Seiten

Mittwoch, 14. Dezember 2016

Karl Eugen Heilmann: Kräuterbücher in Bild und Geschichte

Kräuter und Bücher - und zwar alte kostbare, seltene, illustrierte - sind zwei meiner Leidenschaften. Was will man also mehr als ein Buch über Kräuterbücher? Dieses hier ist ein wirklich umfassendes Kompendium aus dem Jahr 1966 (ich habe die zweite Auflage von 1973) über die Bücher, die im Laufe von Jahrhunderten zum Thema Heilkräuter erschienen sind.

Kräuterbücher gehörten neben den religiösen Schriften zu den am weitesten verbreiteten Büchern. Sie wurden sowohl von Ärzten und Heilkundigen als auch von Laien als medizinische Nachschlagewerke benutzt. Deshalb sind gut erhaltene Kräuterbücher heute sehr selten und entsprechend teuer. Faszinierend sind sie auch wegen ihrer zum Teil aufwendigen und liebevollen Illustrationen.

Karl-Eugen Heilmann, Apotheker aus Mainz und weit gereister Büchersammler, über den es im Klappentext heißt, er habe 1966 "in überraschend körperlicher und geistiger Frische" seinen 80.  Geburtstag gefeiert, hat sein Leben lang Kräuterbücher gesammelt. Er stellt in diesem Buch die schönen Stücke aus seiner stattlichen Sammlung vor, beschreibt sie und ordnet sie ein.

Die Reihe beginnt bei Heilkunst-Darstellungen der alten Ägypter im Papyrus Ebers über Werke der antiken Autoren Hippokrates, Dioskurides und Galen, chinesische, japanische und arabische Schriften zur Kräuterkunde und stellt mittelalterliche Handschriften, etwa der Hildegard von Bingen (1098-1179), vor.

Großen Raum nimmt das Werk des Druckers und Gutenberg-Mitarbeiter Peter Schöffer (1425-1503) ein, dessen reich illustrierter "Gart der Gesundheit" vielfach nachgedruckt wurde. Ebenso die Werke von Hieronymus Brunschwig (1450-1512) sowie der drei Väter der Botanik, Otto Brunfels (1488-1534), Hieronymus Bock (1498-1554) und Leonhart Fuchs (1501-1566).

Eines der schönsten Pflanzenbücher überhaupt ist der Hortus Eystettensis, in dem Basilius Besler 1613 den herrlichen Kräuter- und Blumengarten des Eichstätter Fürstbischofs Konrad von Gemmingen auf der Willibaldsburg verewigte. In Heilmanns Buch ist seine Großartigkeit zu ahnen, wenn auch die Abbildungen nur in Schwarzweiß reproduziert sind.

Die Auswahl geht quer durch die Jahrhunderte, bis zur photolithographischen Darstellung von Farnen Ende des 19. Jahrhunderts. Auch wenn Heilmanns Sprache nicht geschliffen ist, sondern etwas hölzern, so ist doch sein Bemühen, die Einzelstücke in einen Kontext einzuordnen und einen brauchbaren Überblick zu schaffen, nicht hoch genug zu schätzen. Er liefert zahllose pharmazeutische Anmerkungen zu den abgebildeten Heil- und Zauberpflanzen (darunter immer wieder die Alraune), vermittelt aber auch Wissenswertes zu Drucktechnik, Typographie und Buchgestaltung. Seine Liebe zu den wertvollen Stücken seiner Sammlung scheint immer durch und macht dieses Buch lesenswert.

Für mich war es auch die Gelegenheit, ein anderes wunderbares Buch wieder aus dem Schrank zu holen: den Katalog der Ausstellung "Das Kreüterbuch. Holzschnitt-Illustrationen aus der Kräuterbuchsammlung der Universitätsbibliothek Eichstätt-Ingolstadt" von 2004. Er ist mit den farbigen Illustrationen der alten Kräuterbücher geschmückt und nach den einzelnen Heilpflanzen sortiert.


Dienstag, 13. Dezember 2016

Walter Moers: Das Labyrinth der träumenden Bücher

Diese Fortsetzung der faszinierenden Stadt der träumenden Bücher von 2004 hätte ich schon längst lesen sollen. Schließlich ist sie bereits 2011 erschienen. Immerhin habe ich es doch noch vor dem Erscheinen des dritten Teil von Walter Moers Buchhaim-Trilogie geschafft - weil dieser nun mehrfach angekündigt und immer wieder verschoben wurde, zuletzt auf unbestimmte Zeit.

"Sie Glückspilz! Denn dann können Sie es noch zum ersten Mal lesen! Wie ich Sie beneide!" (Zitat eines sogenannten Librinauten, eines Buchpiraten)

Autor und Erzähler (Walter Moers ist wie immer nur der Übersetzer aus dem Zamonischen) dieser Geschichte ist wie beim ersten Band der Dinosaurier Hildegunst vom Mythenmetz. Der zamonische Dichter-Titan leidet darunter, dass ihm das Orm, die dichterische Inspiration, verloren gegangen ist, und er zum satten, selbstzufriedenen Großdichter wurde. Da erreicht ihn eine folgenschwerer Brief. Der Schattenkönig, sein tot geglaubter großer Gegenspieler, sei wieder da.

Mythenmetz kehrt nach 200 Jahren an den Schauplatz seines großen Abenteuers zurück. Die Antiquariatsstadt Buchhaim ist nach dem verheerenden Brand teils aus versteinerten Büchern wieder aufgebaut worden. Mythenmetz entdeckt sie neu, vor allem nimmt ihn die Kunst des Puppenspiels gefangen, die in Buchheim eine Blüte erlebt. Als er schließlich einer Einladung in ein rätselhaftes unsichtbares Theater folgt, landet er unversehens wieder dort, wo er niemals hin wollte: Im unterirdischen Labyrinth der träumenden Bücher. 

Mit den Worten "Hier fängt die Geschichte an" endet das Buch. Das Schloss der träumenden Bücher, der angekündigte dritte Teil, löst dann hoffentlich vieles auf und erklärt so einiges, was in diese an inhaltlich-dramatischen Höhepunkten armen Vorspiel zunächst als Länge erscheint.

War die Stadt der träumenden Bücher eine faszinierende Liebeserklärung an das Buch, den Druck, die Sprache, die Fantasie, tut es ihr dieser Band gleich, ist aber gleichzeitig eine Hommage an das Puppentheater. Wie im Vorgängerband sprengt der Autor mit seiner Fantasiewelt alle Grenzen, stürzt sich kopfüber ins Abenteuer und fabuliert um sein Leben.

Dabei trifft er immer perfekt den Ton und behandelt die deutsche Sprache mit unvergleichlicher Liebe. Moers-Mythenmetz sprüht vor Ideen und streut im Vorbeigehen Hunderte weiterer möglicher Geschichten, ein. Die bloße Erwähnung eines Theaterstücks namens König Furunkel und der ertrunkene Donnerstag sorgt doch schon für bestes Kino im Kopf. Und dann ist wieder fröhliches Rätselraten angesagt: Welche Dichteranagramme verbergen sich hinter Zamoniens berühmten Literaten? Dölerich Hirnfidler ist Friedrich Hölderlin, Akud Ödreimer ist Eduard Mörike, Eiderich Fischnertz ist Friedrich Nietzsche und Heidler von Clirrfisch ist Friedrich von Schiller. Aber Artikularius Silbenpichler?

Das Foto des Labyrinths stammt von einer Walter-Moers-Ausstellung in Bad Mergentheim 2013.

