nicht, womit ich anfangen soll. Vielleicht damit: Es fehlt jede Spur von Ironie, kein Funken Humor. Alles ist so bierernst, als Leser fühle ich mich ständig von der strengen Lady Glenconner/Blake gemaßregelt. Aber warum denn? Sie ist doch, so betonen es alle Figuren unaufhörlich, unendlich gütig, gnädig, großzügig und gastfreundlich und trotz ihrer hohen Geburt frei von jedem Dünkel. Aber auch mutig, befreit sich aus der Gefangenschaft und überwältigt den Angreifer.

Der Roman strotzt nur so vor Klischees, und wer sich ein Spiel daraus macht, Stilblüten zu finden, kommt voll auf seine Kosten: „Doch ihre Fröhlichkeit erleidet gleich wieder Schiffbruch.“ „Sein Ärger erhöht förmlich die Raumtemperatur.“ „Seine tadellosen Umgangsformen werden der Freude, ihn als Gast in unserem Haus zu haben, das Sahnehäubchen aufsetzen.“ In jedem zweiten Satz „funkeln Augen vor Freude“, Boote sind „schnittig“, Männer „stattlich“, während Frauen „geschmeidige Bewegungen“ vollziehen. Der Butler kann es nicht gewesen sein: „Er ist uns seit Jahrzehnten treu ergeben.“ Er war es dann auch nicht.

Das Ganze ist einfach furchtbar schlecht geschrieben (und obendrein mit einigen Pannen übersetzt: Wenn jemand Respekt vor dem Meer hat und nicht zur Marine will, dann geht er zum Heer („army“), nicht zur „Armee“). Die Chance, einen Tropensturm packend zu schildern, wird uninspiriert vergeigt,

Ich hatte mir so etwas wie eine Romanversion der witzigen TV-Krimiserie Death in Paradise erhofft, eine Miss Marple in der Karibik. Aber zu allem Überfluss erweist sich dieser Krimi auch noch als extrem vorhersehbar und unschlüssig, Auf die Wendung, die alles auf den Kopf stellt und es gelohnt hätte, sich durch diesen süßlichen Brei zu fressen, habe ich vergeblich gewartet.

Mittwoch, 30. November 2022

Irene Vallejo: El infinito en un junco

Vallejo erzählt die Geschichte der antiken Bibliothek von Alexandria und weiterer Büchertempel aller Jahrhunderte. Die spanische Autorin webt elegant zahllose Anekdoten und Gedanken mit ein - über Bücher, das Lesen und Schreiben, Erzählen und Erfahren, Lehren und Lernen, Sammeln und Suchen, Buchläden und Buchgeheimnisse. Über das versunkene und lautlose Lesen, das erstmals der Heilige Ambrosius praktiziert haben soll, Schrift auf der Haut als Tattoo, darüber, wie die Form des Buches die Gedanken formt, die beim Lesen entstehen… Und sie verteidigt den - auch meiner Meinung nach absolut verdienten - Literaturnobelpreis für Bob Dylan („Un Nobel para la oralidad“). Das ist nämlich der genuine Ursprung der Dichtung: Sie wurde gesungen.

Wer wie ich Bücher über Bücher liebt, wird fasziniert sein. Nicht, dass Vallejo aufregend Neues erzählt. Sie hat vielmehr alles Erdenkliche aus der Welt der Bibliophilie zusammengetragen. Das Sachbuch plätschert sehr anregend dahin, wie wenn man einer geistreichen Person zuhört und hinterher feststellt, dass man nicht unbedingt etwas gelernt hat, aber sehr gut unterhalten wurde. 

Also lesenswert, aber kein Muss. Die 500.000 verkauften Exemplare, auf die das Buchcover hinweist, sind sicherlich auch einer geschickten Vermarktungsstrategie zu verdanken. Für mich persönlich aber eine Bereicherung.



Dienstag, 15. November 2022

Martin Suter: Der Teufel von Mailand

Von 2006.

Sonia will einfach nur weg, dorthin, wo sie dem Arm ihres gewalttätigen Ex-Mannes und den Folgen eines LSD-Trips (sie sieht Geräusche und schmeckt Farben…) entkommt. In einem abgelegenen Berghotel im Unterengadin findet sie eine Anstellung als Physiotherapeutin. 

Doch hier geschieht Seltsames: Morgens schlägt die Turmuhr 12, im Pool liegen Leuchtstäbe und eine Zimmerpflanze verliert alle ihre Blätter. Zufällig hat Sonia gerade das alte Märchen vom „Teufel von Mailand“ gelesen, das all diesen Vorzeichen eine bedrückende Bedeutung verleiht…

Spannend, atmosphärisch und packend erzählt. Und das Besondere an Suter ist doch, dass seine Texte fast nie peinlich sind. Das sei eine Selbstverständlichkeit, sagen Sie? Mitnichten. Das ist schon sehr, sehr viel.  

Samstag, 29. Oktober 2022

Ein ganz besonderes Buch

Das Buch, das ich Ihnen heute vorstellen möchte, hat es in sich. Es ist zeitlos und gerade dadurch modern. Es beginnt schon mit dem fantasievollen Szenario: So etwas hat man vorher noch nie gelesen. Die Handlung sprüht vor Ideen und „Genau so ist es“-Momenten.  

