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Sonntag, 12. Februar 2017

Allard Schröder: Der Hydrograf

1913. Der Meereswissenschaftler Franz von Karsch reist auf dem Viermaster Posen nach Valparaíso. Um an Bord das Verhalten der Wellen, Seegang, Wind, Wogen und Strömungen zu erforschen, wie er seinen Mitreisenden erklärt. In Wahrheit aber, weil er flüchtet: vor einem eintönigen Leben als Privatdozent am Hamburger Ozeanografischen Institut, vor der drohenden Heirat mit seiner reizlosen Verlobten Agnes in der Heimat Pommern, vor der "schwermütigen pommerschen Erde, die auch im Sommer, wenn es heißt und trocken war, ein wenig faulig roch", vor der verstörenden Umklammerung durch seine Mutter, die Gräfin.

Der 32-jährige Karsch ist kein außergewöhnlicher Mensch. Er weiß das, und darum dreht sich dieses Buch. Er hat keinen Ehrgeiz, keinen Antrieb mehr, wenn er ihn denn je hatte. Beim Landgang in Lissabon trifft Karsch mit einem Portugiesen zusammen, der einen seltsamen Zettel hinterlässt:

"Ich bin nichts. Nie werde ich etwas sein. Ich kann nichts sein wollen. Aber davon abgesehen trage ich alle Träume der Welt in mir."

Karsch denkt sich: "Der erste Teil traf vielleicht auf ihn selbst zu, der zweite nicht, und das machte ihm zu schaffen."

Passagiere auf der Posen sind auch der hemdsärmelige Salpeterhändler Moser, der von einem neuen Zeitalter, in dem die gewöhnlichen Menschen die Macht übernehmen, träumt, und der humanistisch gebildete, nihilistisch philosophierende Gymnasiallehrer Todtleben. Beim beim Landgang in Rio de Janeiro wird Todtleben unter mysteriösen Umständen verhaftet. Wie sich herausstellen soll, wird er in Deutschland gesucht, wo er eine jungen Mann sexuell hörig gemacht und in den Tod getrieben haben soll-

"Moser hatte eine glühende Zukunftsvision, in der er uns seinesgleichen das Sagen haben würden, Todtleben suchte den Tod und dadurch umso mehr das Leben, Karsch suchte gar nichts."

In Lissabon kommt Asta Maris, die geheimnisvolle Schöne, mit einem riesigen Koffer, auf den ein großes M gemalt ist, an Bord. Ist sie Pianistin, Schauspielerin, Falschspielerin? Karsch kommt ihr näher - zu nahe. Es geht ihm auf: Nur hier, an Bord der Posen, kann er mit dieser ewig Reisenden und ihren dunklen Geheimnissen zusammen sein.

Ist sie das Meer?

Es gibt nichts zu hoffen, nichts zu träumen. Mehr und mehr reift in Karsch ein großes, schwarzes Nein heran.  Er will nicht länger begreifen, nicht daran verzweifeln, nichts zu suchen, Er umarmt den Tod. Die Reise hat ihn auch körperlich gezeichnet, er hat keine Vergangenheit, keine Zukunft mehr. Die Stadt Valparaíso wird in dem Roman nicht einmal gestreift. Karsch hat aufgegeben. "Reizt Sie das Meer nicht mehr?", fragt ihn Moser. 

Karsch kehrt heim, tritt ins Heer ein - den Militärdienst hatte ihm zuerst ein sogenannter Einsteher, ein Bauernbursche aus dem Dorf abgenommen - kämpft im Ersten Weltkrieg, sucht den Tod - und findet ihn später schließlich.

Der Kosmos Schiffsreise ist hier ebenso wie in Ondaatjes "Katzentisch" wunderbar elegant, leicht und verstörend zugleich eingefangen. Dieses 2002 im niederländischen Original erschienene und nun übersetzte Buch verzichtet fast komplett auf Städte- oder Landschaftsbeschreibungen, auch auf Beschreibungen des Meeres und porträtiert es doch auf faszinierende Weise:

"Es war keine Fläche mit Horizont und rauschenden Wogen - nein, das Meer war wie die Sonne, die an der Oberfläche zu kochen schien, als sei sie ein einziger großer Ozean, und die im Innern heiß und weiß war, so wie in den Tiefen des Meeres Kälte und Finsternis herrschte. Sonne und Meer waren tote Materie, die lebte. - ' Es ist nicht mein Meer', sagte Karsch, während er die Gardine vor das Bullauge schob."

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