Dienstag, 29. November 2016

Thea Dorn: Die Unglückseligen


Monumental ist sie, diese fast 600-seitige Bearbeitung des Faust-Stoffes, die Thea Dorn in Angriff genommen hat. Ein dickes, dickes Buch, in dem zwar einiges endlos ausgewälzt und vieles unnötig hineingepackt ist, das aber gleichzeitig mit Anspielungen gespickt ist, vielerlei Köstlichkeiten bietet und zum Nachdenken anregt.
Darum geht's: Die deutsche Molekularbiologin Johanna Mawit erforscht in den USA die Unsterblichkeit von Zebrafischen und Mäusen, um - so ihr ehrgeizges Ziel - eines Tages den Tod beim Menschen besiegen zu können. Da begegnet ihr ein zerzauselter Mann, der sich fantastischerweise als der der Physiker Johann Wilhelm Ritter entpuppt: Ritter ist 1776 geboren und müht sich seither vergebens zu sterben. Es will dem 250-Jährigen einfach nicht gelingen. Fasziniert versucht Johanna Ritters Unsterblichkeitsgeheimnis auf die Spur zu kommen: Erst mit DNA-Analyse, dann mit alchimistischen Experimenten, schließlich, indem die einst so nüchtern kalkulierende Wissenschaftlerin den Satan beschwört: Mit ihm, so glaubt sie, müsse der Unglückselige einen Bund eingegangen sein.

Zum Hintergrund: Den Physiker Ritter (1776-1810) gab es wirklich, er entdeckte die UV-Strahlung, erfand den ersten Akkumulator,  korrespondierte mit Goethe, Brentano und Humboldt und führte an seinem Körper galvanische Selbstversuche durch, die seinen Tod mitverursachten. Oder doch nicht? Thea Dorn lässt ihn zu seiner inzwischen wieder verheirateten Witwe zurückkehren, im Krieg kämpfen, im Gebirge umherstreifen, den Nationalsozialisten Widerstand leisten und in den USA zum Tütenpacker werden, ehe er Johanna trifft - irgendwie muss man die Jahrhunderte ja rumbringen.

Nicht alles ist gelungen in diesem episch angelegten Roman. Vieles ist zu breit getreten: Ja, Johanna ist zu Recht misstrauisch, ob dieser Mann wirklich 250 Jahre alt ist. Aber muss das über zig Seiten thematisiert werden? Manches ist recht platt und abgedroschen: Immer wieder steht der aus der Zeit gefallene Ritter wie ein Ochs vor den Segnungen der modernen Welt. Den "Leuchtkasten mit dem Apfelsymbol" identifiziert er als das Erkennungszeichen einer Geheimsekte. Manches ist einfach albern: Eine kleine Fledermaus als Augenzeuge schildert die Teufelsbeschwörung aus ihrer Sicht. Wahrscheinlich gibt es dafür eine Entsprechung bei Goethe oder sonstwo. Trotzdem ist es albern.

Herrlich ist die altfränkische Art, in der Thea Dorn den religiösen Ritter palavern lässt. Er muss" all seine Artigkeit zusammennehmen, dass er nicht stracks Fersengeld gab". Im nämlichen Augenblicke, Scholasterei, zernichten, Unstern, Gelass... herrlichste Sprachperlen sind hier ausgegraben. Immer wieder darf in Intermezzi zwischen den Kapiteln auch der leibhaftige Satanas selbst zu Wort kommen. Er spricht in kunstvollen Jamben.

Schön ist auch ein eingeworfener Brief Justinus Kerners, der den bereits an Unsterblichkeit leidenden Ritter an den charismatischen Pietisten Johann Christoph Blumhardt überweist, weil in seinem eigenen Weinsberger Geisterturm kein Platz mehr für den vermeintlich nervenkranken Gast ist. Im Turm wohnt nämlich schon der ebenfalls geistig angegriffene Nikolaus Lenau, der an seinem "Faust" schreibt.

Im Großen und Ganzen ist das ein witziger und kenntnisreicher  Ritt durch mehrere Jahrhunderte Forschungs- und Geistesgeschichte, der eine Menge Fragen über Leben und Tod, Gott und Mensch, Religion und Wissenschaft aufwirft.

Dienstag, 15. November 2016

Audrey Niffenegger: The Night Bookmobile

Alexandra streift nachts durch Chicago und trifft auf ein seltsames Wohnmobil, das sich als rollende Bibliothek entpuppt. Wie sie erstaunt feststellt, enthält diese Bibliothek sämtliche Bücher, die sie in ihrem Leben je gelesen hat, dazu alle Zeitungsartikel, Briefe und Notizen, ja sogar ihre Tagebücher. Bei Sonnenaufgang muss Alexandra die nur nachts geöffnete Bibliothek verlassen, wie ihr der kauzige Bibliothekar Robert Openshaw mitteilt.

Alexandra verzehrt sich nach der rollenden Bibliothek, die sie erst Jahre später - und dann noch mehrmals in ihrem Leben  - zufällig wieder finden wird. Ihre große Sehnsucht, selbst in dieser ständig wachsenden Bibliothek zu arbeiten, überlagert schließlich alle ihre anderen Wünsche.

Audrey Niffenegger, die US-amerikanische Autorin des Bestsellers "Die Frau des Zeitreisenden", hat diese Graphic Novel zuerst 2008 als Fortsetzungscomic für die britische Zeitung The Guardian verfasst und gezeichnet. 2012 erschien auch eine deutsche Übersetzung unter dem Titel "Die Nachtbibliothek".

Mit ihren reduzierten, mitunter unbeholfen wirkenden Illustrationen und ebenso reduzierten Worten erzählt Niffenegger eindrücklich von dem unerklärlichen Sog, den Bücher auf manche Menschen ausüben, die Zeit, die sie uns stehlen und gleichzeitig schenken, die Art, wie sie unser Leben bestimmen und sind. Wer diesen Sog nicht selbst empfindet, wird nicht nachvollziehen können, was Alexandra bis zum Äußersten treibt.

Montag, 7. November 2016

Umberto Eco: Nullnummer

Sein letzter Roman, 2015, ein Jahr vor dem Tod des Autors, erschienen, ist noch einmal ein echter Eco. Es geht um Medien, um Sprache und Worte, um Geschichte, geheime Machenschaften und Verschwörungen. Gleichzeitig ist dieser Roman, der im Mailand des Jahres 1992 spielt, politischer als seine sechs Vorgänger.

1992 war ein Jahr der Umwälzungen in Italien. Richter Giovanni Falcone wurde ermordet, groß angelegte Korruptionsermittlungen brachten die lange beherrschende Partei Democrazia Cristiana komplett zu Fall. All dies wird im Buch nur am Rande gestreift, schwingt aber immer mit.

Protagonist ist der Journalist Colonna, der für die Zeitung Domani schreibt. Ein Redakteursteam produziert Nullnummern für das Blatt, das in Wirklichkeit nie erscheinen soll - das wissen aber nur Colonna und der Chefredakteur Simei. Vielmehr möchte sich der Herausgeber, ein Provinzpolitiker und zweitklassiger Verleger namens Vimercate - deutliches Vorbild ist Silvio Berlusconi - mit der Androhung dieser auf Skandale, Enthüllungen und investigativen Journalismus angelegten Zeitung Zugang zu einflussreichen Kreisen erpressen. Die Redaktionssitzungen durchziehen zynische Überlegungen: Wie können die Leser am geschicktesten manipuliert, bevormundet und hinters Licht geführt werden?

Einer der Redakteure, Braggadocio (deutsch: Prahlhans), offenbart Colonna eine große Theorie, die er über Jahre gesponnen hat: Im Mittelpunkt steht Benito Mussolini, der 1945 nicht von Partisanen erschossen wurde, sondern in einem Versteck ausharrte, um durch einen Staatsstreich wieder an die Macht zu kommen. Alles, was zwielichtigen Rang und Namen hat, ist in diesen Skandal verwickelt: Vatikan, CIA, Stay-behind-Organisationen wie die paramilitärische Gruppe Gladio... Eines Tages wird Bragadoccio erstochen aufgefunden und Colonna, der eine Diskette (wir sind im Jahr 1992 und Eco liebte die physischen Medien!) mit belastendem Material besitzt, fürchtet um sein Leben.