In betörend schöner Sprache verfasst, sind Spannung und Lesespaß von der ersten bis zur letzten Seite garantiert. Es zieht die Leserinnen und Leser in den Bann, man lacht Tränen und ist dann wieder gepackt vom Schicksal der Figuren. Wer will nicht am liebsten persönlich ins Buch steigen, um ihnen beizustehen? Das Buch beantwortet entscheidende Alltagsfragen, sagt zuverlässig die Börsenkurse voraus und ersetzt den Gang zum Zahnarzt. Man möchte es gar nicht aus der Hand legen - gut, dass die Fortsetzung genauso perfekt ist. 

Wie das Buch heißt? Ich weiß es leider nicht. Es ist eben einfach leichter, eine Rezension zu schreiben als ein Buch. Oder kennen Sie ein solches Buch? Dann verraten Sie es mir. Bitte!


Erschienen in Schwäbische Post, 28. Oktober 2022

Freitag, 28. Oktober 2022

Camilo José Cela: Pascal Duartes Familie

Pascal Duartes Familie aus dem Jahr 1942 ist eines der Bücher, die man gar nicht weiterlesen will, weil man vor Augen hat, dass es immer schlimmer kommt. Das aber dann doch zu gut ist, es wegzulegen. 

Es ist die Geschichte von Pascual, der in einem Kaff in der Extremadura vor sich hinvegetiert, beide Kinder verliert, betrogen und misshandelt wird, genauso sadistisch und triebhaft wie der Rest seiner Familie ist, zum mehrfachen Mörder wird und schließlich auf die Hinrichtung wartend seine Memoiren verfasst.

Faszinierend: die Mitteilsamkeit in der Sprachlosigkeit. Vieles, was entscheidend wäre, lässt der Erzähler (oder aber der fiktive Herausgeber) weg. Starb Pascuals Frau wirklich plötzlich ohne sein Zutun, nachdem sie ihm gestanden hat, dass sie von einem dorfbekannten Zuhälter ein Kind erwartet? 

„In meinem Kopfe verwirren und überstürzen sich die verschiedensten Gedanken“, klagt der Gewalttäter.

Zweitens: die Ahnungen und Vorgriffe. Alles wird schlimmer, das Leben kann gar nicht anders, als erbarmungslos zuzuschlagen.

„Ein Schwarm düsterer Gedanken und unheilvoller Vorzeichen, die ich vergeblich zu verscheuchen suchte, quälte mich.“

„Das Verhängnis schreitet fort, unaufhaltsam, aber langsam, sachte und stetig wie der Pulsschlag.“

Das Dorf ist Pascuals Schicksal und sein Verhängnis. Er kommt nicht davon los. Zweimal hat er die Chance. Als er zu ersten Mal bemerkt, dass er seine Mutter umbringen, will er nach Amerika fliehen. Er schafft es bis in die Hafenstadt La Coruña, von wo aus er nach zwei Jahren wieder zur „Familie“ zurückkehrt. Und er kehrt auch wieder dahin zurück, als er nach einem ersten Gefängnisaufenthalt von drei Jahren entlassen wird.

„Als ich entlassen wurde, fand ich das Land trauriger, weit trauriger, als ich es mir vorgestellt hatte.“

„Aber eines Tages wächst das Böse über uns hinaus wie die Bäume und nimmt ganz von uns Besitz.“






Freitag, 21. Oktober 2022

Santiago Lorenzo: Wir alle sind Widerlinge

Spanien ist Buchmesse-Gastland - und das hier ist spanischer Humor por excelencia. Wie man ihn kennt aus den Filmen von Alex de la Iglesia, den Clever&Smart-Comics und natürlich dem Don Quijote: Jenem 400-jährigen Klassiker ähnelt Lorenzos moderner Schelmenroman auch im Tonfall, selbst in deutscher Übersetzung. 

Lorenzo erzählt vom handwerklich begabten, aber unbeliebten Manuel, der vor einem Missgeschick mit der Polizei aus Madrid in ein komplett verlassenes Bergdorf flieht. Dort richtet sich der 25-Jährige als genügsamer Robinson ein, bis plötzlich neureiche Banausen das Nachbargrundstück als Wochenendhaus beziehen: konsumfreudig, lärmend, primitiv. Manuel muss sich verstecken und beschließt, das Haus der widerlichen Nachbarn kreativ und gehässig zu sabotieren. 

Voller Wortspiele und -schöpfungen. Anarchisch, spanisch, gut. 

 Santiago Lorenzo: Wir alle sind Widerlinge. Heyne Verlag, 2022. 240 Seiten, 20 Euro. 

 

Erschienen in Schwäbische Post / Gmünder Tagespost vom 19. Oktober 2022

Dienstag, 6. September 2022

Emmanuel Carrère: Yoga

Im autobiographischen, sehr persönlichen Stil beschreibt Emmanuel Carrère einige Jahre seines Lebens. Was - das betont der Autor immer wieder - ein optimistisches Büchlein über Yoga werden soll, gerät zu einer Collage aus extrem persönlichen Aufzeichnungen einer schwierigen Phase seines Lebens.

