Ein kauziger Eigenbrötler ist der Ich-Erzähler in Pierre Kretz‘ Elsass-Roman „Der Seelenhüter“. Frau und Sohn haben ihn nach einem Suff-Unfall verlassen, zur Außenwelt pflegt er außer Besuchen beim Psychotherapeuten keinen Kontakt. Eingeigelt in seinem heruntergekommenen Elternhaus im Nest Heimsdorf lebt er im Keller – dort, wo im Elsass guter Wein reifen kann, wenn man ihm Zeit und Ruhe lässt.
Ruhe aber hat dieser Einsiedler keine, weil ihn die Geister der Vergangenheit bestürmen: Der Vater im Weltkrieg in Russland gefallen, die Mutter in Bombennächten irrsinnig geworden. Verwandte, Nachbarn und Vorfahren, die in Kriegen verheizt, von wechselnden Machthabern umerzogen und schikaniert wurden. Überzeugt von der „historischen Dimension jedes Menschen“ lebt der Eremit nur mehr in der Vergangenheit und betreibt „Forschungen“.
Heimsdorf und seine Gespenster hindern ihn daran, die Sonne zu sehen und nehmen in seinem Kopf überhand. In seinem feuchten Kellerloch hat er an der Wäscheleine Fotos gefallener Elsässer Soldaten aufgehängt. Mal in französischer, mal in deutscher Uniform, waren sie stets auf der Seite der Verlierer. Der Erzähler sieht sich zum Hüter dieser toten Seelen auserkoren, sie sprechen zu ihm, erzählen ihm Geschichten, nehmen ihn in Beschlag und geben ihn nicht frei.
Wir Deutsche kommen in dieser anekdotischen Zeitreise durch die Vergangenheit des Elsass nicht gut weg. Doch was heißt schon wir? Jede Generation in Heimsdorf erlebt die Nachbarn von der anderen Rheinseite komplett anders. „Sen die namliga nem“, hat der Großvater des Erzählers einst gesagt, als die Nazi-Truppen durchs Dorf marschierten: Es sind nicht mehr die Nämlichen, nicht mehr dieselben, mit denen er im Ersten Weltkrieg gekämpft hat.
Auf nichts ist Verlass, nichts ist gerecht, nichts hat Bestand – das raubt dem Seelenhüter den Verstand. Auch wenn er am Schluss als Karikatur dasteht: In seiner Verstörung ist er ein Spiegel für das malträtierte und gar nicht idyllisch-gemütliche Elsass. Ein überzeugend und humorvoll erzähltes Stück Zeitgeschichte.
Pierre Kretz: Der Seelenhüter. Roman. 208 Seiten. Verlag Klöpfer & Meyer. 18,90 Euro.
Erschienen in Schwäbische Zeitung, 11. 7. 2012
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