Bis er zufällig im Fernsehen eine BBC-Dokumentation sieht, in der genau die von Bragadoccio vermuteten Machenschaften offen thematisiert werden. Lediglich die allzu abenteuerliche Theorie von Mussolini fehlt. Wie Colonna feststellen soll, löst die Doku weder ein politisches Erdbeben aus, noch interessiert sie irgendjemanden. "Ach ja? Interessant", sagen die Leute und gehen weiter ihren Geschäften nach. Schmutzige Wäsche wird längst nicht mehr im Verborgenen, sondern öffentlich gewaschen. Warum auch nicht? Dieser letzte, gekonnte Dreh setzt der Story, die als politische Satire angelegt ist, den perfekten, desillusionierenden Schlusspunkt.

Wie eigentlich alle Eco-Romane liest sich auch "Nullnummer" etwas zäh im Mittelteil. Er muss einfach so viel erklären. Diese undankbare Aufgabe hat Braggadocio übernommen, der Mythomane, der hinter jeder Ecke eine Verschwörung wittert. Manches ist umständlich und wortreich umschrieben, vieles Italien-spezifisch und für Mitteleuropäer nicht unbedingt nachzuvollziehen. Zum Beispiel auch die Darstellung des Journalismus, die von vielen deutschen Rezensenten kritisiert wurde. So würde Journalismus in Deutschland nicht laufen. In Südeuropa läuft er aber anders. Irgendeinen Unterschied muss es geben.

Dienstag, 25. Oktober 2016

Erlend Loe: Die Tage müssen anders werden, die Nächte auch

Ein Schatz von Buch aus dem Jahr 1996. Treffender norwegischer Originaltitel: "Naiv. Super." Der 25-jährige Ich-Erzähler verliert nach einer Niederlage im Crocket allen Lebensmut, schmeißt das Studium hin, gibt seine Wohnung auf und lässt alle Gewissheiten sausen. Einfühlsam und knapp erzählt, wie in einem guten Kinderbuch, tastet sich der junge Mann von Neuem an sich selbst heran. 
Er hütet die Wohnung seines verreisten Bruders. Er macht Listen: von Dingen, die er als Kind mochte oder die ihn glücklich machen könnten. Er kauft sich einen Ball, den er stundenlang an die Hauswand wirft, später ein eintöniges Nagelbrett-Spiel der Firma Brio, das ihn ebenfalls tagelang beschäftigt.

Leider findet er zufällig auch ein Buch über Quanten- und Relativitätstheorie, die Unmöglichkeit der Zeit und die Unendlichkeit des Weltalls des Physikers Paul Davies. Das gibt ihm doch arg zu denken. In einer E-Mail stellt er Davies all die Fragen, die ihn umtreiben. Der Professor bleibt eine Antwort schuldig.

Man fragt ihn, ob er schon mal erwogen habe, weniger zu denken: "Ich sage, das erwäge ich täglich, aber es ist gar nicht so leicht." 

Besser geht es definitiv ohne das Buch. Er unterhält sich mit lange Børre, dem aufgeweckten kleinen Jungen aus der Nachbarschaft. Er ruft ein Mädchen an, das ihm gefällt. Er schreibt Faxe (wir sind im Jahr 1996) an einen Freund im Norden. 

Als Höhepunkt nimmt er die Einladung seines Bruders nach New York an. Er entdeckt, was gut und wichtig ist: Wasser, Bäume, Mädchen, Brüder und so einiges mehr. Es hätte auch irgendetwas anderes sein können. Weniger Weltall, mehr Børre. Tut gut, das zu lesen.





Montag, 3. Oktober 2016

Hannes Stein: Der Komet




Was wäre, wenn der österreichische Thronfolger Franz-Ferdinand 1914 nach dem ersten Attentatsversuch in Sarajewo einfach umgekehrt und nach Hause gefahren wäre? Dann hätte es, so die Version in diesem Roman aus dem Jahr 2013, keinen Ersten und keinen Zweiten Weltkrieg gegeben, die k.u.k.-Hauptstadt Wien wäre politisches und kulturelles Zentrum der Welt, in ganz Europa gäbe es blühende jüdische Gemeinden, der Mond wäre eine deutsche Kolonie, die USA eine unbedeutende Republik der Cowboys und Hinterwäldler, Anne Frank Nobelpreisträgerin, der Almdudler das weltweit beliebteste Getränk...

Schauplatz der Handlung ist das Wien der Jetzt-Zeit, wo sich zwischen Klapprechnern, Elektropost und tragbarem Telefon folgendes zuträgt: Der Student Alexej und die Frau des Hofastronomen Dudu Gottlieb, Barbara, haben eine Affäre, während der Gatte auf dem Mond weilt und dort entdeckt, dass ein Komet auf die Erde zurast. Als wäre das alles nicht schon langweilig genug, explodiert der Komet kurz vor dem Auftreffen und verschont die Erde, wo sich die Angehörigen aller Religionen vor Harmonie und gegenseitigem Verständnis nicht mehr einkriegen.

Klar: Stein geht es nicht um eine Handlung, sondern er möchte sein Utopia entwerfen, das aber in seiner aufgesetzten Wiener Seligkeit weder stringent, noch hintersinnig-wienerisch-humorvoll, sondern einfach nur platt und klischeehaft gezeichnet ist. In fast jedem Satz wird auf plumpeste Art und Weise irgendein Wissen vermittelt. Manchmal hat der Autor dabei wohl das Bändchen "Österreichisch für Touristen" zu Rate gezogen, um das Ganze so richtig original klingen zu lassen. Es klingt aber dann so richtig deppert:

 "Er hatte ein Wiener Schnitzel von enormen Ausmaßen verzehrt und hatte dabei die Neue Freie Presse durchgeblättert, er hatte ein Achterl und dann noch ein Achterl vom Blauen Zweigelt getrunken und im Prager Tagblatt geschmökert; er hatte den Pester Lloyd studiert und einen großen Braunen getrunken, er hatte Marillenpalatschinken mit Schlagobers vertilgt und die Morgenzeitung gelesen; quasi als Nachgedanken schickte er einen Slibowitz hinterher."

Was wäre passiert, wenn der Thronfolger in Sarajewo umgekehrt wäre? Dann hätte halt es halt einen anderen Auslöser für den Ersten Weltkrieg gegeben. Meine Meinung.

Mittwoch, 3. August 2016

Elke Koch: Schwäbische Alb Ost

 „Schwäbische Alb Ost. Unterwegs mit der ganzen Familie“ heißt Elke Kochs neuer Wanderführer, der 25 Touren im östlichen Teil der Alb zwischen Blaubeuren und dem Ries vorstellt.

Wie beim Vorgängerband „Schwäbische Alb Mitte“ sind auch hier familienfreundliche, einfache Touren vorgestellt. Hintergrundinformationen, etwa zu Einkehrmöglichkeiten, kulturellen Sehenswürdigkeiten, Erreichbarkeit, dazu detaillierte Höhen- und Gehzeitangaben sowie Karten, bieten einen echten Mehrwert. Die Wegführungen sind präzise beschrieben, sodass das Risiko, sich zu verlaufen relativ gering ist. Mitunter bietet das Buch kinderwagengerechte Ausweichrouten an.

Bei der Auswahl der Strecken hat sich Elke Koch auf die tatsächlichen Highlights in der Region konzentriert. Auf der Ostalb sind das etwa Kaltes Feld, Rosenstein mit Finsterloch und Wäschbachschlucht, Ipf und Ruine Flochberg und das Aalbäumle, für das eine Nachtwanderung vorgeschlagen wird. Härtsfeldsee und Kloster Neresheim sind ebenso Tourenziel wie das Wental, der Wildpark von Schloss Duttenstein bei Dischingen und die Ameisenstadt im Dellenhäule. Im Ries finden Wanderbegeisterte Ausflüge ins Karthäusertal bei Christgarten mit den Ruinen Hoch- und Niederhaus sowie zu Ofnethöhlen und Alter Bürg. Einsprengsel zu regionalen Sagen, etwa vom Wentalweible, dem Mordloch bei Geislingen oder dem Flochberger Schlüsselfräulein, sorgen für Gesprächsstoff auf der Familienwanderung.