Um Material für das Büchlein zu bekommen, zieht sich Carrère in ein  Yoga-Retreat in Zentralfrankreich zurück, in dem strenges Schweigen  angesagt ist: Die Anschläge auf Charlie Hebdo, bei denen ein Freund getötet wird, reißen ihn aus dieser abgeschotteten Welt. Nach einer Trennung (die aber nicht thematisiert ist) erleidet der Autor eine Depression, die in der psychiatrischen Klinik bei Elektroschockbehandlung endet, schließlich arbeitet er als Freiwilliger in einem Flüchtlingsheim auf der griechischen Insel Leros. Spätestens in dieser Leros-Episode wirft der Autor Zweifel an seiner eigenen Zuverlässigkeit als Erzähler auf: Wie weit kann man ihm trauen? Was lässt er weg, schmückt er aus?  Aber der Text ist eben absolut subjektiv und damit wahrhaftiger als ein Text der vorgibt, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu verkünden.

Über weite Strecken des Buches war ich begeistert. Ich hatte mir vorgenommen, es anschließend auf Französisch zu lesen. Begeisternd sind die Anfangskapitel, in der Carrère seinen Zugang zu Yoga beschreibt und der Leser diesen Weg mitgehen darf. Er trägt mehr als 15 Definitionen für Meditation zusammen. "Meditieren heißt, still und unbewegt dazusitzen", zum Beispiel, oder "Meditation heißt, nicht zu urteilen", "Meditation heißt, aufmerksam zu sein", "Meditation heißt, einen geheimen, strahlenden Raum in sic zu finden, in dem es einem gut geht", "Meditation heißt, loszulassen, nichts mehr zu erwarten, nichts mehr zu tun versuchen", "Meditation heißt, zu pinkeln und  zu scheißen, wenn man pinkelt und scheißt, und nur das".

Und wenn Yoga das Zusammenspannen von Gegensätzlichem - etwa Freude und Leid - unter einem Joch ist, dann kommt das in diesem Buch Erzählte Yoga sehr nahe. Dennoch, ich muss es einfach sagen, war das Lesen dieser Geschichte eine Qual und ich war froh, als ich sie beendet hatte.

"Und wenn Sie etwas lesen, vollziehen Sie nicht nur die Gedanken des Autors, berücksichtigen Sie auch, was Sie denken."

Das sagt der Lehrer John Keating, ein Held meiner Jugend, im Film "Der Club der toten Dichter". Natürlich berücksichtigen heute sehr viele - auf sozialen Netzwerken würde ich sogar sagen: zu viele - Rezensenten das, was sie selbst denken. Nur das. Sie schwadronieren darüber, wie es ihnen selbst beim Lesen eines Buches gegangen ist. Trotzdem: Angesichts der Innerlichkeit (Weinerlichkeit?) des Autors spielt es hier eine wichtige Rolle. Hört er in sich hinein, so tue ich das als Leser aus. Es zieht einen runter.

Carrère findet packende Bilder für seine Hoffnungslosigkeit. Geht es ihm gut, so spürt er, dass es ihm bald wieder schlecht gehen wird. Geht es ihm schlecht, so spürt er, dass es niemals wieder gut wird. 

Handwerklich ist vielleicht zu kritisieren, dass das Buch doch aus sehr losen Notizen zusammengeflickt ist. Leider hat es der Autor nicht gekürzt, wodurch es sehr gewonnen hätte. Soviel aus meiner Sicht.

PS: Auf dem Bild seht Ihr, wie der Rasen im Nördlinger Freibad diesen Sommer aussieht.

Dienstag, 16. August 2022

Susanne Niemeyer: Herr Wohllieb sucht das Paradies

 

Ein wirklich nettes Büchlein mit Listen und 40 kleinen Nachdenk-Episoden über Zeit, Leben, Glück und besonders häufig Gott. Mehr Philosophie braucht es manchmal gar nicht. Und die skizzierten Gedanken kann man ja selbst weiterspinnen, sich richtige Geschichten dazu ausdenken…

Zum Verschenken gut geeignet!

Mittwoch, 10. August 2022

Stefan Marxer: Pilzvergnügt

Obwohl Pilzbücher aus aller Welt zu meinen Sammelgebieten zählen, habe ich bisher keines von ihnen rezensiert. Aber dieser wirklich umfangreiche Ratgeber hat es verdient. Das Beste vorweg: Gestalterisch ist er fantastisch gelungen. Detaillierte, liebevolle Illustrationen und wunderschöne Aufnahmen machen Lust.

Auch die Idee, dass hier ein erfahrener (wenngleich junger) Pilzexperte seine praktischen Erfahrungen mit dem Finden, Bestimmen (etliche Speisepilze waren mir neu), Sammeln, Konservieren und Zubereiten (leckere Rezepte!) teilt, ist sehr sympathisch. Ein richtig praktischer Ratgeber, der die Leser an die Hand nimmt wie ein pilzkundiger Opa. Dazu passt durchaus, dass der Autor seine Leser duzt. Ein bisschen merkwürdig mutet an, dass er die einzelnen Pilze in der ersten Person sprechen lässt („Ich bevorzuge basische Augebiete bzw. Auwälder.“), dies dann aber nicht konsequent durchhält. Vollends verwirrend wird es angesichts der Tatsache, dass der Autor vom seinen eigenen Pilzsammlererfahrungen ebenfalls in der Ich-Form berichtet.