An einzelnen Stellen hätte ein Blick außerhalb der ausgetretenen Pfade gutgetan: Warum lässt die Wanderung um den Ipf das herrliche Sechtatal mit der Auerochsenweide nur um wenige Hundert Meter links liegen? Ein weiterer, kleiner Kritikpunkt an diesem sonst empfehlenswerten Führer: Viele der Fotos – das gilt besonders für den östlichen Bereich – sind bei tristem Herbst- oder Winterwetter aufgenommen: Die großartige Schönheit der Alb erschließt sich da erst auf den zweiten Blick. Oder beim selbst Erwandern.


Erschienen in Ipf- und Jagst-Zeitung / Aalener Nachrichten, 4. August 2016.

Doris Dörrie: Alles inklusive

Schon auf der zweiten Seite heißt es:

"Ich stand da, die Kälte schoss durch meine Fußsohlen bis hoch in meinen Bauch."

Und auf Seite 43:

"Apple lacht. Soll ich Ihnen was sagen? Ich hasse Prosecco. Ich dachte nur, dass man das in den Redaktionen von Frauenzeitschriften trinkt.
Richtig, grinst Susi. Diese Modekatzen schlabbern das Zeug die ganze Zeit. Und deshalb kann ich es nicht ausstehen."

Normalerweise bringen mich solche Floskeln dazu, einen Roman nach Seite 30 wegzulegen. Aber das hieße diesem Buch unrecht tun. Es ist nämlich ein Meisterwerk. Wer da nämlich so floskel- und klischeehaft denkt, das sind Dörries überzeichnete Figuren. Und die machen diesen Roman von 2011 aus, in dem es um Frauen (hauptsächlich), Männer (unter ihnen auch ein Hund), geplatzte Träume, Abhängigkeiten und die Suche nach Liebe geht.

Torremolinos in Südspanien, Siebzigerjahre: Hippeschönheit Ingrid vertickt am Strand barbusig selbstgemachten Schmuck, um sich mit ihrer Tochter Apple durchzuschlagen. Ihre Tochter Apple träumt von geordneten Leben, wie es der Bankangestellte Karl mit seinen gebügelten Hemden hat. Karl macht Urlaub mit seiner Frau und seinem Sohn Tim im eigenen Ferienhaus. Ingrid und Karl verlieben sich. Irgendwann treibt Karls Frau tot im Pool

Dreißig Jahre nach dem Selbstmord kreuzen sich die Wege der Figuren wieder. Tim ist eine Frau geworden, die einen Mann im Frauenkörper liebt. Apple hängt sich an Männer, um von ihnen bis zum Letzten ausgenutzt zu werden - was jene dankbar annehmen. Ihre Freundin Susi hofft, mit ihrem schwer kranken Mann glücklich zu werden, indem sie mit ihm nach Spanien auswandert. Er wird es: aber ohne sie. Immobilienmaklerin Angelita aus Bayern ist bereits vor Jahrzehnten nach Spanien gegangen - in die Arme eines Flamenco-Gitarristen - und hat dort die letzten Illusionen verloren.

Dörrie kann nicht nur sehr gut spanisch, sie zeigt auch wirklich profunde Kenntnis der deutsch/österreischisch/Schweizer Auswanderer-Community in ihren spanischen Residenten-Ghettos und Urbanisationen in all ihrer Abgeschlossenheit und Ausgestoßenheit. Genauso habe ich viele dieser Residenten erlebt: Wer vor sich selbst nach Spanien geflüchtet ist, wird mit einer geballte Ladung von sich selbst konfrontiert.

Dörrie erzählt das alles mit Leichtigkeit und humorvollen Übertreibungen. Schöne Sommerlektüre.

Samstag, 16. Juli 2016

Wolfgang Schorlau: Die schützende Hand

Wer braucht dieses Buch? Ich nicht. Es ist weder ein spannender Krimi noch ein ernst zu nehmendes Sachbuch.

Darum geht's: Der ehemalige BKA-Mitarbeiter und jetzige Privatermittler Georg Dengler erhält von einer anonymen Person den Auftrag, die wahre Todesursache der NSU-Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt zu ermitteln. Er findet sie heraus, indem er nacheinander Leute befragt, von einer alten Liebe geheime BKA-Akten bekommt und sich heimlich einen Schlüssel für einen Geheimaktenschrank nimmt. Das Ergebnis: Mundlos und Bühnhardt haben nicht Selbstmord begangen, sondern sind exekutiert worden, wahrscheinlich vom Geheimdienst, der den ganzen NSU-Komplex mit seiner V-Mann-Szene zu verantworten hat. Auch die CIA hat ihre Finger im Spiel.

Erster Kritikpunkt: Die Spannung fehlt. Von Anfang an ist das Fazit klar, und Dengler findet immer mehr Indizien dafür, dass die offizielle These - dass Böhnhardt und Mundlos ihren Wohnwagen in Brand gesteckt haben und sich anschließend darin umbrachten - falsch ist. Am Ende sind es wohl drei oder vier solcher Indizien, die aber unendlich breit getreten werden. Das Buch besteht in langen Abschnitten aus Ermittlungsakten, Protokollen und Fußnoten. Mangelnde Recherche kann man Schorlau nicht vorwerfen. Aber ein Krimi ist das nicht. Zumal auch die Figuren unwahrscheinlich platt gezeichnet sind. Da sagt einer "Prostata" statt "Prost".

Das eigentlich Schlimme: Schorlau glaubt selbst an seine Verschwörungstheorien. Er, das schreibt der Autor im Nachwort und unterstrich es in zahlreichen Interviews, ist fest davon überzeugt, dass hier ein Staatsverbrechen vertuscht worden ist. "Es geht um die Suche nach Wahrheit", schreibt er. Ein hehres Ziel, an dem immerhin schon einige Untersuchungsausschüsse gescheitert sind. Aber vielleicht sind deren Mitglieder ja auch alle korrupt und vom Big Brother fernbestimmt.

Schorlau hat diese drei bis vier Ungereimtheiten gefunden, und auf denen lässt er seinen Dengler wieder und wieder herumtrampeln. Es ist gar nicht nötig, sich beim Lesen der einzelnen Protokollausschnitte anzustrengen, weil alles garantiert zigmal wiederholt wird.

Vielleicht hat Schorlau ja sogar Recht. Manche seiner "Enthüllungen" sind gar keine, weil die Sachverhalte offensichtlich sind: "Ein Ergebnis dieser Recherchen ist die auch für mich überraschende Erkenntnis, wie wenig souverän und wie sehr fremdbestimmt das Land ist, in dem ich lebe." (Nachwort). Deutschland ist nicht souverän, sondern wird von den USA gesteuert. Xavier Naidoo ist für eine solche Aussage zum Teufel gejagt worden.

Wenn schon Enthüllungen, dann bitte ein Sachbuch, das klar strukturiert ist und klar erkennen lässt, was Fiktion und was Ergebnis seriöser Recherche ist. Meinetwegen auch im Kopp-Verlag.

Das anstrengendste Buch, dass ich je geschrieben habe", nennt Schorlau "Die schützende Hand" in einem SWR-Interview. Es ist auch anstrengend, es zu lesen.

Mittwoch, 22. Juni 2016

Erin Morgenstern: Der Nachtzirkus

Fantastisch! Ein märchenhaft schöner Roman über einen Zirkus, der nur nachts geöffnet ist und genauso unvermittelt von einem Ort verschwindet, wie er aufgetaucht ist. Unfassbarer Zauber umfängt den Leser, jedes Detail ist ein Gänsehauterlebnis.

Die Handlung: Die Liebe geht unmögliche Wege, der Unschuldigste muss sterben und der tumbe Tor wird zum Helden.

Es treten auf: Theaterproduzent Chandresh Christophe Lefèvre und seine Idee zu einem Zirkus mit vielen Zelten, der alles bisher Dagewesene sprengt und ein rauschendes Fest für die Sinne bietet. Der Zauberer Prospero, der vor Publikum echte Magie so aussehen lässt, als wäre sie durch Apparate und Tricks herbeigeführt. Ein Mann im grauen Anzug, der weit in die Vergangenheit zurückreicht und sich mit Prospero ein verhängnisvolles Duell liefert. Die Hellseherin Isobel, über die ihre eigenen Karten das Unglück hereinbrechen lassen. Der Münchner Uhrmacher und poetische Anführer der zirkusabhängigen "Reveurs", Friedrick Stefan Thiessen. Die über und über mit rätselhaften Zeichen tätowierte Schlangenfrau Tsukiko. Celia, die ihrem unsichtbaren Vater ein rätselhaftes Karussell präsentiert. Marco und sein verwunschenes Buch. Die Zwillinge Poppet und Widget mit ihrer Gabe, Zukunft und Vergangenheit ihrer Gegenüber zu lesen. Der Bauernjunge Bailey, der sich in den Zirkus hineinschleicht und ihm nicht mehr entkommt.

In weiteren Rollen: eine vertrackte Uhr, ein unglaubliches Feuerwerk, ein geworfenes Messer, Shakespeare, ein Ballkleid, das die Farben wechselt, eine fallende Trapezartistin, ein Einweckglas, in dem ein Sommertag am Meer gefangen ist, ein Notizbuch, das zu einer Taube wird, ein Wunschbaum, ein Raum voller Federn, ein Rabe, der sich auf die Zauberin stürzt, eine mutige Frau, ein Eisgarten...

Hereinspaziert! Und viel Vergnügen!

Peter Härtling: Hölderlin

Ich habe mich durchgekämpft. Es war nicht immer leichte Kost, aber wer das geschafft hat, ist amtlicher Experte für das Leben des Dichters Friedrich Hölderlin. Akribisch ist untertrieben: Peter Härtling hat augenscheinlich alles recherchiert, was es zu Hölderlins Leben gab. Dokumente, Briefe, Manuskripte, Verzeichnisse, jedes Stück Sekundärliteratur, jede Lebensbeschreibung, Gemälde, Quittungen, Papierfetzen, beschriebene Bierdeckel, was weiß ich... In diesem biographischen Roman steckt der ganze Hölderlin drin - und noch mehr. Und das muss man mögen.

Die Handlung zeichnet alle Lebensstationen des Dichters nach, die Kindheit in Nürtingen, die Internatsjahre in Denkendorf und Maulbronn, die revolutionäre Phase am strengen Tübinger Stift, die erste Hofmeisterstelle beim sadistischen Sohn der Waltershausener Familie von Kalb, die unglückliche Liebe zu seiner Dienstherrin Susette Gontard in Frankfurt, die Arbeit am "Hyperion", die Stationen in Hauptwil, Bordeaux, Stuttgart und Homburg. Schließlich der geistige Zusammenbruch und die 36 letzten, umnachteten Jahre im Tübinger Turm. Und mehr, mehr, mehr.

Dieses Mehr ist das Problem. Eine Biographie hält sich nämlich entweder ausschließlich an die Fakten, oder der Autor macht einen Roman daraus, der weglässt, ergänzt, fokussiert, zuspitzt. Härtling versucht in seinem "Hölderlin" von 1976 beides, allerdings ist ihm sichtlich unwohl dabei. Warum müsste er sonst ständig thematisieren, dass er Hölderlins "Gedanken nicht nachdenken" kann, es aber dennoch unaufhörlich versucht und in einem fort psychische Regungen rekonstruiert?

"Wäre es nur so, dachte er. Sie rechnen nicht mit dieser Bitterkeit und dem Frost, der mich manchmal steif macht."

Und dann wieder thematisiert der Erzähler, dass er dieses Hineindenken eigentlich nicht darf und kann. Manchmal spielt er selbstbewusst mit dieser Marotte, tritt als auktorialer Erzähler, der bewusst die Fäden zieht in Erscheinung:

"Ich lasse den Jungen hartnäckig sein."

Manchmal geht er vorsichtig zu Werke:

"Es kann sein, dass er wieder das Gefühl hatte, von innen zuzuwachsen".

Das, nebenbei bemerkt, ist eine wunderschöne Formulierung. Von innen zuwachsen. Das Gehetzte, Getriebene, die Flucht, das Fremdsein, der Kontrast zwischen weitem Geist und beengten Verhältnissen, alles das ist eindrücklich beschrieben. Und ich gehe jetzt einfach mal davon aus, dass Härtling richtig liegt, wenn er das zu einem Wesenskern Hölderlins kürt.

Aber, um noch einmal zurückzukommen auf die Erzählweise: Zu oft ist die einfach nur nervig. Dieses Buch atmet den Geist der Siebzigerjahre: Du, was hat sich der Hölder dabei gedacht? Was hat das mit ihm gemacht? Lass uns darüber reden.

Aber auch ein paar Lustigkeiten sind dabei. Wenn Härtling, der selbst in Nürtingen aufwuchs, Hölderlin und Schelling in breitestem Schwäbisch über Hegel sinnieren lässt, das hat was (siehe Foto).

Alles in allem: Hardcore-Hölderlin-Fans - ich oute mich als einer - kommen auf ihre Kosten. Man könnte aber  auch gleich Hölderlin lesen ;-)

"Jede Zeit hat ihre Sprache. Diese irrt zwischen Himmel und Erde. Sie sucht nach Göttern und Geistern, baut arkadische Landschaften, modelt an einem Menschenbild, das bieder und hochfahrend in einem ist. Sie findet Wörter, Begriffe, die sich von dem lösen, was sie fassen sollen."

Sonntag, 22. Mai 2016

Isabel Bogdan: Der Pfau

Scones und Darjeeling Tea bereitstellen, in eine karierte Wolldecke einmummeln und Isabel Bogdans "Der Pfau" aufschlagen. Dieses Buch gefällt Euch, wenn Ihr Fans von Inspector Barnaby (ich persönlich liebe die Serie), Miss Marple (zumindest ihrer ereignisloseren Fälle), Lord Peter Wimsey und dieser Seite seid.

Auf dem Herrenhaus von Lord und Lady McIntosh in den schottischen Highlands findet sich die Investmentabteilung einer Londoner Privatbank zum Teambuilding-Seminar ein. Dummerweise schlägt das Wetter um und die vier Banker mit ihrer Chefin, die samt Psychologin und Köchin angereist sind, werden eingeschneit. Sonst passiert: wenig bis nichts. Eine Gans, ein Hund und natürlich der namensgebende Pfau bringen die Gesellschaft durcheinander - aber so schlimm ist es dann auch wieder nicht. Am Schluss - soviel sei verraten - ist ein Lackschaden am Chefinnen-Auto, den der wildgewordene Pfau verursacht hat, die schlimmste Folge. Und der Pfau, naja, der Pfau. Mit dem Pfau geschieht so einiges.

Es gibt diese Menschen, und - man gebe mir dafür entsprechend auf den Deckel - es sind meistens Frauen. Stundenlang können sie plaudern über Nichtigkeiten, das Gleiche und Gleiche hin und her wälzen, es nochmal so herum betrachten und nochmal so herum. Meistens drehen sich diese Gespräche dann um die jeweils Abwesenden, ihre Beziehungen, ach ja, und ihre allzumenschlichen Schwächen. Agatha Christie zeichnet Miss Marple als eine solche - allerdings hinterlistige - Plaudertasche. Isabel Bogdan, die bisher Übersetzerin unter anderem für die Bücher von Nick Hornby und Jonathan Safran Foer war, gerät in ihrem ersten Roman in dieses Fahrwasser.

Kein schlechtes Buch. Auch kein unlustiges. Aber ein geschwätziges. Warum muss alles, alles, alles immer wieder rekapituliert werden? Warum muss ständig wiederholt werden, was jede einzelne Person - vom kriecherischen Banker Bernard bis zur abenteuerlustigen Köchin Helen - denkt, nicht denkt, weiß, nicht weiß, verschweigt, nicht verschweigen kann, weil er/sie es ja nicht weiß, sich kurz überlegt auszuplaudern, es aber dann aus Gründen, die mehrfach ausführlich dargelegt und erörtert werden müssen, unterlässt?