Auch sonst hat das Buch seine Licht- und Schattenseiten. Etliche wirklich wertvolle Tipps - wie sieht ein guter Pilzwald aus, auf welche Nachbarbäume ist zu achten - muss man suchen wie die Stecknadel im Heuhaufen - oder eben den Speisepilz im Wald. 

Seitenweise muss ich mich als Leser in den Anfangskapiteln durch Weitschweifiges, Floskeln, Doppelungen kämpfen. Dass der Aufenthalt im Wald erholsam ist, hat man dann doch irgendwann kapiert. Ein gutes Lektorat und viele Straffungen wären dringend nötig gewesen. Dadurch vergibt sich das Buch leider viel. Dennoch kann ich es nur empfehlen und werde es auch verschenken.

Donnerstag, 28. Juli 2022

Kazuo Ishiguro: Als wir Waisen waren

 

Erschienen 2000. Als Kind wächst Christopher Banks wohlbehütet in einer britisch-internationalen Siedlung in Shanghai auf. Da verschwindet plötzlich sein Vater spurlos - wurde er entführt? Mit seinem japanischen Freund Akira spielt Christopher Detektiv. Wieder und wieder finden sie den Vater, den die Entführer, da sind sich die zwei Hobbydetektive sicher, gut und respektvoll behandeln. Schließlich verschwindet aber auch die Mutter. Christopher ist nun eine Art Waise und wird nach England geschickt.

Dort spielt der inzwischen junge Mann nur zu gerne weiter - er wird tatsächlich Detektiv, löst einige schwierige Fälle, eine Erbschaft macht ihn finanziell unabhängig. Auf dem Höhepunkt seines Ruhms macht er sich nach Shanghai auf, um nach seinen verschwundenen Eltern zu fahnden. 

Die unglückliche Frau eines sadistischen englischen Politikers möchte von dort mit ihm durchbrennen. Und kurz sieht es so aus, als würde Christopher aus seiner Detektivspiel-Traumwelt ausbrechen. Doch er zieht es vor, mitten im Schlachtfeld nach dem Haus zu suchen, wo seinen Schlussfolgerungen nach immer noch seine Eltern gefangen gehalten werden. Er spielt also weiter Detektiv, trifft zwischen den Fronten seinen alten Freund Akira wieder und wird trotz tobenden Kriegs von allen Seiten ausnehmend respektvoll behandelt... 

Aber natürlich hat das Spiel irgendwann ein Ende. Von Kazuo Ishiguro meisterhaft doppelbödig inszeniert. Was ist Realität, was ist Spiel? Gerade diese Frage macht die Faszination aus.

Samstag, 9. Juli 2022

Andreas Sturm: Ich muss raus aus dieser Kirche

 

… Weil ich Mensch bleiben will. Ein Generalvikar spricht Klartext.“ So der volle Titel des neu erschienenen Buches.

Andreas Sturm, katholischer Priester und zuletzt Generalvikar in Speyer, beschreibt seine Entfremdung von und Verzweiflung an der römisch-katholischen Kirche, die ihn nun zum Austritt bewegt haben. Eine offene und treffsichere Abrechnung mit der  Kirche aus der Sicht einer ihrer Führungskräfte.

Sturm porträtiert eine unglaublich arrogante Institution, die Menschen, die ihr noch vertrauen und ihr Unmengen an Geld geben, missbraucht, entwertet, demütigt, an den Rand drängt. Nichts davon ist eine Enthüllung, alles kann  einem täglich begegnen - für viele ist es einfach unerheblich, weil die aus der Zeit gefallene katholische Kirche immer kleiner und bedeutungsloser wird.

Das Buch ist buchstäblich mit der heißen Nadel gestrickt. Deshalb ist es sprachlich nicht sehr gelungen, wirft mit bürokratischen Schachtelsätzen, Passivformulierungen, und unendlich oft dem Wörtchen „man“ um sich. Vielleicht ist dem Autor die Sprache der Kirche, welche die Menschen kaum noch erreicht,  zu sehr in Fleisch und Blut übergegangen. Das macht es ja andererseits auch authentisch. Aber Formulierungen wie „Die evangelischen Kirchen haben mit ihren Syoden (sic!) eine lange Tradition und die episkopalen Kirchen und die Alt-Katholiken haben gezeigt, dass man auch Synodalität und bischöfliche Verfasstheit gemeinsam denken und praktizieren kann“, machen es nicht leicht, dieses wichtige Zeitdokument zu lesen. Inhaltlich aber ganz sicher ein mutiges, wegweisendes Buch, das zum richtigen Zeitpunkt kommt.

Dienstag, 21. Juni 2022

Ilja Leonard Pfeijffer: Grand Hotel Europa

Ich gebe zu, ich bin ein langsamer - oder sagen wir: gründlicher - Leser. Aber, dass ich anderthalb Jahre für diese 554 starke Essay-Sammlung (das ist es nämlich eher als ein Roman) gebraucht habe, ist dann doch außergewöhnlich. Trotzdem bin ich immer wieder eingestiegen und bis zum Schluss dabeigeblieben. Lohnt sich meiner Meinung nach durchaus.