Vielleicht muss es so sein, damit die Atmosphäre stimmt. Und die stimmt. Nicht wahr, Mrs Bogdan? Noch etwas Tea?

Montag, 16. Mai 2016

Michael Köhlmeier: Das Mädchen mit dem Fingerhut

Ein fantastisches Buch. Keines, das glücklich macht.

Ein elternloses Mädchen streift durch die Stadt. Niemand weiß ihren Namen. Sie versteht die Sprache der anderen nicht. Die anderen verstehen sie nicht. "Yiza" sagt sie, deshalb wird sie so genannt: Yiza.

Yizas letzte Bezugsperson, der "Onkel", der sie Betteln schickte, ist spurlos verschwunden. Yiza kommt ins Heim und flieht mit den beiden Jungen Arian und Schamhan. Sie sind hungrig , schlagen sich durch, brechen in ein Haus ein, die Polizei greift sie auf, Yiza und Arian fliehen, sie übernachten in einem Gewächshaus und Yiza bekommt schweres Fieber. Eine alte Frau findet Yiza, pflegt sie gesund, möchte sie aber besitzen und sperrt sie ein. Arian kommt zu Yizas Rettung. Das böse Märchen endet genauso gewaltsam und hoffnungslos, wie es begonnen hat.

Der Österreicher Köhlmeier erzählt diese dunkelgraue Geschichte ausschließlich aus Sicht der Kinder. Sie, die um Sprache ringen, die die Welt nicht verstehen und von dieser nicht verstanden werden, entfachen eine unfassbare Wortgewalt. Nachts irrt Yiza durch die verschneiten Straßen und endet vor der Kirchentür:

"Weil sie den Kopf hob, war ihr, als beugte sich die schwarze Pforte über sie und wollte sie zudecken."


Hans Christian Andersens "Mädchen mit den Schwefelhölzern" ist als Vorbild überdeutlich in dieser Geschichte, die in unserer Zeit, in der weltweit einsam flüchtende Kinder unterwegs sind, aktueller nicht sein könnte. Wie Andersens Märchen endet "Das Mädchen mit dem Fingerhut" in einer Traumsequenz. Die lässt alle Deutungen zu, der Leser geht aber unweigerlich vom Schlimmsten aus.

Was Köhlmeier mit seinem karg und poetisch erzählten Werk vor allem weckt (und damit thematisiert): Mitleid. Größer könnte das Mitleid nicht sein. Der Leser möchte die Seiten aus dem Buch herausreißen, um diesem gequälten Geschöpf die Ungerechtigkeit zu ersparen. Alle haben Mitleid mit dem Mädchen. Mit den anderen Zerlumpten, die älter und hässlicher sind, hat keiner Mitleid.

Freitag, 13. Mai 2016

David Sedaris: Ich ein Tag sprechen hübsch

"Ich ein Tag sprechen hübsch". Das ist der sehnliche Wunsch der verstörten und verzweifelten Schüler eines Kurses für Erwachsene, die in Paris, unter der Knute einer sadistischen Französischlehrerin von einem besseren Leben träumen.

In verräucherten Korridoren zusammengerottet und das Beste aus unserem mitleiderregenden Französisch machend, pflegten meine Mitschüler und ich die Art von Konversation, wie man sie wohl meist in Flüchtlingslagern zu hören kriegt.
"Manchmal mich weine allein bei die Nacht."
"Das ist für mich gewöhnlich auch, aber sein mehr stark, du. Viel Arbeit, und ein Tag man hübsch spricht. Leute bald stoppen einen hassen. Vielleicht morgen, okay?"

Mittendrin in dieser Schar der Geknechteten ist David Sedaris. Wie dem Autor in diesen, 2000 erschienenen, Anekdoten aus seinem Leben überhaupt pausenlos Unrecht geschieht. Er muss gegen die hinterhältige Logopädin, den verständnislosen Gitarrenlehrer, den hölzernen Vater, seine peinlichen Landleute in Paris und eine ganz und gar unverständige Welt kämpfen. Und dann auch noch Raleigh, North Carolina, wo er aufzuwachsen verdammt ist. Nicht zu ertragen, der Arme. Allein auf verlorenem Posten. Wo er doch viel lieber, wie sein späterer Lebensgefährte Hugh, in Äthiopien unter der Plane eines Militärlasters zusammengepfercht worden wäre.

In seinen urkomischen, betont weinerlichen Stories ist Sedaris unschlagbar. Selbstironie und Doppelbödigkeit par excellence. Ein Schelmenroman von Christian Reuters (*1665) Gnaden. Aber bevor ich jetzt noch weiter groß auf der Metaebene herumschwadroniere: selber lesen.

Mittwoch, 4. Mai 2016

Volker Weidermann: Ostende 1936 - Sommer der Freundschaft

Zu Filmen auf DVD gibt's oft  Bonusmaterial. Es bietet einen Blick hinter die Kulissen, ein Making-of, ein Gespräch mit dem Regisseur und ähnliches. Ist der Film gut, schaue ich mir dieses Bonusmaterial ganz gern an. Der Film sind in diesem Fall die Werke von Stefan Zweig, Josef Roth, Irmgard Keun, Egon Erwin Kisch, Ernst Toller, Arthur Koestler, Hermann Kesten und vielen anderen. Das Bonusmaterial ist diese biografische Skizze aus dem Jahr 1936, als alle diese Exilautoren - und noch mehr Verfemte und Vertriebene des Naziregimes - im belgischen Badeort Ostende aufeinandertrafen. Beides ist es wert.

Literaturkritiker Weidermann, zurzeit "Der Spiegel" und "Literarisches Quartett", veröffentlichte dieses Buch 2014, als er noch Feuilletonchef der FAS war. Er hat unendlich viel Material gesammelt, wunderbare Briefe und Zitate ausgegraben - wie Zweigs göttlichen Text "Das Buch als Eingang zur Welt" - und eine leichtfüßige Erzählung daraus gemacht. Das Gegenteil von bleischwerer Sekundärliteratur.

Es ist wohl kein Zufall dass das alles sehr an die psychologisch fein gezeichneten historischen Biografien Stefan Zweigs wie in "Sternstunden der Menschheit" erinnert. Was Weidermann nicht belegen kann, konstruiert er nach dem Prinzip der größtmöglichen Wahrscheinlichkeit - und es ist letztlich egal, wass er hinzugefügt hat. Denn so könnten sie wirklich gelaufen sein: Die Runden Egon Erwin Kischs im Kreise seiner kommunistischen Kampfgenossen. Die Gespräche zwischen Zweig und seinem bettelarmen, abgerissenen, versoffenen, weinerlichen, aber genialen und geliebten Freund Joseph Roth.

Die Vertrautheit zwischen dem Schriftsteller Zweig, der gerade dabei ist, alles zu verlieren, und seiner scheuen Sekretärin und Geliebten Lotte Altmann. Und die ganz große Liebe zwischen Joseph  Roth und Irmgard Keun. Sie spornen sich gegenseitig zum Schreiben an, saufen gemeinsam, und sie hält ihn, wenn er sich morgens übergeben muss. Irgendwann erträgt sie ihn nicht mehr, sie flieht und schreibt in einem Brief: "Es war wie immer. Es war das Ende."

Eine unbeschwerte Urlausstimmung ist das nicht. Die Katastrophe ist nah. Für einige ist sie schon da, für alle wird sie kommen. Viele haben schon alles verloren, andere klammer sich an das, was sie noch haben, und  wollen - wie Zweig - offenbar nicht wahrhaben, dass das größte Unheil noch über sie kommt. Sie müssen weiter, weg aus Europa, oder direkt in den Kampf, wie Arthur Koestler in den spanischen Bürgerkrieg. Es wird noch schlimmer - für fast alle, nach diesem Sommer in Ostende.


Mittwoch, 27. April 2016

Wolfgang Büscher: Ein Frühling in Jerusalem

Ist Jerusalem eine schöne Stadt? Schwer zu sagen. Möchte ich nach der Lektüre dieses Buches dorthin reisen? Nein. Lohnt es sich, das Buch zu lesen? Uneingeschränkt: Ja!