Worum es geht, sagt Schriftsteller Pfeijffer, der hier selbst als Ich-Erzähler auftritt, an einer Stelle seinem Verleger:

"Es soll von Europa handeln, von der europäischen Identität, die eng verknüpft ist mit der Vergangenheit, und davon, dass diese Vergangenheit aus Mangel einer besseren Alternative auf dem globalen Markt verhökert wird. Das Buch soll eine Liebeserklärung an Europa werden und an das, was es früher einmal war....Damit wird es auch ein trauriges Buch über das Ende unserer Kultur."

Und der Verleger antwortet:

"Eine Art Zauberberg des einundzwanzigsten Jahrhunderts."

…und vielleicht greift er damit ein bisschen hoch, aber auch nicht ganz daneben.

Niedergeworfen von der Trennung von seiner Geliebten Clio, einer italienischen Kunsthistorikerin, die Europa verlässt, um in Abu Dhabi die Louvre-Dependance aufzubauen, checkt Pfeijffer im Grand Hotel Europa ein. Diese aus der Zeit gefallenen Nobelherberge, die neuerdings einen chinesischen Besitzer hat, beheimatet Figuren wie den Pagen Abdul - aus der Wüste geflüchtet, sieht er in Europa eine Verheißung -, den altmodisch-korrekten Majordomus Montebello oder die mysteriöse, betagte Ex-Hotelbesitzerin, die im versteckten Zimmer Eins logiert und dieses niemals verlässt. Eingeflochten ist Pfeijffers und Clios Suche nach Caravaggios verschollenen letztem Gemälde. 

Aber das ist nur der lose Rahmen für zig feuilletonistische Betrachtungen über den Zustand Europas: An einer Stelle heißt es, „wenn ein signifikanter und stets wachsender Teil seiner Bevölkerung bereit ist zu glauben, dass früher alles besser war, dann darf man unseren Kontinent zu Recht als müde und alt bezeichnen, als hohläugigen Mummelgreis, der von der Zukunft nichts mehr erwartet (…)“

Stattdessen verkauft man sich an die Touristen. Der Erzähler hasst sie, ergeht sich in Fantasien (das ist ziemlich unterhaltsam) wie Urlauber mit mittelalterlichen Folterwerkzeugen langsam zu Tode gequält werden. Aber er beneidet sie auch.

"Der Unterschied ist, dass Touristen kurze Hosen und Flipflops tragen, und wir nicht. Das würden wir nur, wenn das eine Gepflogenheit der Einheimischen wäre. Touristen liegen am Strand und hängen in Cocktailbars herum, wir dagegen besichtigen die kleine Kirche im Ort und trinken etwas in der schmierigen Bar hinter der Tankstelle mit den versifften Stühlen und den verdreckten Tischtüchern, weil dort keine Touristen sitzen, sondern drei pensionierte Alkoholiker aus dem Ort."

Während er das Thema immer weiter variiert, präsentiert sich Pfeijffer selbst als Karikatur dieses Versiffte-Bar-Sitzers. Stets (über)korrekt gekleidet, halten ihn anderen Touristen in einem Urlaubshotel auf Malta für einen Bediensteten. Das Förmliche, einst ein Zeichen von stilvoller Überlegenheit, wird nur mehr als Maskerade für diejenigen empfunden, die sich den Auftritt in Freizeitkleidung und kurzen Hosen leisten können - und damit ihre Überlegenheit zeigen. Die Maskierten bespaßen sie gegen Geld mit ihrem überholten, nostalgischen Kulturkram.

Witzfigur Pfeijffer lässt sich (das erzählt er im Rückblick) ausgerechnet in Venedig nieder und setzt alles daran, dort als als Einheimischer (gibt es die überhaupt noch?) aufzutreten. Unbeirrt schreitet er im Anzug einher, auch wenn keiner Wert darauf legt. Die Touristen dagegen sind, selbst wenn sich belächelt, beschimpft, verwunschen werden, im Venedig und dem Rest Europas höchst willkommen. Pfeijffer weiß das selbst. Trotzdem hält er am alten, überholten Europa fest.

Dienstag, 7. Juni 2022

Gertrud Scherf: Zauberpflanzen, Hexenkräuter

Meine Begeisterung für Kräuter hat nicht in erster Linie mit ihrer möglichen Nutzung zum Kochen, Würzen, Heilen oder auch Basteln zu tun - auch, wenn das alles natürlich faszinierende Anwendungsmöglichkeiten sind und ich versuche, auch auf diesen Gebieten etwas zu lernen.

Was mich aber schon immer fasziniert hat, war das eigene Leben der Pflanzen, ihre Persönlichkeit, die Geschichten, die sie erzählen, die Sagen und Legenden, die sich um sie ranken. Dafür ist dieses Buch ein hervorragender Begleiter.

Es stellt eine Vielzahl von Zauberkräutern in einzelnen Kapiteln vor. Detailgenaue Fotos sowie sorgfältig ausgesuchte, alte und neue Illustrationen ergänzen die Texte. Es finden sich Fakten über botanische Eigenschaften, pharmazeutische Verwendung, auch berauschende und halluzinogene Wirkungen der Pflanzen oder ihre Verwendung in Ritualen und Kulten. Vor allem ist es ein unerschöpflicher Schatz an Märchen und Mythen, Volks- und Aberglauben, der dieses Buch zum spannenden Schmöker macht.