Reiseschriftsteller Wolfgang Büscher hat zwei Monate lang in der Altstadt Jerusalems gelebt. Er beschreibt Begegnungen mit Menschen, Orten und alten Texten wie den Aufzeichnungen des Wasif Jawhariyyeh, Poet, Geschichtenerzähler und Oud-Spieler, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Jerusalem lebte.

Einen knappen Quadratkilometer groß ist die Altstadt. Für Büscher ein "Clash der Dünste und Offenbarungen", "eine Stadt, nicht ganz von dieser Welt". Das enge Nebeneinander der politischen Ideen, Kulturen, religiösen Überzeugungen, symbolisch aufgeladenen Heilserwartungen erscheint  brandgefährlich. Nur ein Streichholz reicht, um alles in die Luft gehen zu lassen.

Büscher wohnt zuerst in einem schäbigen Hostel, später in einem griechisch-orthodoxen Konvent im christlichen Viertel. Er schafft es als Nicht-Muslim, den Felsendom zu betreten, lässt sich über Nacht in der Grabeskirche einschließen. Sonst unternimmt er nicht übertrieben viel, und darin liegt der Reiz dieses Buches. Er schreitet immer wieder die gleichen Wege dieses Quadratkilometers ab, wird dadurch in kurzer Zeit so etwas wie ein alter Bekannter, mit den Orten Vertrauter. Er führt interessante Gespräche mit interessanten Menschen, die zu zeitweiligen Wegbegleitern werden und verstehen helfen, was vielleicht nicht zu verstehen ist: Ein orthodoxe Jude, mit dem er zigmal einen reizlosen Park umrundet, ein junger Benediktinermönch, der Sohn des Fotografen Elia, der nur oberflächlich witzige Zahnarzt Nikos, das lebende Geschichtsbuch Dr. John, ein erschreckend gesetzestreuer Rabbi, die fortschrittliche und verzweifelte Jüdin Ada... Nur ein Vertreter der jüdischen Siedler lässt ihn harsch abblitzen.

Es ist ein Spiel mit Worten und ein Spiel mit den Farben, Schatten und Licht, das Büscher spielt. Manchmal, abends, wenn alle Restaurants und Bars geschlossen sind, ist Jerusalem wüstenfarben. Zwei Farben aber beherrschen alles andere. Das Schwarz des Religiösen und  Freudlosen. Das Jerusalem der Gegenwart sei "eine altersstrenge, in tiefes Schwarz gekleidete Person".  Und das schwefelige Weiß, in das er die Stadt schon bei seiner Ankunft von Ferne getaucht sieht, und das Unheil, Gefahr in sich birgt.

Beide Farben sind ohne Hoffnung - und so sind auch viele der Geschichten und Anekdoten. Büscher redet viel mit den alteingesessenen Bewohnern der christlichen Viertel, deren Söhne und Töchter reihenweise nach Europa und die USA geflohen sind, um dort ihr Glück suchen. "There ist no joy in this city" keine Freude, keine Perspektive, sagt unaufhörlich der sympathische Charly Effendi,  Armenier, und ein Angehöriger der verblichenen Elite Jerusalem. Seine Welt blutet aus, verblasst. Diese Geschichten sind von großer Poesie und haben, wie Büscher selbst schreibt, "Bittermandelgeschmack" - für mich seit diesem Buch der Geschmack des schwefelweißen Jerusalem, das ich wahrscheinlich nie bereisen werde.

Dienstag, 19. April 2016

Hermann Hesse: Im Presselschen Gartenhaus

Eine hinreißende Tübingen-Miniatur aus dem Jahr 1913. Hesse hatte in der Unistadt  bei Heckenhauer von 1895 bis 1899 eine Buchhändlerlehre absolviert. In dieser Momentaufnahme gelingt ihm eine fantastische Charakteristik seiner verflossenen Tübinger Dichterbrüder ein Jahrhundert zuvor.

Eduard Mörike und Wilhelm Waiblinger, beide Theologiestudenten am evangelischen Stift, holen den damals 53-jährigen, geistig umnachteten Friedrich Hölderlin in seinem Turm ab, wo ihn die Familie des Schreiners Zimmer pflegt. Gemeinsam ziehen sie ins Sommergartenhaus auf dem Österberg. Als Hölderlin wieder abgeholt wurde, erzählt Mörike die lustig-fantastische Geschichte von seiner Begegnung mit dem Museumsdirektor Joachim Andreas Vogeldunst aus Samarkand, der für seine Kuriositätensammlung noch einen schwäbischen Dichter benötigt.

Höderlin ist nur noch ein Schatten seiner selbst, traurig und verängstigt wie ein gefangener großer Vogel. Spricht er, so verschanzt sich hinter einem feierlichen Hofzeremoniell, redet die Studenten mit "Majestät" an, brabbelt Unverständliches vor sich hin. In seiner Krankheit erkennen die Studenten weniger einen Wahnsinn "als eine tiefe Ermüdung und hoffnungslose Resignation des verbrauchten Geistes und Herzens". Immer wieder flackert in Hölderlin eine Ahnung des Großen auf, etwa bei dem abendlichen Gedanken, Jugend und Schönheit, vergessene geistige Gedankenwelten hätten an diesem Tag in der Laube zu ihm gesprochen. Doch: "Er vermochte nur noch die dünne, vereinzelte Melodie seiner eigenen Vergangenheit zu hören, und die war nichts als unendliche Sehnsucht ohne Erfüllung gewesen. Er war alt, er war alt und müde."

Waiblinger ist ein Fantast, reizbar, impulsiv und vom absoluten Willen durchdrungen, Schönes und Wahres zu schaffen - zur Not mit Gewalt. Mörike fürchtet seine "Mischung von brutaler Offenheit und pathetischer Schauspielerei". Waiblinger weiß, dass seine Lebenszeit schneller verbraucht ist als bei anderen: "Ich bin gezeichnet wie ein Baum, der gefällt werden soll." Ganz anders Waiblingers Gesicht, wenn er sich rührend und liebevoll um seinen geistigen Bruder Hölderlin kümmert.

In keinen der drei blickt Hesse so tief hinein wie in Mörike. Äußerlich wegen seiner guten Laune geliebt, ein "stiller und guter Stern", der Verzicht predigt. "Du stehst überall nur wie ein Wächter dabei und hast überall nur teil am Schönen und Zarten und nicht am Giftigen und Hässlichen", wirft ihm Waiblinger vor. Und innerlich? Da schaudert Mörike vor sich selbst, wie ihm in manchen schönen Augenblicken "plötzlich die ganze Umgebung zu einem verzauberten Bilde erstarrte, in dem er mit staunenden Augen stand und die rätselhafte Schönheit der Welt wie eine Mahnung und beinahe wie einen feinen, heimlichen Schmerz empfand." Wie er in Abgründe und Schwermut hinabgleitet. "War es wirklich das Schicksal der Dichter, dass ihnen keine Sonne scheinen konnte, deren Schatten sie nicht in der eigenen Seele sammeln mussten?" fragt sich Mörike selbst

Hesse schließlich gelingt es, sich unter die anderen schwäbischen Dichter einzureihen. Der abgründige Menschenkenner leidet mit, fühlt sich verwandt, setzt Tübingen und der Zeit ein unfassbar poetisches Denkmal. Und auf Hessesche Schrulligkeiten wie die "frohen, ernsten, heiteren oder träumerischen Jünglingsgesichter", bei denen "knabenhafter Stirn" strahlt, muss der Leser auch nicht verzichten. Also alles drin.

Sonntag, 17. April 2016

Peter Härtling: Waiblingers Augen

Dem vergessenen Dichtergenie Wilhelm Waiblinger (1804-1830) hat Peter Härtling 1987 diesen biografischen Roman gewidmet. Aus dem ohnehin kurzen Leben Waiblingers, der mit 25 Jahren in Rom starb, hat Härtling eine kurze, aber intensive Lebensepisode herausgepickt. 