Verraten wird, dass laut alten Sagen Schlüsselblumen als Türöffner zu verborgenen Schätzen dienen. Oder, dass man laut dem Buch der Versammlung Maulwurzherz und Schöllkraut auf den Kopf eines schwer Kranken legen soll, um dessen Schicksal zu erfahren. Und dass nichts den Teufel besser vertreibt als der aromatische Duft von Quendel. Letzteres kann ich bestätigen.



Freitag, 22. April 2022

Richard Osman: Der Mann, der zweimal starb


Auch Band zwei der englischen Reihe um den Donnerstagsmordclub, eine ausgebuffte vierköpfige Hobbydetektiv-Truppe im Seniorenheim, ist wieder höchst unterhaltsam und lustig. 

Diesmal hat ein alternder britischer Agent mutmaßlich Juwelen im Wert von 20 Millionen Pfund im Haus eines Mafiapaten mitgehen lassen. Das Ermittlerquartett fahndet mit unkonventionellen Miss-Marple-Methoden nicht nur nach den Juwelen, sondern auch nach dem Agenten - falls er nicht doch schon ermordet wurde. Und nebenbei planen sie die Rache an einem jungen Kleinkriminellen, welcher ihren Mitstreiter Ibrahim bei einem Raubüberfall übel zugerichtet hat.


Vielleicht kommt „Der Mann, der zweimal starb“ nicht ganz an den ersten Band heran. Zum einen ist nicht alles an dieser Handlung zwingend oder glaubwürdig, zum anderen fällt die Schlusspointe, für die sich der Autor im Nachwort noch selbst lobt, eher mau aus. Aber das ist Jammern auf hohen Niveau…

Donnerstag, 17. März 2022

Hubert Lampo/Pieter Paul Koster: Artus und der Gral

Seit meiner Schulzeit sammle ich Bücher zur Artussage und dem Gralsmythos. Das hier ist ein besonders schönes Stück in meiner Sammlung, das ich nun noch einmal gelesen habe. 

Ansehnlich ist das 1985 erschienene Buch (diese Ausgabe: 1993) vor allem durch die edle  Gestaltung. Kosters stimmungsvolle Fotografien von Wäldern, Küsten, Felsen im Nebel, Burgzinnen im Nebel, und Sonnenuntergängen mit und ohne Nebel führen die Schauplätze der Sage vor Augen. Als Bildunterschriften dienen Zitate aus Thomas Malorys Le Morte d'Arthur, die einmal kursorisch durch den berühmtesten aller Artus-Romane führen.

Schwer getan habe ich mir mit dem (schick weiß auf schwarz gedruckten) Text, einem Essay des belgischen Schriftstellers Hubert Lampo. Seine Gedanken zur Artussage sind nur für diejenigen nachvollziehbar, die sich bereits gut mit dem Stoff auskennen - einen Überblick für Einsteiger bieten sie nicht. Gleichzeitig ist aber auch nichts wirklich Neues vorgebracht.

Lampo beschäftigt sich sehr umfassend mit verschiedenen literarischen Zeugnissen. Manchmal tut er das in launigem, originellem Ton, meist aber recht akademisch trocken. Letzteres gilt besonders für seine abschließenden Ausführungen zum Jungschen Archetypen und dem Mythos an sich.

Er führt Belege auf, dass Artus wirklich als britisch-römischer Heerführer existiere, ruft die altbekannten, möglichen Schauplätze wie Tintagel (Artus‘ Geburt), Cadbury (Camelot) und Glastonbury (Avalon) ins Gedächtnis. In einem zweiseitigen Anhang sind die mutmaßlichen Artus-Orte in Fotografien abgebildet (siehe Foto). 

Interessant und aktuell sind die Gedanken, die sich Lampo zum siechen König macht, der (von der alles entscheidenden) Frage geheilt werden muss, oder aber (in anderen Bearbeitungen des Stoffes) Platz für einen vitaleren, vatermordenden Nachfolger machen muss - weil sonst das ganze Land siecht und zugrunde geht. Der kranke Herrscher, dessen Zeit vorüber ist, und der Unheil über das ganze Land bringt: Eine Metapher, die jetzt, im März 2022, da der Ukraine-Krieg tobt, aktueller denn ist. 

Sonntag, 27. Februar 2022

Siegfried Lenz: Die Maske

Fünf - zumeist maritim angehauchte - Erzählungen sind in diesem Band aus dem Jahr 2011 versammelt. Menschen kollidieren hier teilweise mit der Naturgewalt, viel öfter aber mit ihresgleichen, ihren eigenen Erwartungen und Beschränkungen.

Antonia mit dem blauen Schal ist ein Gemälde, zu dem ein Museumswärter eine sehr - viel zu - enge Beziehung aufbaut, mit allen Konsequenzen. 

Die Maske: Auf einer Insel in der Elbmündung wird nach einem Sturm ein Überseecontainer mit asiatischen Masken angeschwemmt, die für das Völkerkundemuseum  Hamburg bestimmt sind. Im Gasthaus "Blinkfeuer" feiern die Inselbewohner, setzen die Masken auf, die interessanterweise auf einmal ihr wahres - oder zumindest interessantes und liebenswertes - Gesicht offenbaren.

In Die Sitzverteilung wird ein Kapitän geehrt, weil er sein sinkendes Schiff als letzter verlassen hat - allerdings nichts aus hehren Motiven.

In Ein Entwurf erzählt ein Autor seiner Frau die Lebensgeschichte des zur See fahrenden gemeinsamen Sohnes Sven (über den erst im letzten Satz Bedrückendes ans Tageslicht kommt).

Das Interview ein Ehemaliger Obdachloser kreiert für eine Catering-Firma Menüs auf eigens organisierten Feinschmecker-Kreuzfahrten. Diese Geschichte ist leider reichlich ungelenk in eine Rahmenhandlung geschachtelt, in welcher Erzähler berichtet, wie er ein Interview mit dem Regisseur geführt hat, der diesen Stoff verfilmt hatte. Ja, genau so.

Alle Erzählungen bezaubern durch geschickte Wendungen, und Lenz‘, man muss sie so nennen, schöne Sprache.

Freitag, 25. Februar 2022

Michelle Gable: The Bookseller's Secret

 

Dieser Unterhaltungsroman nähert sich der historischen Persönlichkeit Nancy Mitford - Schriftstellerin und eine der skandalumwitterten Mitford-Schwestern. Ihr Leben wird von 1942 bis 1946 in Rückblicken erzählt.

Eingebettet ist das Ganze allerdings in eine recht banale Rahmenhandlung in der Jetzt-Zeit. Eine US-Schriftstellerin hat sich von ihrem langjährigen Partner getrennt, leidet unter einer Schreibblockade und nimmt eine Auszeit bei einer ehemaligen College-Freundin in London. In einem Buchladen - demselben, in dem Nancy Mitford während des Zweiten Weltkriegs arbeitete, trifft sie einen attraktiven Lehrer, mit dem es nicht nur funkt, sondern an dessen Suche nach einem verschollenen, autobiographischen Mitford-Manuskript sie ihn auch gerne unterstützt.

Im Buch finden sich einige unterhaltsame Passagen, aber als Büchermensch, der Bücher über Bücher liebt muss ich sagen: Der Titel verspricht mehr, als er hält.

Dienstag, 15. Februar 2022

Karl Reichle: Überlass dich Ebbe und Flut

Ein liebenswerter Fund, dieses Buch mit Nachdenkereien über das Reisen, die der (laut Google) Pfarrer Karl Reichle 1983 verfasst hat. Was ist der Sinn des Urlaubs, wie kann er uns reicher machen, wie können wir ihn sinnvoll gestalten? Wie kostbar und unverzichtbar das Reisen ist, haben wir in dieser Pandemiezeit ja schmerzlich erfahren.


In seinen Betrachtungen regt Reichle an, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen, Kirchen, Burgen und Städte neugierig zu entdecken. Lernen, Nachdenken und Weiterdenken. Essen und Trinken, Feste besuchen, Fundstücke und Erinnerungen sammeln. Es gilt, schon die Reisevorbereitungen mit viel Zeit zu genießen und danach die Erinnerungen als Schätze zu hüten. Oder Orte mehrmals im Lauf des Lebens zu besuchen. 

Mit der Zeit ist es freilich so eine Sache. Dieses Buch, Anfang der Achtzigerjahre erschienen, scheint viel mehr aus der Zeit gefallen als viel Älteres, etwa Merian-Hefte aus den Fünfzigern, die einfach alte, ferne Literatur sind. Reichles Buch ist auf eine andere Art überholt, hat eine seltsame Patina angesetzt - ja, so ist es wohl einmal gewesen - die vor Augen führt, dass seit seinem Erscheinen eine regelrechte Zeitenwende stattgefunden hat. Nur ein Beispiel: Zur Wahl des Urlaubsort schreibe man, so der Autor „An den Verkehrsverein“ und „An das Bürgermeisteramt“ und lege einen frankierten Rückumschlag bei, um ein Unterkunftsverzeichnis zu erhalten. Aus diesem wiederum schreibe man fünf Adressen an, wieder mit frankiertem Rückumschlag… Nicht nur der Umgang mit Zeit war damals ein anderer.

Dennoch ein echtes Vergnügen. Bruce Chatwin hat ähnliche Betrachtungen über das Reisen an sich verfasst, die große Klassiker geworden sind. 

Mittwoch, 26. Januar 2022

Franz Grillparzer: Der arme Spielmann

Franz Kafka soll diese 1848 veröffentlichte Erzählung so oft gelesen haben, dass er sie beinahe auswendig kannte. 

Packend porträtiert Grillparzer einen Menschen, der sich die Welt so einrichten möchte, dass er sich dort wohlfühlen kann - wie er sie gerne hätte, sie aber nicht ist. Er würde so gerne nach seinem eigenen Rhythmus und - langsameren - Tempo leben, doch das passt nicht zur Musik, die seine Mitmenschen machen. Er wird ausgenutzt und lächerlich gemacht, seine reine, unschuldige Seele macht ihn kaputt.

Darum geht es: Der Erzähler beobachtet am Rande eines Wiener Volksfestes einen alten Bettelmusikanten. Was der abgerissene Spielmann seiner Geige entlockt,  „schien eine unzusammenhängende Folge von Tönen ohne Zeitmaß und Melodie“. Der von allen Verspottete, offensichtlich Unmusikalische spielt allerdings völlig untypisch mit Notenpult und Notenblatt und  murmelt lateinische Worte vor sich hin - so weckt er die Neugier des Erzählers, der ihn zu Hause besucht. 