Der junge Mann, der schon als Dreizehnjähriger Hilfsschreiber am Uracher Oberamtsgericht war, war als Theologiestudent provisorisch im Tübinger Stift aufgenommen. In dieser Zeit, als 19-Jähriger, veröffentlichte Waiblinger seine gefeierte autobiografische Erzählung um den Dichter Phaeton. 1822 besuchter er erstmals den seit langem geistig umnachteten Hölderlin in seinem Turm, mit dem er von nun an immer wieder Gespräche führte. Sein viel beachteter Aufsatz "Friedrich Hölderlins Leben. Dichtung und Wahnsinn" ist das Ergebnis dieser Begegnungen.

Ebenfalls historisch belegt ist das Verhältnis Waiblingers mit der fünf Jahre älteren Julie Michaelis, der Schwester des jüdischen Tübinger Juristen Adolph Michaelis, das aktenkundig wurde, weil das Haus der Familie nach Brandstiftung in Flammen aufging. Auf die Veröffentlichung seiner Bücher "Lieder der Verirrung" und "Drei Tage in der Unterwelt" hin wurde Waiblinger aus dem Stift ausgeschlossen. 1826 reiste er nach Italien, wo er bis zu seinem Tod lebte.

Für Härtling ist dieses Leben die Grundlage für das Porträt eines überschäumenden Gefühlsmenschen, der in seinen immer weiter gesteigerten Emotionen verglüht. "Verspätetes Kraftgenie" war der Ausdruck, den Hermann Hesse für Waiblinger fand.

Bei Härtling ist Waiblinger ein durch und durch poetisches Wesen, ein Lord Byron, ein Don Giovanni, dem die biedere Realität bei Weitem nicht genügt. Dass die Straßen Tübingens nicht auch verwüstet sind, wenn sein Inneres zerrütet ist, macht ihn fassungslos. Die undurchsichtige, - mir sehr sympathische - Erzählweise dieses Romans macht mitunter schwer zu unterscheiden, was Teil der erlebten Wirklichkeit und was Teil des in Waiblingers Kopf wuchernden, energiestrotzenden Romans.

Wie ich es immer bei besonders gelungenen Romanen mache, kommt verstärkt das Buch selbst zu Wort.

Waiblinger sagt:

"Ja, ich bin überreizt, ich verwechsle Glück mit Unglück, liebe leidenschaftlicher als andere, renne gegen Wände, und manchmal, nachts, bin ich das Geschöpf meiner Alpträume, ein orientalischer Fürst und eine blutgierige Bestie zugleich."

"Schreiben und Leben zusammenführen, so zu verquicken, dass mein Werk und ich eines werden, das Leben die Dichtung und die Dichtung das Leben."

Die Familie Michaelis weist ihn zurück, sieht sich selbst an den Rand gedrängt, kann das ungestüme Wesen des Dichters nicht ertragen.

"Er ist in unser Leben eingebrochen, eigensüchtig, nur darauf aus, sich zu erkunden und uns zu gebrauchen, gewiss begabt, doch eingesperrt in seinem Wahn, mit ein paar Versen das Leben zu steigern"

Julie sagt zu Waiblinger:

"Du gehörst zum niemandem, Wilhelm, du bist entsetzlich frei und vielleicht deshalb auch verloren."

"Was du liebst, zerstörst du auch."

Jedes zweite Kapitel aus der Sicht von Julies jüngerer Schwester Lily geschrieben. Das frühreife Kind erkennt als einzige die ganze Weite von Waiblingers Wesen, sie sieht sich als die wahre Geliebte des Dichters. Sie liebt und versteht Waiblinger und weiß, sie würde mit ihm die Flucht aus der Enge ergreifen - nicht wie die ängstliche, verzagte Julie. Aber auch diese kann nicht verhindern, dass die Berührung mit Waiblinger in einer vielfachen Katastrophe endet.
 





Freitag, 25. März 2016

Horacio Quiroga: Cuentos de la Selva

Ein Klassiker der lateinamerikanischen Geschichten- und Fabel-Literatur, der einerseits hervorragend in die mündliche Tradition der Cuentacuentos, der Geschichtenerzähler, passt und andererseits bereits im Jahr 1918 die Entwicklung des magischen Realismus in der Literatur vorbereitet.

Ich liebe alle Arten von Märchen und Geschichten, besonders, wenn sie doppelbödig und humorvoll sind und das Erzählen zur Verfühungskunst machen. Quiroga  ersinnt herrliche Figuren. Man sieht den Märchenonkel förmlich vor sich, wie er Gesten vollführt, Dschungeltiere nachmacht und den die Kinder im Halbkreis mit offenen Mündern anstarren, wenn er eine epische Schlacht zwischen den Rochen und den Tigern zum Leben erweckt.

Der Uruguayer Quiroga, der seine Urwaldgeschichten in Buenos Aires verfasste, lässt die Tiere sprechen. Menschen kommen zwar vor - aber nur als Störenfriede im ausbalancierten Dschungel-Ökosystem. Quirogas kauzige, schrullige, listige, egoistische aber niemals böse Dschungel-Urviecher sind aber eigentlich Menschen. Da ist ein alter Brillenkaiman, der so weise ist, dass er nur noch zwei Zähne im Mund hat und immer Rat weiß - auch wenn sich der am Ende als nicht besonders hilfreich erweist. Oder der Papagei Pedrito, der den verschlagenen Tiger offenherzig zum Tee einlädt und dafür teuer bezahlen muss.

Ein witziges Buch zum Lesen, Vorlesen und Erzählen - nicht nur für Kinder.

Montag, 22. Februar 2016

Martin Suter: Montecristo

Der Videojournalist Jonas Brand hält sich mit Aufträgen für TV-Boulevardmagazine über Wasser, träumt aber vom ganz großen Kinoprojekt: Montecristo soll es heißen und die moderne Geschichte eines Mannes erzählen, der sich an allen rächt, die ihm das Leben zur Hölle gemacht haben. 

Da passieren Brand zwei seltsame Dinge, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Der Intercity, in dem er sitzt, stoppt, weil ein offenbar ein Selbstmörder aus dem Zug gesprungen ist - Brand hält mit der Kamera, die er zufällig dabei hat, drauf. Kurz darauf entdeckt er in seinem Portemonnaie zwei nachweislich echte Bankboten, die beide eine identische Seriennummer haben. 

Weil Brand neugierig ist und nach den Ursachen dieser Seltsamkeiten fragt, setzt er eine mörderische Maschinierie Gang. Er wird überfallen, ausgeraubt, verhaftet - und der Mann auf den Schienen ist nicht der letzte Tote. Suter hat diesen Krimi von 2015 um die weltweite Bankenkrise herum gestrickt. Quintessenz: wenn eine "systemrelevante" Bank in Schieflage gerät, verbünden sich Politik, Verwaltung, Polizei, Wirtschaft, Medien gegen den Einzelnen der machtlos auf seiner Suche nach der Wahrheit ist  - die Bank beginnt immer, sie ist "too big to fail", Ihr Untergang würde das ganze (kapitalistische) System zum Einsturz bringen.

Wie immer erzählt Suter so spannend, dass man als Leser Seite um Seite fressen möchte. Ungeduld, Neugier, Ärger, Zorn, Rachegefühle - Suter hat s definitiv drauf, im Leser Gefühle zu wecken und dann mit diesem zu spielen.

Was hier leider fehlt, sind die originellen Einfälle. Ich bin das Gefühl nicht losgeworden, dass Suter diese Story vom Ende her konstruiert hat und die entsprechenden Zutaten (und Zufälle) mit diesem Ziel hinzugefügt hat. Da sind die zwei Banknoten in einer Tasche, deren Nummern ihm auch noch auffallen, da fördert die zwielichtige Bank plötzlich sein totgeglaubtes Filmprojekt, da wird ihm in Thailand Heroin untergejubelt, da ist ein Zeuge, der plötzlich vor der Kamera aussagt und das fehlende Puzzleteil liefert und da ist die wenig glaubwürdige Gehirnwäsche am Schluss. 

Unterhaltsam, aber von Suter habe ich schon größere Knaller gelesen.