Dort lauscht er erneut dem ungeschickten Spiel des Alten, der völlig in seine Musik vertieft ist.  Langsam glaubt er, das System hinter der scheinbaren Kakophonie zu erkennen:

"Der Alte genoß, indem er spielte. Seine Auffassung unterschied hierbei aber schlechthin nur zweierlei, den Wohlklang und den Übelklang, von denen der erstere ihn erfreute, ja entzückte, indes er dem letztern, auch dem harmonisch begründeten, nach Möglichkeit aus dem Wege ging. Statt nun in einem Musikstücke nach Sinn und Rhythmus zu betonen, hob er heraus, verlängerte er die dem Gehör wohltuenden Noten und Intervalle, ja nahm keinen Anstand, sie willkürlich zu wiederholen, wobei sein Gesicht oft geradezu den Ausdruck der Verzückung annahm. Da er nun zugleich die Dissonanzen so kurz als möglich abtat, überdies die für ihn zu schweren Passagen, von denen er aus Gewissenhaftigkeit nicht eine Note fallen ließ, in einem gegen das Ganze viel zu langsamen Zeitmaß vortrug, so kann man sich wohl leicht eine Idee von der Verwirrung machen, die daraus hervorging.

Der Musikant beginnt zu erzählen, von einer unverstandenen Kindheit, lebenslangen Niederlagen, unerwiderter Liebe, schmählichem Betrug und immer tieferer Flucht in die Musik. Definitiv eine Erzählung, die lohnt, sie wieder und wieder zu lesen. 

Samstag, 22. Januar 2022

Leo Tolstoi: Im Schneesturm

Noch eine ordentliche Portion Winter gefällig? Wie wäre es damit: Ein Reisender in der russischen Steppe möchte mit der Pferdekutsche von einer Poststation zur nächsten gelangen. Ein Schneesturm hat die Landschaft fest im Griff, macht Orientierung und Fortkommen immer schwerer. Dann gibt der wortkarge, völlig überforderte Fuhrmann auf. Der Reisende steigt um, fühlt sich zwischen den tanzenden Wänden aus Schnee immer mehr verloren, die Grenzsituation ängstigt, fasziniert ihn aber auch. Langsam wird es Nacht. 

Diese Erzählung kommt ohne unerhörte Begebenheit aus. Zum Meisterwerk macht sie die verwunschene, bedrückende, surreale Atmosphäre, die ein verschneites Zwischenreich - was ist noch Wirklichkeit, was Traum? - heraufbeschwört.

Donnerstag, 13. Januar 2022

Gerhard Jäger: Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod

 

Die Geschichte klingt nicht neu: Ein junger Historiker aus Wien zieht sich über den Winter in ein abgelegenes Tiroler Bergdorf zurück, um an einem Roman zu schreiben. Die Dorfbewohner nehmen ihn mit größtem Misstrauen und Ablehnung auf. Erst nach und nach scheint der Fremde, zaghafte Freundschaften zu schließen, eine stumme Frau, die alleine in ihrem Bauernhof lebt, zieht ihm besonders an. Der Winter entpuppt sich als schlimmster Schnee - und Lawinenwinter seit Menschengedenken, Häuser und Höfe werden verschüttet, Menschen sterben, das Dort ist komplett von der Außenwelt abgeschnitten. Da geschieht ein Mord.

Die Geschichte ist in eine Rahmenhandlung eingebettet, in der ein 80-jähriger US-Amerikaner in Archiven und Originalschauplätzen das Schicksal seines Vetters, des Historikers Max Schreiber, recherchiert.

Der Roman erinnert in vielem an Robert Schneiders Schlafes Bruder von 1992, erreicht mitunter auch dessen sprachliche Wucht. Wie schon bei diesem - allerdings bild- und vor allem klangstärkeren - Vorbild, drängt sich die Frage auf: Wo ist die Grenze zwischen dem Archaisch-Alpinen und dem leeren Pathos, zwischen Märchen und Kitsch, zwischen Mythos und Klischee? Jägers Lawinenepos läuft ständig Gefahr, hier abzugleiten. Dennoch eine interessante, über weite Strecken sehr unterhaltsame Winterlektüre.

Donnerstag, 6. Januar 2022

Valentin Kirschgruber: Das Wunder der Rauhnächte

 

Ein wunderschönes Büchlein, das mich durch diese Rauhnächte begleitet hat. Autor Valentin Kirschgruber stellt jede einzelne der zwölf Rauhnächte unter ein Thema, das der traditionellen Zuordnung entspricht. Etwa „Altes abschließen“, „eine Entscheidung treffen“ oder „dankbar sein“.

Mit kurzen Texten zu Brauchtum und Geschichte, Märchen und Sagen, Vorschlägen zum Räuchern, Traumdeuten und für Meditationenregt  der Allgäuer Kirschgruber vor allem dazu an, sich selbst auf den Weg zu begeben, die Stille und Tiefe dieser Zeit zu erspüren. Das Buch macht eine ganz besondere Periode im Jahr noch wertvoller. Ich werde es sicherlich auch im nächsten Winter wieder zur Hand nehmen.